1 Wohnen und Leben in der Gemeinde
Georg Theunissen
Wie bereits in unserem einleitenden Kapitel skizziert, stand das spĂ€te 19. Jahrhundert im Zeichen vieler Heim- oder AnstaltsgrĂŒndungen. Typisch fĂŒr das Anstaltswesen war ein »Zwei-Klassen-System«, in dem zwischen Anstalten oder Abteilungen fĂŒr bildbare Personen und in Pflegeheime oder Pflegeabteilungen fĂŒr bildungs- und erziehungsunfĂ€hige Menschen unterschieden wurde (vgl. dazu Theunissen 2012).
In der Nachkriegszeit wurde dieses System zunÀchst in beiden Teilen Deutschlands wie aber auch weltweit fortgesetzt. Allerdings waren alsbald in einigen hoch entwickelten Industrienationen (z. B. USA, skandinavische LÀnder) vor allem staatliche Behindertenanstalten ins Kreuzfeuer scharfer Kritik geraten. Das gemeinsame Ziel der Protestbewegungen war es, durch Normalisierung und Deinstitutionalisierung Menschen mit Behinderungen ein Wohnen und Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen.
In Westdeutschland war jedoch die Kritik an der Institutionalisierung verhaltener. Hier spielten kirchliche Anstalten im Versorgungssystem die dominierende Rolle, die sich durch eine christlich geprĂ€gte Philosophie von den staatlichen Institutionen (v.a. psychiatrische LandeskrankenhĂ€user) abzuheben versuchten. Da das Normalisierungsprinzip die Auflösung von Anstalten und Heimen zum Ziel hatte, standen die meisten kirchlichen Einrichtungen und ihre TrĂ€ger den Reformen zunĂ€chst skeptisch bis ablehnend gegenĂŒber. BefĂŒrchtet wurde ein Verlust an Macht und gesellschaftspolitischem Einfluss. Sie waren aber auch der festen Ăberzeugung, dass Behindertenheime oder Anstalten das Richtige seien, galten doch Menschen mit geistiger Behinderung als lebenslang auf Hilfe (Versorgung, Betreuung, Behandlung) angewiesene Defizitwesen. Dass die institutionelle Versorgung kaum in Frage gestellt wurde, zeigt ebenso die Geschichte der Elternvereinigung »Lebenshilfe«. Im Unterschied zu Elternbewegungen im westlichen Ausland (skandinavische LĂ€nder, USA) wurden von Lebenshilfe-Organisationen zumeist nur Wohnheime fĂŒr relativ selbststĂ€ndige Menschen mit Behinderungen als Alternative zu Anstalten favorisiert. Folglich wurde in Deutschland das Normalisierungsprinzip nicht konsequent genug umgesetzt:
1. Es wurde keine Deinstitutionalisierung durch Auflösung von Anstalten oder Heimen in den Blick genommen; stattdessen wurde eine Humanisierung von Lebensbedingungen innerhalb von Einrichtungen bevorzugt (z. B. durch Renovierung, Umbauten, Verkleinerung von Gruppen; normale Möblierung).
2. Es wurden gemeindenahe (Wohn-)Angebote fĂŒr ein Leben »so normal wie möglich« fast ausschlieĂlich nur in Form neuer Wohnheime geschaffen. Wohnheime mit mehreren Gruppen und Zentralversorgung entsprechen aber nicht dem, was gemeinhin unter einem normalen, nĂ€mlich hĂ€uslichen Wohnen verstanden wird.
3. Im Zuge der Normalisierung wurde die Orientierung am traditionellen Behindertenbild (Defizitorientierung) kaum hinterfragt.
4. Betroffene wurden an der Normalisierung ihrer Lebensbedingungen nur selten beteiligt â waren es doch in der Regel ihre Betreuer oder die Leiter der Einrichtungen, die am besten wussten, was fĂŒr sie gut und richtig war.
5. Normalisierung wurde als »Normierung der Lebenswelt« (einheitliche Ausstattung aller Wohngruppen eines Heimes) sowie als ein »Normal-Machen« behinderter Menschen sehr oft missverstanden.
