II Schülerzentrierte Förderung
Visuelle und auditive Wahrnehmung
Michaela Greisbach
1 Einführung und Begriffsbestimmungen
1.1 Wahrnehmung
Unter Wahrnehmung versteht man den aktiven Prozess, bei dem sich der Mensch mit allen ihm zur Verfügung stehenden Sinnen die Umwelt aneignet und sich mit ihr auseinandersetzt. Sinneseindrücke unterschiedlichster Art werden vom Organismus über Rezeptoren aufgenommen, über Neuronenbahnen weitergeleitet, sortiert, eingeordnet, miteinander verknüpft und gespeichert. Die Informationen werden mit bekannten Empfindungen und Erfahrungen, also dem bereits gespeicherten Wissen, verglichen und miteinander vernetzt.
Zum Wahrnehmungsprozess gehört somit neben der Reizaufnahme, der Weiterleitung von Impulsen und der Speicherung auch die mentale Verarbeitung der Sinneseindrücke (Zimmer, 2006, S. 32).
Berücksichtigt man diese Bereiche, so kann man sich den Wahrnehmungsvorgang als einen dynamischen Prozess vorstellen. Zum eigentlichen Wahrnehmungsprozess zählen in Anlehnung an Muders (1991, S. 310):
- die Aufnahme des Reizes über ein Sinnesorgan,
- die Weiterleitung der umgewandelten Impulse über afferente Nervenbahnen zum Hirnstamm,
- die Selektion relevanter Informationen,
- die Speicherung,
- Vergleichsprozesse mit bislang wahrgenommenen Informationen,
- die Integration unterschiedlicher Sinnesmodalitäten und
- die zentrale Verarbeitung der Sinneseindrücke und Einordnung in bisherige Erfahrungen.
Die sich hieran anschließende Reaktion auf die wahrgenommenen Empfindungen ruft neue Wahrnehmungen – im Sinne eines Regelkreises – hervor. Diese werden wiederum aufgenommen, gespeichert, verglichen usw.
Zimbardo und Gerrig (2008, S. 108) beschreiben Wahrnehmung als einen dreistufigen Prozess. Der allgemeine Ablauf setzt sich zusammen aus a) sensorischen Prozessen, bei denen durch die Stimulation der Sinnesrezeptoren und die Erzeugung von neuronalen Impulsen eine Empfindung erzeugt wird, b) der perzeptuellen Organisation, also der Bildung einer internen Repräsentation und c) der Identifikation bzw. dem Wiedererkennen durch Zuweisung von Bedeutung.
Bezogen auf die Verarbeitungsprozesse, wie sie in Abbildung 1 dargestellt sind, erläutern die Autoren: „Wird die perzeptuelle Repräsentation aus verfügbaren Informationen des sensorischen Inputs gewonnen, so handelt es sich um Bottomup-Verarbeitung. Wird die perzeptuelle Repräsentation durch Vorwissen, Motivationen, Erwartungen und andere Aspekte höherer mentaler Tätigkeiten beeinflusst, so handelt es sich um Top-down-Verarbeitung“ (Zimbardo & Gerrig, 2008, S. 110).
Abb. 1: Wahrnehmungsprozess (nach Zimbardo & Gerrig, 2008, S. 110)
Von wesentlicher Bedeutung für den Organismus ist bei diesem Prozess die Selektion der Reize. Nur ein Bruchteil der wahrgenommenen Reize wird gespeichert und weiterverarbeitet. Durch das Filtern der Körper- und Umweltreize ist eine Konzentration auf relevante Informationen – und somit auch Lernen – erst möglich.
Insgesamt muss Wahrnehmung als ein ganzheitlicher und auch in weiten Teilen subjektiver Vorgang betrachtet werden, auf den verschiedene Faktoren einwirken. So beeinflussen die aktuelle emotionale Befindlichkeit, wie z.B. Aufmerksamkeit und Motivation, und die individuelle emotionale Wertung eines Reizes die Aufnahme und die Verarbeitung von Sinneseindrücken.
Gerade schulisches Lernen ist aber nicht nur von der Wachheit, der Zugewandtheit und dem Interesse von Schülerinnen und Schülern am Gegenstand bzw. Unterrichtsinhalt abhängig. Wie in Abbildung 1 zu erkennen, beeinflussen auch individuelle Erwartungen und Annahmen, die durch den jeweiligen Kontext ausgelöst werden, die Wahrnehmung. „Erwartete Reize gelangen bevorzugt – auf Kosten anderer Vorgänge – ins Bewusstsein, so dass sie wirksamer verarbeitet und schneller gedeutet werden können“ (Friedrich & Preiß, 2003, S. 193).
