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Grundlagen
Das Kapitel gibt einen Überblick über die unterschiedlichen Arten und Grade von Hörschäden und deren jeweilige Auswirkungen (insbesondere auf die Sprach-, aber auch Persönlichkeitsentwicklung betroffener Kinder und Jugendlicher). Zusätzlich wird über die besonderen Entwicklungsbedingungen von hörgeschädigten Schülern ausländischer Herkunft und von hörgeschädigten Schülern mit weiteren Behinderungen informiert.
Zum allgemeinen Verständnis werden die von Schülern mit Hörschädigung benutzten Kommunikationsmittel vorgestellt.
Nach der Darstellung der unterschiedlichen Organisationsformen der Bildung, Erziehung und Rehabilitation hörgeschädigter Kinder und Jugendlicher – von Geburt an bis hin zur schulischen Förderung – wird die Vielfalt aktueller Modelle inklusiver schulischer Förderung beschrieben.
Das abschließende Teilkapitel verweist auf die sich verändernde Rolle der Hörgeschädigtenpädagogen im Zeichen der Inklusion und erörtert die vielfältigen (Kooperations-)Angebote dieser an die allgemeinen Schulen.
1.1 Zielgruppe
Annette Leonhardt
Beschreibung des Schülerkreises
Schüler mit Hörschädigung bilden eine äußerst heterogene Gruppe. Der Begriff »Hörschädigung« ist der Oberbegriff für alle Arten und Ausprägungsgrade (leicht-, mittel- bis hochgradig oder der vollständige Verlust des Gehörs) einer Höreinschränkung. Im Schulalter sind etwa zwei von 1.000 Kindern betroffen (Probst 2008, 181) (bei Geburt nur eins von 1.000). Das heißt, die Zahl der bleibend hörgeschädigten Kinder verdoppelt sich, zumeist in Folge einer Erkrankung (z. B. einer Mittelohrentzündung sowie deren gehäuftes Auftreten oder einer Meningitis). Neben den peripheren Hörschäden gibt es zentrale Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen (des Gehörten); man spricht dann von zentralen Hörstörungen. Die Zahl der davon betroffenen Schüler ist in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen. Die Ursachen dafür sind noch ungeklärt.
Es wird zunächst zwischen Menschen mit Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit (und Ertaubung) unterschieden. Insbesondere die Gruppe der Schwerhörigen ist äußerst schwierig zu beschreiben. Schwerhörigkeit reicht von »fast normalhörend« (also geringer Höreinbuße) bis zum Übergang zur Gehörlosigkeit. Die Grenze von hochgradiger Schwerhörigkeit zur Gehörlosigkeit ist fließend. Zunehmend sieht man die mit Cochlea Implantat (CI) versorgten Personen als eigenständige Gruppe, obwohl sie – ohne Cochlea Implantat – gehörlos, ertaubt oder hochgradig hörgeschädigt sind. Spätestens seit Einführung des Neugeborenenhörscreenings zum 01.01.2009 und der damit möglich gewordenen frühzeitigen Versorgung mit CI (vor dem 1. Lebensjahr) sowie der inzwischen standardmäßigen beidseitigen Versorgung erscheint das sinnvoll, da sich diese Kinder völlig anders entwickeln als bis zu diesem Zeitpunkt möglich. Dieser frühen CI-Versorgung geht zumeist eine Hörgeräteversorgung (etwa im 3. bis 4. Lebensmonat) voraus, wodurch erste Höreindrücke möglich werden.
Die pädagogische Förderung hörgeschädigter Kinder beginnt unmittelbar nach der medizinisch-audiologischen Diagnose. Diese wird eingeleitet, wenn das Kind beim Neugeborenenhörscreening »hörauffällig« war. Neben der Anpassung von Hörhilfen setzt eine Frühförderung ein, die die Familie berät und die hörgeschädigten Kinder in ihrer sprachlichen, kommunikativen und psychosozialen Entwicklung begleitet und unterstützt. Kindern mit Hörschädigung stehen alle Bildungsabschlüsse (bis hin zur allgemeinen Hochschulreife) offen, die im Rahmen allgemeiner Schulen (inklusiv) oder in Förderzentren mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation – die Bezeichnung ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich – erreicht werden können. Dabei ist im Schulalltag zu beobachten, dass Schüler mit Hörschädigung während ihrer Schullaufbahn wiederholt zwischen den beiden Beschulungsformen wechseln, um das für ihre aktuelle Schulsituation passende Lern- und Sozialsetting zur Verfügung zu haben.
