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1. Einführung
1.1 Wer bin ich?
Mein Personalausweis gibt Auskunft über mich. Er zeigt ein mehr oder weniger gelungenes Bild. Er nennt meinen Namen, mein Geburtsdatum, Geburts- und Wohnort, Nationalität, Körpergröße und Augenfarbe und enthält ein paar wichtige Daten zu meiner Identifizierung. Bin ich das?
Natürlich, aber ich bin noch viel mehr: Zu mir gehören zum Beispiel meine Familie und meine Freunde, mein Beruf und meine Hobbys, meine Eigenschaften, Fähigkeiten und Begabungen ebenso wie meine Grenzen, mein Glaube und meine Lebensgeschichte.
Rückblickend auf mein bisheriges Leben kann ich fragen: Wie bin ich zu der Frau geworden, die ich heute bin? Wer oder was hat mich geprägt, bewusst oder unbewusst, zum Guten oder zum Schlechten?
Im Blick auf meine gegenwärtige Situation lauten einige Fragen vielleicht: In welchen Beziehungen stehe ich? Wie beschreibe ich die Beziehung zu mir selbst, zum Lebenspartner, zu Freunden, zu Menschen meiner näheren und weiteren Umgebung? Was ist mein Beruf und welche Rolle spiele ich dabei? Welche Haltungen habe ich in gesellschaftlichen und politischen Fragen, wo engagiere ich mich und warum (oder auch nicht)? Und was bedeutet mein Glaube für die Gestaltung meines Lebens?
Bezogen auf die Zeit, die vor mir liegt, stellen sich wieder andere Fragen: Was will ich (noch) erreichen, wie werde ich mein Leben gestalten, was kommt mit/nach meinem Ende? Und im Blick auf mein Leben insgesamt frage ich möglicherweise: Warum bin ich überhaupt auf der Welt? Was ist der Sinn meines Lebens? Wer bin ich? und: Wer kann mir diese Frage beantworten?
Diese Überlegungen über mich selbst, meine Person und mein Leben sind ein persönlicher Zugang zur Anthropologie, und wahrscheinlich ein wichtiges Motiv für alle weiteren Fragen.
Schon hier wird erkennbar: Die Frage eines Menschen nach sich selbst ist vielschichtig – äußerliche Merkmale, körperliche Gestalt, innere Einstellungen, Werte und Normen, Religion, Beziehungen, Lebensgeschichte und auch die Herkunft – all das und noch mehr machen (m)eine Person aus.
Lautet die Frage aber »Was ist der Mensch?«, gibt der Blick auf eine konkrete Person allein noch keine ausreichende Antwort.
1.2 Es kommt auf die Perspektive an
Menschen fragen nach sich selbst und finden dabei unterschiedliche, teilweise auch widersprüchliche Antworten. Sie hängen von dem Interesse und der Blickrichtung der Fragenden ab und werden von den gewählten methodischen Zugängen geprägt. Das 2009 erschienene »Handbuch Anthropologie«4 beschreibt 23 (!) verschiedene Ansätze aus unterschiedlichen Wissenschaftsrichtungen, die alle etwas über den Menschen herausgefunden haben. Es sind z. B. natur-, rechts-, geistes-, kultur-, und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse oder philosophische, pädagogische und theologische Einsichten. Forschungsrichtungen wie die Evolutionspsychologie oder Soziobiologie zeigen, dass gegenwärtig zunehmend versucht wird, interdisziplinär zusammen zu arbeiten. Die Ergebnisse der Kulturanthropologie und der historischen Anthropologie verweisen über die Vielfalt und Wandelbarkeit anthropologischer Phänomene hinaus auf die Geschichtlichkeit, Kulturabhängigkeit und damit auch die Relativität aller Theorien über den Menschen. Das Nachdenken über den Menschen ist, wie der Mensch selbst, geschichtlich und kulturell bedingt. Der Philosoph Hans Lenk beschreibt darum den Menschen als »das flexible Vielfachwesen.«5 Richard Precht macht mit dem Titel seiner Einführung in die Philosophie auf die Verwirrung aufmerksam, die mit der Vielfalt verbunden sein kann: »Wer bin ich und wenn ja, wie viele?«6