Daneben ist die neuronale Verknüpfung neuer Erfahrungen, also die Verankerung neuer Informationen im Gehirn, von den gespeicherten Vorerfahrungen – und insbesondere deren Vernetzung – abhängig.
Kasten 1: Abhängigkeit der Wahrnehmung von Erwartungen und Vorerfahrungen
Kinder, die ohne Geschwister aufwachsen, haben manchmal Probleme, die Einführung der Rechenoperation „Teilen“ im Unterricht nachzuvollziehen. Sie mussten, angenommen, z. B. noch nie Bonbons mit anderen teilen. Ihnen fehlen also Erfahrungen in diesem Bereich – was anderen Schülerinnen und Schülern nicht schwer fällt, die schon gelernt haben, dass Teilen immer „gerecht“ sein muss, damit niemand benachteiligt wird, dass manchmal doch etwas übrig bleibt und dass der Quotient dabei natürlich (bedauerlicherweise) kleiner wird.
1.2 Wahrnehmungsmodalitäten
Sinneseindrücke, die sich ähneln, wie z. B. das Helligkeitssehen und das Farbsehen, werden zu Sinnesmodalitäten zusammengefasst. Ihre Anzahl ist umstritten, das Spektrum reicht von 5 bis hin zu 13 unterschiedlichen Sinnen (siehe Überblick bei Zimmer, 2006, S. 56ff.).
Üblich ist die Unterscheidung zwischen den Nahsinnen, „bei denen unmittelbarer Kontakt des Körpers mit der Reizquelle besteht“ (Barth, 2006, S. 55), und den Fernsinnen, bei denen „die Reizquelle vom Körper entfernt lokalisiert ist“ (ebd.). Richtet man sich nach dieser Definition, so ergibt sich eine Struktur, wie sie in Tabelle 1 dargestellt ist.
Tab. 1: Körpernahe und körperferne Sinnesmodalitäten
| Nahsinne | Fernsinne |
| Taktile Wahrnehmung Tast- und Berührungssinn | Visuelle Wahrnehmung Sehsinn |
| Kinästhetische Wahrnehmung Lage- und Bewegungssinn | Auditive Wahrnehmung Hörsinn |
| Vestibuläre Wahrnehmung Gleichgewichtssinn | Olfaktorische Wahrnehmung Geruchssinn |
| Gustatorische Wahrnehmung Geschmackssinn | |
Allerdings gibt es nicht nur unterschiedliche Systematiken, auch die in der Tabelle 1 vorgenommene Zuordnung wird nicht von allen Autoren geteilt. So ordnet z. B. Zimmer (2006, S. 58) den Geruchssinn den körpernahen Sinnen zu.
Die Unterscheidung einzelner Sinnesmodalitäten erscheint eher künstlich, da die Aufnahme von Informationen zumeist über mehrere „Sinne“ gleichzeitig erfolgt. So werden z. B. Wörter, die aus Silbenkärtchen gebildet an der Tafel hängen, gelesen, gehört und geklatscht, also gleichzeitig visuell, auditiv und kinästhetisch erfahren. Als Konsequenz hieraus ergibt sich, dass eine isolierte Diagnostik einer einzelnen Wahrnehmungsmodalität und auch eine isolierte Förderung eines einzigen Wahrnehmungsbereiches kaum möglich sind – und insbesondere im Bereich der Förderung aus (sonder-)pädagogischer Sicht kein vornehmliches Ziel sein kann.
Die größte Informationsaufnahmekapazität besitzt der visuelle Kanal, danach folgt in einem Verhältnis von 10:1 der akustische Kanal (Born & Oehler, 2009, S. 21). Da der visuellen und der auditiven Wahrnehmung insgesamt gesehen auch der größte Stellenwert beim schulischen Lernen eingeräumt wird, konzentrieren sich die weiteren Ausführungen hierauf.