Allen Schwerhörigen ist gemeinsam, dass sie gesprochene Sprache mit Hilfe von technischen Hörhilfen aufnehmen und ihr eigenes Sprechen – wenn auch mitunter nur eingeschränkt – über die auditive Rückkopplung, also über das Ohr, kontrollieren können. Für die Auswirkungen einer Schwerhörigkeit auf den Entwicklungsverlauf eines (schwerhörigen) Kindes spielen zahlreiche Faktoren eine Rolle, so dass die psychosoziale Situation (
Kap. 2.7) und die Erscheinungsbilder erheblich voneinander abweichen können. Schwerhörige kommunizieren in der Regel lautsprachlich. Eine Schwerhörigkeit kann angeboren oder erworben sein. Im schulischen Kontext spielen vor allem die angeborene und die frühzeitig erworbene Schwerhörigkeit eine Rolle. Schwerhörigkeiten können progredient verlaufen, d. h., dass der Umfang des Hörverlustes zunehmen kann. Kindliche Schwerhörigkeiten sind von im Erwachsenenalter eingetretenen Schwerhörigkeiten dahingehend abzugrenzen, dass Erwachsene bei Eintritt der Schwerhörigkeit im Vollbesitz der Sprache (einschließlich der Schriftsprache) sind. Ein Kind braucht hingegen ein funktionsfähiges Gehör, um Sprache (z. B. Lexikon und Grammatik) und Sprechen überhaupt erst zu erlernen. Tritt eine Schwerhörigkeit erst im Schulalter ein, kann der Schüler auf seine bisher erworbenen Kompetenzen in der gesprochenen und geschriebenen Sprache zurückgreifen und wirkt daher zunächst oft unauffällig. Er steht jedoch einer ihm völlig neuen Situation gegenüber, an die er sich erst gewöhnen und für die er Strategien entwickeln muss, mit der Höreinschränkung umzugehen. Er muss sich an das Tragen von Hörgeräten gewöhnen und das ergänzende Absehen erst erlernen, was sich von Geburt an Hörgeschädigte parallel zur Sprachentwicklung aneignen.
Gehörlosigkeit ist keine gesonderte Hörstörung, sondern letztendlich eine extreme (vom Ausmaß sehr umfassende) Schwerhörigkeit. Eine absolute Taubheit, bei der keinerlei Hörreste mehr vorhanden sind, ist sehr selten und kommt bestenfalls bei 2% der als »gehörlos« geltenden Menschen vor (Pöhle 1994, 12). Die Hörreste sind jedoch so gering, dass Lautsprache nicht auf natürlichem (imitativem) Weg erworben werden kann. Der Hörverlust ist vor oder während des Spracherwerbs eingetreten. Die Menschen mit Gehörlosigkeit kommunizieren meist in Gebärdensprache. Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ist für diesen Personenkreis eine frühzeitige und beidseitige (beidseitig wird für Kinder seit etwa 2003 bis 2005 in Abhängigkeit von der jeweiligen Krankenkasse bezahlt, davor nur einseitig) Cochlea Implantat-Versorgung möglich und gängig geworden, die ihnen ein über das Hören vollzogenen Spracherwerb ermöglicht. Diesen frühzeitig und beidseitig mit CI versorgten Kindern eröffnet sich ein an der Norm angenäherter Spracherwerb, wobei sie hörgeschädigt bleiben und nach einer CI-Versorgung eine lebenslange Nachsorge erforderlich ist. Ob ein gehörloses Kind das CI erhält oder nicht, entscheiden (nach Beratung) die Eltern. Zu beachten ist, dass das CI ein Hören ermöglicht, die Person dennoch aber nicht normalhörend ist. Von den gehörlosen Kindern haben 90 (Schein 1987, 12f.; Krüger 1991, 29) bis 95% (Hintermair et al. 2014, 71) gut hörende Eltern. Diese entschließen sich heute nahezu zu 100% zu einer CI-Versorgung ihres (gehörlosen bzw. hochgradig hörgeschädigten) Kindes. Die anderen 5 bis 10% haben gehörlose bzw. hörgeschädigte Eltern. Von ihnen wählen derzeit schätzungsweise 40% ebenfalls ein Cochlea Implantat. Bei gehörlosen Eltern besteht nicht wie bei gut hörenden das Kommunikationsproblem. Sie können (im Vergleich zu gut hörenden Eltern) mittels Gebärdensprache von Anfang an mit ihrem Kind kommunizieren, da sie ihnen zur Verfügung steht.
Kommt es zu einem so umfassenden Hörschaden erst nach dem Spracherwerb (als untere Altersgrenze wird hier etwa das 3./4. Lebensjahr angegeben), spricht man von Ertaubung. Nach dem Hörstatus sind diese Personen gehörlos. Sie unterscheiden sich aber gravierend von der Gruppe der Gehörlosen, da sie auf normalem Weg, also imitativ, die Sprache erlernt haben. Sie können auf die (in mündlicher und schriftlicher Modalität) erlernte Sprache weiter zurückgreifen, es fehlt ihnen allerdings der akustische Zutritt. Eine Ertaubung stellt eine enorme psychische Belastung dar und hat besonders in psychosozialer Hinsicht erhebliche Auswirkungen. Die Gruppe der Ertaubten profitiert heute in hohem Maß von einer Cochlea Implantat-Versorgung, da ihnen damit – wenn auch unter veränderten Bedingungen – ein Hören (wieder) möglich ist und sie auf die bis zur Ertaubung gemachten (Hör-)Erfahrungen zurückgreifen und nutzen können.
