1 Der „Gute Arzt“ – Über einen ethisch begründeten ärztlichen Umgang mit chirurgischen Patienten
Dieter Theuer, Rolf Verres, Eike Martin und Markus W. Büchler
Bereits vor der Sesshaftwerdung der Hominiden vor 800.000 bis 600.000 Jahren in der Urfom der Jäger- und Sammlergemeinschaft ist die soziale Verantwortung einer pflegerisch-ärztlichen Tätigkeit erkennbar. Ausgrabungen von Skelettteilen des Homo sapiens neandertalensis haben die Ausheilungszustände von Oberarmfrakturen mit knöcherner Konsolidierung bei im fortgeschrittenen Lebensalter verstorbenen Urmenschen nachweisen können. Man darf annehmen, dass diese Heilungen wohl kaum möglich gewesen wären, wenn nicht andere Individuen durch pflegende Zuwendung geholfen hätten.
Nach Niederlassung der Hominiden als Ackerbauern und Viehzüchter in größeren Gemeinschaften setzte alsbald eine Aufgaben- und Arbeitsteilung ein. Bestimmte Personen gewannen dadurch Erfahrung in verschiedenen speziellen Tätigkeiten, dazu gehörte auch ein zunehmender Erfahrungsschatz an Möglichkeiten der Krankenbehandlung, Behandlung von arbeitsbedingten Verletzungsfolgen, Wundversorgung, Hilfeleistung durch Gebärtechniken und andere. Diese Spezialisierungen konnten von Historikern z. B. in den Siedlungsgebieten des sogenannten „Fruchtbaren Halbmonds“ aufgedeckt werden, im geographischen Bereich zwischen Ägypten, Sinai-Halbsinsel, Jordan-Land bis an die Gebiete zwischen Euphrat und Tigris, etwa seit 60.000 bis 40.000 Jahren vor Christus. Neben zunehmender Spezialisierung arbeitsmäßiger Tätigkeiten in den Gemeinschaften der sesshaften Jetztmenschen (Homines sapientes sapientes) war bei arztähnlichen, gesundheitsfördernden Tätigkeiten insbesondere der Zugewinn der Erfahrung bei Verletzungsbehandlungen maßgeblich. Jedoch war es noch ein historisch langer Weg bis zu einem definierten Arztberuf des Jetztmenschen (Theuer 1966).
Eine Kodifizierung ärztlicher Handlungen und Verhaltensgrundsätze erfolgte als „Eid des Hippokrates“ (460 bis 370 v. Chr.). Dabei wurden Grundsätze herausgestellt, welche noch heute eine universelle Gültigkeit beanspruchen, in den ärztlichen Standesregeln weitergeführt, in staatlichen Gesundheitsgesetzen rechtsgültig formuliert und von ärztlichen Berufsgesellschaften fortlaufend der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung angepasst werden. Die grundsätzlichen beruflich-ethischen Verpflichtungen eines Arztes beinhalten seit mehr als 2.000 Jahren
- ärztliche Verordnungen zum Nutzen der Kranken,
- niemals ein tödliches Mittel zu verabreichen,
- einen kollegialen ärztlichen Umgang (auch mit Söhnen und Töchtern) des ärztlichen Lehrers sowie mit den Medizinstudenten.
Einige dem Eid des Hippokrates zugeordnete Grundsätze haben sich im Verlauf der Jahrtausende entsprechend einer medizinisch-technischen und sozialgesellschaftlichen Entwicklung verändert, z. B. durch eine eigenständige Abgrenzung der Tätigkeit eines Chirurgen, durch die selbstständige Fachrichtung der Augenheilkunde und Ähnliches.
Eine sozial ausgerichtete und beruflich zugeordnete Stellung erreichte die ärztliche Tätigkeit mit zunehmender Erfolgssammlung und Wissensweitergabe an Nachfolgegenerationen. Dabei kam es zunächst zu verschiedenen eigenständigen Berufsbildern, beispielsweise Schamanentum, Wundarzt, Barbier und Knochenspezialist, Steinschneider und Zahnbehandler.
Für die moderne Gesellschaft des 21. Jahrhunderts und insbesondere für die Ärzteschaft in einem demokratisch verfassten Staatssystem gilt der Grundsatz, ein persönliches Maß an Empathie und Mitgefühl für den Patienten aus eigenem Gewissensentscheid als Grundlage der ärztlichen Tätigkeit zu erkennen (Hahn 1988; Dörner 2001). Die persönliche, beruflich-ethische Verpflichtung eines Arztes gilt lebenslang. Daher sollte sich der Arzt verpflichtet fühlen, wenn sein persönliches Maß an Empathie und Mitgefühl für den Patienten aus eigenständigen Gründen, persönlichen Problemen, Erkrankung oder Ähnlichem erschöpft ist, aus dem Berufsleben mit direktem Patientenkontakt auszuscheiden.