Diese Problematik wurde in den vergangenen 40 Jahren von Menschen mit Behinderungen selbst aufgegriffen. ZunĂ€chst waren es insbesondere körper- und sinnesbehinderte Menschen, die sich in selbstorganisierten GruppenzusammenschlĂŒssen gegen die Institutionalisierung sowie den Missbrauch des Normalisierungsprinzips wandten. Scharf kritisiert wurde die Priorisierung von Eigeninteressen der KostentrĂ€ger, WohlfahrtsverbĂ€nde und Organisationen der Behindertenhilfe sowie deren Orientierung an einem VerstĂ€ndnis von Behinderung, das die AbhĂ€ngigkeit von Menschen mit Behinderungen unterstrich und der Verdinglichung Betroffener als Objekte von Versorgung und FĂŒrsorge den Weg geebnet hatte. Dieses klinisch geprĂ€gte Modell sollte nunmehr durch ein Autonomie-Modell abgelöst werden. Dessen AktualitĂ€t ist bis heute ungebrochen (vgl. Theunissen 2013; Theunissen & Kulig 2016). Das zeigen zum Beispiel die Initiativen von Menschen mit Lernschwierigkeiten, die sich weltweit unter dem Organisationsnamen People First in Gruppen zusammengeschlossen und vernetzt sowie im engen Schulterschluss mit anderen Behinderten- und BĂŒrgerrechtsbewegungen dem Selbstbestimmungsgedanken verschrieben haben.
Im Kern geht es bei dem Autonomie-Modell um einen Wechsel der ZustĂ€ndigkeit und Umverteilung von Macht, indem behinderte Menschen als »Experten in eigener Sache« selbst darĂŒber entscheiden möchten, was fĂŒr sie gut und hilfreich ist und was nicht. Die Vorstellungen in Bezug auf ein Wohnen im Erwachsenenalter und Alter sind dabei eindeutig: Keine Unterbringung in Wohnheimen, Pflege- oder groĂen Behinderteneinrichtungen, sondern ein selbstbestimmtes Leben in kleinen, gemeindeintegrierten Wohnungen, die mit einer Ăffnung nach auĂen als Orte der PrivatsphĂ€re und des gesellschaftlichen Zusammenlebens betrachtet werden.
In Orientierung an diesen Vorstellungen sind im Verlauf der letzten Jahre einige der fĂŒhrenden westlichen Industrienationen (USA, GroĂbritannien, skandinavische LĂ€nder, Australien, Kanada, Ăsterreich) dazu ĂŒbergegangen, das Normalisierungsprinzip durch ein deinstitutionalisiertes, hĂ€usliches Wohnangebot fĂŒr Menschen mit Behinderungen zu bestimmen und umzusetzen. Hierbei haben wir es mit systematischen BemĂŒhungen um eine Ăberwindung von Heim- oder Anstaltssystemen zugunsten gemeindeintegrierter, kleiner Wohnformen zu tun (vgl. Theunissen 2014). In der angloamerikanischen und skandinavischen Fachdiskussion wird diesbezĂŒglich der Begriff der Institution an zentralen Versorgungs- und fremdbestimmten Betreuungsstrukturen festgemacht. Demnach gilt eine gemeindeintegrierte Wohnform dann nicht als Institution, wenn dem Prinzip des hĂ€uslichen Wohnens mit einer Selbstversorgung und der Ermöglichung eines hohen Grades an Autonomie entsprochen wird. Internationalen Studien zufolge tragen Wohnformen mit maximal sechs PlĂ€tzen diesem Prinzip am ehesten Rechnung.
Schon in den 1980er Jahren wurde im Rahmen der schwedischen Gesetzgebung darauf reagiert, indem Wohneinrichtungen fĂŒr Menschen mit Behinderungen nicht mehr als fĂŒnf PlĂ€tze aufweisen dĂŒrfen. Gleichfalls werden in den USA seit einigen Jahren drei gemeindeintegrierte Wohnformen in Abgrenzung zu Institutionen als zeitgemÀà betrachtet:
1. »supported living« (Wohnungen mit 1â2 PlĂ€tzen)
2. »small group homes« (Wohngruppen mit 3 PlÀtzen)
3. »larger group homes« (Wohngruppen mit 4â6 PlĂ€tzen).
Diese drei Formen, die allesamt von Menschen mit Lernschwierigkeiten geschĂ€tzt werden, signalisieren ein flexibles, bedarfsgerechtes, auf individuelle Interessen und BedĂŒrfnisse zugeschnittenes Wohnangebot, das eine Unterscheidung in »stationĂ€r« oder »ambulant«, wie sie hierzulande gelĂ€ufig ist, obsolet werden lĂ€sst. Im Gegenteil, diese Unterscheidung ist ein Hindernis fĂŒr die Implementierung zeitgemĂ€Ăer Wohnformen und sollte daher tunlichst abgeschafft werden.