Aus der Vielfalt der Antwortversuche lässt sich folgern, dass es die Antwort auf die Frage nach dem Menschen bisher offensichtlich nicht gibt, wohl auch in Zukunft nicht geben wird und vielleicht auch nicht geben kann. Soll man also auf die Frage ganz verzichten? Diese Möglichkeit liegt nahe, sie lässt sich aber nicht verwirklichen. Seit es Menschen gibt, taucht die Frage immer wieder auf, sie gehört offensichtlich zum Menschen und zum Menschsein dazu. Es ist ein Wesenszug des Menschen, nach sich selbst zu fragen. Jürgen Moltmann behauptet sogar: Der Mensch muss sich kennen, um zu leben und sich für andere erkennbar zu machen. Er muss sich zugleich verborgen bleiben, um am Leben und in Freiheit zu bleiben. »Könnte er feststellen, was mit ihm los ist, wäre gar nichts mehr mit ihm los, alles wäre festgestellt und gebunden, und er wäre am Ende. Das ›aufgelöste Rätsel‹ des Menschen wäre dann zugleich die endgültige Erledigung des Menschseins.«7
Das Dilemma beim Versuch, das Rätsel Mensch zu lösen, lässt sich besser verstehen, wenn man sich vor Augen führt, dass der/die Fragende und der »Gegenstand« der Frage identisch sind. Wer nach dem Menschen fragt, fragt ja immer auch nach sich selbst, wird sich selbst zur Frage und zum Forschungsgegenstand, er ist also Subjekt und Objekt des Fragens zugleich. Als Subjekt erforsche ich den Menschen, also auch mich selbst. Und was über den Menschen herausgefunden wird, ist immer auch eine Aussage über mich als die Fragende. Damit ist klar, dass es kein distanziertes Nachdenken und Forschen über den Menschen geben kann. Den dafür nötigen Abstand zwischen dem Forscher und seinem Forschungsgegenstand kann es in Bezug auf den Menschen nur eingeschränkt geben. Weil das so ist, kann es die eine richtige endgültige Antwort nicht geben. Das ist wichtig, denn Antworten klären, sie legen aber auch fest und engen ein. Jeder Versuch, normativ und dogmatisch zu definieren, was oder wer der Mensch ist, führt zu Festlegungen und damit Ausgrenzungen und Aussonderungen. Die Offenheit und das »Geheimnis Mensch« gilt es zu wahren um des Menschen willen.
Mit der Vielfalt und der Bedingtheit der Aussagen über den Menschen ist es ein wenig wie bei der bekannten Fabel von den Blinden und dem Elefanten – je nach Standort entdecken die Einzelnen mit tastenden Versuchen Unterschiedliches. Wenn dabei eine Sichtweise verabsolutiert wird, kann selbst eine an sich richtige Aussage falsch werden. Jeder Ansatz, den Menschen zu verstehen, hat also zugleich eine eigene Berechtigung und eigene Grenzen. Keiner darf absolut gesetzt werden, Austausch und Dialog ist gefordert. Die je spezifische Perspektive kann und muss so durch die Hinsichten der anderen Zugänge ergänzt werden.
Erforscht man den Menschen z. B. mit naturwissenschaftlichen Methoden, wird man alles das über ihn herausfinden, was mit diesen Methoden empirisch messbar und nachprüfbar ist, nicht mehr und nicht weniger. Neue Möglichkeiten der Forschung ergeben auch neue Erkenntnisse – und werfen neue Fragen auf. Das zeigt gegenwärtig insbesondere die Neurobiologie.
Sozialwissenschaftlich geprägte Untersuchungen ermöglichen mit ihren spezifischen Forschungsmethoden Einsichten über die gesellschaftlichen und kulturellen Prägungen von Menschen in ihrem jeweiligen Lebensumfeld.