1.2.1 Die visuelle Wahrnehmung
Erkennen Kinder bei der Einschulung Buchstaben oder werten sie diese nur als unbedeutende Muster ohne einen persönlichen Bezug? Welche Vorerfahrungen haben sie vor Schuleintritt mit Schrift und mit „Lesen“ gemacht? Gab es vielleicht Erwachsene, die ihnen zu verstehen gaben, dass das noch zu schwer sei für sie? Oder wurde ihre Aufmerksamkeit schon früh auf die, für die Erwachsenenwelt so bedeutsamen Zeichen gelenkt?
Entsprechend den allgemeinen Ausführungen zum Wahrnehmungsprozess umfasst die visuelle Wahrnehmung „die Fähigkeit, optische Reize aufzunehmen, zu unterscheiden, zu verarbeiten, einzuordnen und zu interpretieren“ (Zimmer, 2006, S. 69). Ob aber Schulanfänger beim Lesenlernen die Buchstaben als Buchstaben „sehen“, d. h. wiedererkennen bzw. identifizieren können, hängt wie oben beschrieben von verschiedenen Faktoren ab und zeigt, dass auch „das Sehen“ von den Vorerfahrungen, der Aufmerksamkeit, der Motivation und der emotionalen Wertung einer Situation beeinflusst wird. Der Sehsinn gilt als die komplexeste und am höchsten entwickelte Wahrnehmungsmodalität beim Menschen (Zimbardo & Gerrig, 2008, S. 119).
Als relevante Bereiche der visuellen Wahrnehmung nennt Barth (2006, S. 84) das visuelle Reihen- bzw. Symbolfolgegedächtnis und die visuelle Aufmerksamkeitsspanne. Daneben führt er, wie viele Autoren an dieser Stelle, in Anlehnung an Frostig und Lockowandt (1974), fünf Teilfähigkeiten auf, die in Tabelle 2 zuerst genannt sind.
Tab. 2: Teilbereiche der visuellen Wahrnehmung
| Wahrnehmungsbereiche | Erläuterung |
- Visuo-motorische Koordination
| - Koordination zwischen der Augen- und der Handbewegung
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- Beachtung der Formkonstanz
| - Wahrnehmung einer Form, unabhängig von ihrer Größe oder Lage oder des Blickwinkels ihres Betrachters
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- Figur-Grund-Unterscheidung
| - Lenkung der Aufmerksamkeit auf die relevanten Merkmale eines Gegenstandes, getrennt von Hintergrundreizen
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- Erkennen der Lage im Raum
| - Wahrnehmung der Raumlage eines Gegenstandes im Verhältnis zum Betrachter
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- Erkennen räumlicher Beziehungen
| - Wahrnehmung der Raumlage zweier oder mehrerer Gegenstände zueinander und zum Betrachter
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- Visuelles Reihen- bzw. Symbolfolgegedächtnis
| - Wahrnehmung und Speicherung der Reihenfolge von visuellen Reizen
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- Visuelle Aufmerksamkeitsspanne
| - Lenkung der visuellen Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand für einen bestimmten Zeitraum
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Viele Autoren, wie z.B. Frostig, Lefever und Whittlesey (1961), Stephens und Pratt (1989) oder Gabbard (1992), gehen davon aus, dass die fünf erstgenannten Teilfähigkeiten, also die visuo-motorische Koordination, die Wahrnehmung der Formkonstanz, die Figur-Grund-Unterscheidung, das Erkennen der Lage im Raum und die Wahrnehmung räumlicher Beziehungen unabhängig voneinander bestehen und damit auch unabhängig voneinander diagnostizierbar und ebenso isoliert trainierbar sind. Ausgehend von dieser Grundannahme wurden (und werden) Tests zur visuellen Wahrnehmung mit spezifischen Subtests zu diesen Teilbereichen entwickelt und ebenso Trainingsprogramme zur Förderung der visuellen Wahrnehmung, die Übungen zur Verbesserung von Teilfähigkeiten anbieten.
Die hohen Korrelationen, die zwischen den einzelnen Subtests bei Untersuchungen nachgewiesen wurden, sprechen jedoch gegen die Annahme, dass diese Wahrnehmungsbereiche unabhängig voneinander existieren. Beispielsweise können Aufgaben zur Beurteilung der Figur-Grund-Wahrnehmung „von einem Kind verlangen, versteckte Figuren in einem Hintergrund aus ablenkenden Formen herauszufinden, aber um die Aufgabe zu lösen, bedarf das Kind auch in beträchtlichem Maße der Fähigkeiten zur Diskrimination, zur Erfassung räumlicher Beziehungen und zur Formkonstanz“ (Büttner,...