Der Prozess des deinstitutionalisierten Wohnens ist in den nordeuropĂ€ischen LĂ€ndern und in den USA am weitesten fortgeschritten (vgl. Theunissen 2012; 2013; 2014). Hierzulande haben wir es hingegen mit einer schleppenden Entwicklung zu tun, was nicht nur Eigeninteressen von EinrichtungstrĂ€gern der Behindertenhilfe (z. B. BefĂŒrchtungen an Macht- und Einflussverlust, wirtschaftliche ErwĂ€gungen wie Auslastung, Mitarbeiterinteressen, vermutete ArbeitsplatzgefĂ€hrdungen, Bindung an Immobilien), sondern ebenso spezifischen Barrieren von Seiten zustĂ€ndiger KostentrĂ€ger und Behörden geschuldet ist. Zudem scheint die Vorstellung noch weit verbreitet zu sein, dass das sogenannte Betreute Wohnen oder Leben in kleinen Wohngruppen in der Gemeinde nur fĂŒr behinderte Menschen mit einem relativ hohen Grad an SelbststĂ€ndigkeit geeignet sei. Diese Vorstellung schimmert leider auch in dem soeben verabschiedeten Bundesteilhabegesetz durch, weshalb es einer zeitgemĂ€Ăen Behindertenarbeit nicht gerecht wird (vgl. Theunissen 2014; Theunissen & Kulig 2016): Menschen mit schweren (kognitiven) BeeintrĂ€chtigungen gehören demnach ins Heim, und bei einem hohen pflegerischen Assistenzbedarf werden nicht selten (vor allem von KostentrĂ€gern) Unterbringungsformen unter der Regie der Pflegeversicherung (Pflegeheime, Pflegegruppen bzw. eingestreute PflegeplĂ€tze in GroĂeinrichtungen) favorisiert.
Dass diese Praxis, bei der nahtlos an das eingangs skizzierte Zwei-Klassen-System angeknĂŒpft wird, der Inklusion und somit einem zentralen Leitgedanken der UN-Konvention widerspricht, ist unschwer zu erkennen. Denn die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 13. Dezember 2006 in New York verabschiedete Konvention ĂŒber die Rechte von Menschen mit Behinderungen verpflichtet alle Mitgliedsstaaten, zu denen Deutschland zĂ€hlt, behinderte Menschen als gleichwertige BĂŒrger anzuerkennen und den Weg dafĂŒr zu ebnen, dass sie mit den gleichen Rechten wie nicht behinderte Personen mitten in der Gesellschaft leben können. Hierzu gilt es, alle Barrieren, die Menschen mit Behinderungen an der »vollen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft« hindern, zu beseitigen. GemÀà Artikel 9 zielt die Konvention darauf ab, dass alle Vertragsstaaten eine »ZugĂ€nglichkeit« schaffen, um Menschen mit Behinderungen den barrierefreien Zugang zu GebĂ€uden, StraĂen, Transportmitteln sowie Informations- und Kommunikationsdiensten zu ermöglichen. DarĂŒber hinaus geht es der Konvention um Empowerment und Selbstbestimmung (vgl. Bielefeldt 2006), indem jeder Mensch mit Behinderung selbst darĂŒber entscheiden soll, mit wem und wo er leben möchte. Dieses Recht auf ein selbstbestimmtes Wohnen gilt uneingeschrĂ€nkt fĂŒr alle Menschen mit Behinderungen. Folglich kennt die Konvention kein Zwei-Klassen-System in der Behindertenhilfe, welches zwischen »integrations- oder inklusionsfĂ€higen« und »integrations- oder inklusionsunfĂ€higen« behinderten Menschen unterscheidet. AusdrĂŒcklich wird in Artikel 19 herausgestellt, dass kein Mensch mit Behinderung gegen seinen Willen in Institutionen untergebracht werden darf. Vielmehr wird jedem das Recht zuerkannt, in »seiner« Gemeinde leben zu dĂŒrfen.