Die philosophische Perspektive dagegen stellt die Frage nach dem Wesen des Menschen. Dabei helfen Erfahrungen, lange Traditionen des Nachdenkens und die Voraussetzung, dass ihre Aussagen rational formuliert und begründet werden müssen. Sollen sie auf allgemeines Einverständnis stoßen, müssen sie für alle nachvollziehbar sein.
In diesem vielstimmigen, vielseitigen und vielschichtigen Zusammenhang steht auch das theologische Nachdenken über den Menschen, das im Mittelpunkt dieses Buches steht. Was ist das Besondere daran, was unterscheidet diese Perspektive von anderen Zugängen und in welchen Beziehungen stehen sie zueinander?
1.3 Gott und Mensch
Theo-logisch – in diesem Wort steckt ein wichtiger Hinweis auf die Perspektive: Theologie ist nachdenkende Rede über Gott. Sie gewinnt dabei auch Erkenntnisse über den Menschen. Theologie geht davon aus, dass alle Rede vom Menschen ohne die Beziehung zu Gott unvollständig ist. Umgekehrt ist auch von Gott nur aus der Perspektive des Menschen zu reden. Insbesondere christliche Theologie setzt diese gegenseitige Verbindung voraus. Wolfgang Schoberth sieht darin einen »Grundzug theologisch sachgemäßer Rede vom Menschen: Sie definiert den Menschen nicht anhand bestimmter und bestimmbarer Eigenschaften, sondern dadurch, dass Gott ihn von Anbeginn der Schöpfung als Partner erwählt hat, wie dies in der Erwählung Israels und in dem Menschen Jesus Christus offenbar wird.«8 Theologische Anthropologie sucht also nicht nach einer formalen Definition des Menschen. Sie geht aus von der Beziehung des Menschen zu Gott und den Mitgeschöpfen und fragt nach seinem Platz in Gottes Werk. Gott als Schöpfer gibt dem Menschen das Leben und sichert ihm seine Zuwendung zu: Der Mensch ist von Gott gerufen und beauftragt. Diese elementare Prämisse theologischer Anthropologie beschreibt damit eine spezifische Blickrichtung auf den Menschen, die besondere Einsichten ermöglicht. Darauf will der Titel dieses Buches aufmerksam machen: »Gott und der Mensch.«
Gegenwärtig setzt sich gegenüber einem religiös begründeten Verständnis von Mensch und Welt mehr und mehr eine Sichtweise durch, die die Welt und den Menschen auf der Grundlage empirischer Forschung und ihrer Ergebnisse zu erklären versucht. Der christliche Glaube erscheint demgegenüber als unvernünftig, manchen sogar als wissenschaftsfeindlich. Eine theologische Anthropologie muss sich mit dieser Einschätzung auseinandersetzen und darauf reagieren. Dafür gibt es in der aktuellen Theologie unterschiedliche Ansätze. Die Herausforderung wird erkannt, die theologischen Einsichten in Auseinandersetzung mit und Positionierung gegenüber philosophischen, naturwissenschaftlichen und anderen Beschreibungen des Menschen und ihren Ansprüchen darzulegen. Dabei setzen die einzelnen Autoren unterschiedliche Akzente. Für alle gilt aber die oben dargelegte Voraussetzung: Theologisches Reden vom und über den Menschen geht von Gott aus und handelt von seinem Wirken in der Welt. Weil Gottes Handeln sich aber auf den Menschen richtet und auf ihn ausgerichtet ist, ist jede Rede von Gott immer auch zugleich Rede vom Menschen.