Cochlea Implantat-Träger (oder kurz CI-Träger) sind Personen, die bis zur CI-Versorgung gehörlos oder hochgradig schwerhörig waren, ihr Gehör verloren haben (nach Ertaubung) oder eine progredient verlaufende Schwerhörigkeit hatten, die irgendwann ein solches Ausmaß annahm, dass eine Verständigung über das Gehör nicht mehr möglich war. Die letztgenannte Gruppe kommt eigentlich nur im Erwachsenenalter vor. Cochlea Implantationen sind seit Beginn der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts möglich. Nachdem anfänglich nur Erwachsene versorgt wurden, kam es Ende der 80er Jahre erstmalig zur Versorgung eines anderthalbjährigen, von Geburt an gehörlosen Mädchens und weiterer nach Meningitis ertaubter Kinder (Lehnhardt 1997, 27f.). Im Verlauf der 90er Jahre verbreitete sich die CI-Versorgung bei Kindern mit angeborener Gehörlosigkeit und hochgradiger Schwerhörigkeit. Das technische Produkt »Cochlea Implantat« wurde und wird ständig weiterentwickelt, ebenso die Operationsmethoden und die mit einer CI-Versorgung notwendige Rehabilitation durch ein interdisziplinär zusammengesetztes Team.
Eine weitere Gruppe bilden Schüler mit angeborenen Missbildungen des Außenohres, wie z. B. bei Gehörgangsatresie (angeborener Verschluss des äußeren Gehörgangs) auch mitunter vergesellschaftet mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte, oder Fehlbildungen der Ohrmuschel. Da der Schall dadurch nicht ungehindert zum Mittelohr geleitet wird, kommt es zu Höreinbußen, die insbesondere bei bilateraler Ausprägung zu Störungen der Sprachentwicklung führen können. Hörhilfentechnisch sind die Kinder oft mit Knochenleitungshörgerät versorgt.
Arten von Hörschäden
Es sind zu unterscheiden:
a) Schallleitungsschwerhörigkeit
b) Schallempfindungsschwerhörigkeit
c) eine aus diesen beiden Formen bestehende kombinierte Schwerhörigkeit (auch kombinierte Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit)
d) Gehörlosigkeit
e) Ertaubung
f) einseitige Hörschädigungen
g) Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS).
Die unter a) bis f) aufgeführten Arten zählen zu den peripheren Hörschäden. Die AVWS ist eine zentrale Störung (»Gehörtes« kann nicht adäquat wahrgenommen und verarbeitet werden).
Eine Schallleitungsschwerhörigkeit (a) ist durch leiseres Hören gekennzeichnet. Der Höreindruck ist also quantitativ beeinträchtigt. Da die Ursache im schallleitenden Teil des Ohres, also dem Mittelohr, liegt, spricht man auch von Mittelohrschwerhörigkeit. Sie kann leicht- bis mittelgradig vorkommen. Die geringere Intensität der Höreindrücke führt dazu, dass unbetonte Redeanteile (Endsilben, Partikel usw.) unzureichend verstanden werden, mit der Folge, dass sie so, wie sie gehört, auch beim eigenen Sprechen verwendet werden. Die Konstanz der Wahrnehmung akustischer Zeichen bleibt erhalten, da keine Klangveränderungen vorliegen. Durch Verringerung der Distanz zwischen Sprecher und Hörer oder durch elektroakustische Verstärkung ist ein »technischer« Ausgleich möglich. Im Unterrichtsalltag bedeutet eine Schallleitungsschwerhörigkeit jedoch auch bei technischer Versorgung (Hörgeräte) eine Beeinträchtigung. Der Schüler muss mehr Konzentration und Aufmerksamkeit aufbringen, um dem Unterricht zu folgen. Die Artikulation der Schüler mit Schallleitungsschwerhörigkeit ist kaum betroffen. Ihr Sprechen ist unauffällig.
Eine Schallempfindungsschwerhörigkeit (b) bewirkt ein verändertes, verzerrtes Hören. Der Höreindruck erfährt eine quantitative und qualitative Veränderung. Die Störung liegt im Innenohr, daher wird sie auch als Innenohrschwerhörigkeit bezeichnet. Sie kann vom Umfang her leicht-, mittel- oder hochgradig sowie an Taubheit (Gehörlosigkeit) grenzend sein. Das Verstehen von Sprache (und Klängen) wird mehr oder minder stark erschwert; es wird verzerrt wahrgenommen. Das Gehörte ist im Vergleich zum normalen Gehör stark deformiert. Ohne technische Hörhilfen kann es – in Abhängigkeit vom Ausmaß – zum Nichtverstehen von Sprache kommen; bei Verwendung von Hörhilfen bleibt es ein verändertes, unvollständiges und verzerrtes Hören. Insbesondere hohe Töne werden nich...