Vor dem Hintergrund dieser LeitsĂ€tze steht Deutschland mit seinen BundeslĂ€ndern vor der Aufgabe, geeignete gesetzliche und verwaltungsbezogene MaĂnahmen zur Umsetzung der in der UN-Konvention ausgewiesenen Rechte zu treffen und alle Gesetze oder Erlasse aufzuheben, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen wie auch ein selbstbestimmtes Wohnen und Leben behindern. Das erfordert den »ermöglichenden Staat«, der entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen hat (z. B. regionale Versorgungsverpflichtung der Kommunen fĂŒr Menschen mit Behinderungen; Abschaffung der Begriffe bzw. Unterscheidung »stationĂ€r« und »ambulant« zugunsten eines flexiblen, hĂ€uslichen Wohnangebots im Verantwortungsbereich einer Kommune bzw. eines KostentrĂ€gers; Priorisierung zeitgemĂ€Ăer, hĂ€uslicher Wohnformen wie unterstĂŒtztes Wohnen in einem Wohnverbund oder in einer Mehrgenerationenwohnanlage jenseits von Heimen), so dass sich eine inklusive Gemeinde und Kultur entfalten kann (vgl. Theunissen 2013, 359; Theunissen & Kulig 2016). Eine solche Entwicklung, die mit dem Bundesteilhabegesetz zwar aufgegriffen, aber nicht konsequent im Sinne von Inklusion und Empowerment aufbereitet wurde, kann aber nur gedeihen, wenn nicht allein der Staat, sondern ebenso andere Instanzen wie Wirtschaft, Organisationen oder TrĂ€ger der Behindertenhilfe sowie der dritte Sektor (selbstorganisierte BĂŒrgerinitiativen, Selbsthilfegruppen, freiwillig engagierte BĂŒrger) die Leitgedanken der UN-Konvention als einen sozialen Auftrag betrachten und mittragen. DafĂŒr steht der Begriff der BĂŒrgergesellschaft, deren Förderung und Entfaltung eine der bedeutsamsten Herausforderungen fĂŒr die Zukunft einer humanen Gesellschaft im Sinne von Inklusion und Teilhabe darstellt.
Genau an dieser Stelle haben die folgenden Best-Practice-Beispiele ihren Platz, die das zu verwirklichen versuchen, was sich viele Menschen mit Behinderungen wĂŒnschen und von der UN-Konvention ihren Mitgliedsstaaten fachwissenschaftlich empfohlen und auferlegt wurde.
So beweist zum Beispiel der Landschaftsverband Rheinland als mĂ€chtiger Kommunalverband und ĂŒberörtlicher KostentrĂ€ger, dass selbst in wirtschaftlich schwierigen Zeiten heilpĂ€dagogische Heime (z. B. in Langenfeld, DĂŒren) aufgelöst und durch vernetzte Hilfen, Regionalisierung, Dezentralisierung, komplementĂ€re Dienste und individuelle Hilfeplanungen »ermöglichende« Rahmenbedingungen geschaffen werden können, durch die ein selbstbestimmtes Wohnen und eine Teilhabe behinderter Menschen am Gemeinwesen auf den Weg gebracht werden können. Hierzu beschreiben Christian Bradl und Angelika KĂŒppers-Stumpe die wichtigsten Bausteine dieser politisch bedeutsamen Reform, die unzweifelhaft als richtungsweisend in Sinne der UN-Konvention gelten kann. Denn Menschen mit schweren geistigen Behinderungen sind in diesem Reformprozess zur Implementierung von Inklusion und Teilhabe genauso einbezogen wie leicht behinderte Menschen oder Ă€ltere Personen mit Pflegebedarf.
In Ă€hnlichen Bahnen bewegen sich auch die von Dieter Kalesse, Jochen Amsik, Christoph Danes und Jutta Schwinkendorf skizzierten Initiativen der Evangelischen Stiftung Hephata, der es als groĂer TrĂ€ger der Behindertenhilfe gelungen ist, innerhalb von etwa 15 Jahren eine traditionsreiche Anstalt zu dezentralisieren und zu deinstitutionalisieren. Wie heute ehemals hospitalisierte Menschen mit Behinderungen in einem normalen Wohnumfeld wohnen und leben, wie Eltern mit geistiger Behinderung und ihre Kinder als gleichberechtigte BĂŒrger in ihrer Lebenssituation und gesellschaftlichen Teilhabe unterstĂŒtzt werden können und wie steinig der Weg zu einem hĂ€uslichen Wohnen fĂŒr junge Erwachsene mit geistiger Behinderung sein kann, wird uns nicht nur aus der Profi-Perspektive, sondern auch aus der Sicht von E...