1.4 Zugänge
Wolfhard Pannenberg hat im Jahr 1983 eine »Anthropologie in theologischer Perspektive« als »fundamentaltheologische Anthropologie« vorgelegt.9 Sein Anliegen ist es, die Wahrheit des christlichen Glaubens aufzuweisen, und zwar unter den Verstehensvoraussetzungen der Gegenwart. Er will die Diskrepanz zwischen theologischer und allgemeiner Anthropologie verringern und die Unterschiedlichkeit der Perspektiven überbrücken. Der traditionellen dogmatischen Anthropologie wirft er vor, dass sie »die Wirklichkeit Gottes schon voraussetzt.« Damit verschenke sie die »Möglichkeit, auf der Ebene der anthropologischen Befunde mitzudiskutieren, auf der göttliche Wirklichkeit bestenfalls als problematischer Bezugspunkt menschlichen Verhalten, nicht aber apodiktisch als dogmatische Behauptung eingeführt werden kann.«10 Pannenberg schließt dagegen ausdrücklich und absichtlich an anthropologische Überlegungen in der Philosophie an und »wendet sich den Phänomenen des Menschseins zu, wie sie von der Humanbiologie, der Psychologie, Kulturanthropologie oder Soziologie untersucht werden, um die Aufstellungen dieser Disziplinen auf ihre religiösen und theologisch relevanten Implikationen zu befragen.«11 In den zeitgenössischen anthropologischen Entwürfen der Sozialwissenschaften, der Biologie und Philosophie entdeckt er Anknüpfungspunkte für die theologische Frage nach Gott und Mensch. Er will z. B. zeigen, dass der Gedanke der Weltoffenheit letztlich auf eine Gottoffenheit hinaus läuft. Seine These ist: »Die Frage des Menschen nach sich selber und die Frage nach der göttlichen Wirklichkeit gehören zusammen.«12 Mit diesem Ansatz will er die christliche Wahrheit diskursfähig machen und nachweisen, dass allgemeine anthropologische Fragestellungen und Erkenntnisse zwangsläufig auf eine religiöse Thematik und die Frage nach Gott hinauslaufen. Die Aussagen christlicher Anthropologie, beispielsweise die Gedanken der Gottebenbildlichkeit und Sünde, sollen so für den Wissenschaftsdiskurs anschlussfähig werden. Er verfolgt damit ein hermeneutisches Interesse, das schon biblischen Texten zugrunde liegt: Die Botschaft des Glaubens so auszusagen, dass sie in der konkreten Situation gehört und verstanden werden kann.
In der evangelischen Theologie ist Pannenbergs Ansatz eher solitär geblieben. Ihm wird vor allem vorgehalten, dass er den Anspruch, die wissenschaftliche Anthropologie in ihrer Vielfalt und Vielschichtigkeit in das theologische Nachdenken einzubinden, nicht einlösen konnte. Darüber hinaus ist zu fragen, ob auf diese Weise die Eigenart theologischer Anthropologie angemessen zur Sprache kommen und über einen allgemeinen Gottesbezug des Menschen hinausgelangen kann. Pannenbergs Ansatz »steht für einen Typus von Anthropologie, der sie vor allem zur Verteidigung und Erläuterung der Rede von Gott überhaupt einsetzt, also in apologetischer Funktion.«13 Die Konkretheit biblischer Rede von Gott kann Pannenberg mit seiner Anthropologie nicht erreichen, da er notgedrungen von seinem Ansatz her abstrakt und allgemein über Gott und Mensch reden muss.
Die Anthropologie Karl Rahners ist dem Ansatz Pannenbergs in dem Sinne vergleichbar, dass auch bei ihm ein apologetisches Interesse zu bemerken ist. Mit seiner Forderung, dass »die dogmatische Theologie heute theologische Anthropologie sein muss,«14 hat Rahner in der katholischen Theologie die Wende zur Anthropologie eingeläutet. Sein »Grundkurs des Glaubens« stellt den Menschen als »Hörer der Botschaft« und »vor dem absoluten Geheimnis« (Gott) stehend dar. Der Mensch wird weiter als »Wesen der radikalen Schuldbedrohtheit« und als »das Ereignis der freien, vergebenden Selbstmitteilung Gottes«15 beschrieben. Ähnlich wie Pannenberg geht Rahner mit der allgemeinen Anthropologie von der Erkenntnis aus, dass der Mensch über sich selbst hinaus fragt, fragen muss und damit zwangsläufig an die Gott...