Den historisch gewachsenen, ärztlich-ethischen Berufspflichten sind alle Verwaltungsanordnungen durch Nichtärzte, staatliche Regularien und Verfügungen unterzuordnen. Stets im Vordergrund einer ärztlichen Entscheidungs- und Handlungslinie müssen das Interesse und das Wohlergehen des sich vertrauensvoll in die Fürsorge eines Arztes begebenden Patienten stehen. Dabei können auch Widerstandshandlungen des ethisch-orientierten Arztes gegen bürokratische Verordnungen notwendig sein. In einer demokratischen Verfassung sind dazu unterstützend die Einspruchmöglichkeiten der ärztlichen Standesorganisationen und Ärztekammern vorgegeben und einzufordern.
Besonders in diktatorischen Regimes muss der Degradierung und Abwertung des Arztberufes und der Beseitigung der ärztlichen-ethischen Grundlagen einer Tätigkeit des „Guten Arztes“ mit Nachdruck – insbesondere durch Standesorganisationen – entgegengetreten werden. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang die „Auschwitz-Ärzte“ Nazideutschlands, die Folterärzte afrikanischer Diktaturen, aber auch der Versuch der Umwandlung einer ethisch-fundierten ärztlichen Grundauffassung in den Beruf eines „Medizin-Ingenieurs“ am menschlichen Organismus, durch das SED-Regime in Ostdeutschland während der 1960er Jahre (Medizin-Ingenieur, Diplom-Mediziner) vorangetrieben, unter anderem einhergehend mit einer maßgeblichen Erschwerung der ärztlichen Promotion. Die ethischen Grundlagen des Arztberufes wurden schrittweise reduziert, bei Ende des Medizinstudiums erfolgte die staatliche Ernennung zum „Diplom-Mediziner“, entsprechend einem Diplom-Ingenieur in den technischen Berufen (Schütt 1999; Schoenemann 2001; David 2006).
In den vergangenen 100 Jahren hat eine Vielzahl von Faktoren tiefgehende Veränderungen auf das Arzt-Patient-Verhältnis bewirkt. Die fortschreitende Industrialisierung, eine Abwanderung der Bevölkerung in großstädtische Ballungsräume, Kriegshandlungen mit Millionen von Toten und Verletzten, soziale Umwandlungen von Bevölkerungsstrukturen, aber auch eine zunehmende Kommunikations-, Informations- und Kontaktmöglichkeit mit der Entwicklung von Radio, Fernsehen und Internet haben das ehemals paternalistische Arztbild verändert. Der „kundige Patient“ stellt viele Fragen und möchte bei anstehenden Entscheidungen beteiligt sein (Kunath 2003). Hinzu kommt auf der medizinisch-ärztlichen Seite eine rasante technische Weiterentwicklung diagnostischer und therapeutischer Verfahren und entsprechend normierter Methoden, Anästhesie- und Operationsabläufe u. a.
Dabei trägt eine durch Hygiene, Impfungen und ärztliche Behandlungsmaßnahmen sowie Ernährungsverbesserung explodierende Weltbevölkerung von derzeit 7 Milliarden Menschen zu einer Anonymisierung der persönlichen Kontakte, auch zwischen Arzt und Patient, bei.
1.1 Arzt-Patient-Beziehung
Die zwischenmenschliche Beziehung zwischen einem Arzt und einem Patienten ist im Idealfall durch ein vertrauensvolles persönliches Verhältnis geprägt. Der Patient möchte mit seinen Beschwerden, Krankheitssymptomen und mit den dadurch ausgelösten subjektiven und sozialen Sorgen vertrauensvoll in der Annahme einer zu erhaltenden Hilfeleistung zum Arzt kommen. Voraussetzung für diese persönliche zwischenmenschliche Beziehung sind verschiedene Grundsätze. Sie zu beachten ist wichtig, da es neben dem Vertrauen auch das Misstrauen und die Angst des Patienten gibt.
Moderne Konzeptionen der Arzt-Patient-Beziehung in Chirurgie und Anästhesiologie gehen zunächst von dem einfachen Grundgedanken aus, dass eine Reduktion des Menschen auf das rein Körperliche zumindest zeitweise unumgänglich ist, dann aber aufgehoben werden muss. Der Chirurg bewältigt die Operationen am Menschen nur dann, wenn der Patient als narkotisierter oder zumindest teilanästhesierter Körper auf dem Operationstisch liegt und schmerzunempfindlich ist. Sobald aber die Notwendigkeit von Compliance deutlich wird, kann eine Reflexion der Arzt-Patient-Beziehung nützlich werden, wie sie vor allem in der professionellen Psychosomatik selbstverständlich ist (Hontschik 1994; Hontschik und von Uexküll 1999)
1.1.1 Arztwissen
Der Arzt ist durch seine medizinische, fachbezogene und gegebenenfalls weiterführende spezialisierte Ausbildung in der Lage, den Erkrankungen des Patienten entgegenzutreten und einen Heileffekt anzustreben. Dazu gehört die hochqualifizierte medizinische Fachausbildung, gegebenenfalls die spätere Spezialisierung und Facharztanerkennung. Ständige Fortbildung und Anpassung an neue Standards und Techniken garantieren dem Patienten eine optimale, moderne Behandlung unter Gewährleistung eines möglichst umfassenden Nutzens für die Wiedererlangung seiner Gesundheit (Bischof 2010).
Das gegenseitige Verhältnis zwischen Arzt und Patient bleibt somit geprägt durch ein zu lösendes gesundheitliches, körperliches und seelisches Problem. Zum erforderlichen Arztwissen gehört es auch, Ängste und Sorgen des Patienten zu erkennen und darauf in einer Weise einzugehen, dass der Patient tatsächlich ein Vertrauen zum Arzt gewinnt. Auf dieser Basis wird es dann dem Arzt möglich, dem Patienten dessen persönliche Mitarbeit zuzumuten (Rockenbauch et al. 2006).
1.1.2 Ärztliche Leitbilder
Förderlich für die Persönlichkeitsentwicklung eines „Guten Arztes“ ist die frühzeitige Kontaktaufnahme und Beispielgebung durch ethisch fundierte, gute ärztliche Leitbilder und Lehrerpersönlichkeiten. Dazu ist der Medizinstudent aufgerufen, sich vorbildhafte Leitbilder unter der ärztlichen Lehrerschaft und Professorenschaft zu suchen. Im Rahmen des Medizinstudiums und der prägenden Jahre einer Facharztausbildung ist es von besonderem ethischen Wert, wenn der zukünftige, selbstverantwortlich tätige Arzt ethisch fundierte Leitbilder für seine eigene spätere Lebensführung findet. Umgekehrt bedeutet dieses Desiderat, dass sich die Dozenten dieser möglichen Bedeutung ihres Tuns bewusst sein sollten.
1.1.3 Gespräch
Grundlage der Arzt-Patient-Beziehung sowohl in körperlicher, krankheitsspezifischer aber auch psychologischer und seelischer Beziehung ist das persönliche, vertrauensvolle Gespräch zwischen Arzt und Patient. Keine regulatorische Behörde kann durch Auferlegung bürokratischer und anderer Lasten in die Zeit hinein regieren, welche der „Gute Arzt“ für ein tiefgründiges und vertrauensvolles Gespräch mit dem Patienten braucht. Allerdings muss die Ärzteschaft dafür sorgen, dass ärztliche Gespräche angemessen honoriert werden. Dies wiederum setzt voraus, dass eine Qualitätskontrolle akzeptiert wird. Das Modell der „psychosomatischen Grundversorgung“ mit entsprechenden Weiterbildungsmodulen und ärztlichen Zusatzbezeichnungen sollte in „abgespeckten“ Formen auch für Chirurgen und Anästhesisten adaptiert werden (Hontschik und von Uexküll 1999).
1.1.4 Vertrauen zwischen Arzt und Patient
Der Patient sucht den Arzt mit dem Wunsch eines umfassenden Vertrauens auf, um von ihm
- ärztliches Verständnis,
- menschliches Verständnis und
- medizinisch-ärztliche Hilfeleistung zu erhalten.
Dieses Vertrauen muss bereits im Anfangsgespräch des Arztes mit dem zukünftigen Patienten angestrebt werden, da es weitere Möglichkeiten der Arzt-Patient-Beziehung eröffnet. Dazu gehören Andeutungen über diskret zu behandelnde Symptome, Eheprobleme, Familienschwierigkeiten, aber auch vom Patienten nur unter Vorbehalt eingestandene persönliche Leistungseinbußen, körperliche Schwächen oder berufliche Schwierigkeiten. Ohne ein diesbezügliches Vertrauensverhältnis vermag die Heilung der vordergründigen Krankheit zwar im ingenieurmedizinischen Sinne möglich sein; eine ganzheitliche Wiederherstellung der Persönlichkeit und Leistungsfähigkeit sowie der sozialen Integration des Patienten ist aber ein Ziel, das nicht grundsätzlich an „Psycho-Spezialisten“ abgeschoben werden kann, sondern zu den genuin ärztlichen Aufgaben gehört (Schreiber et al. 2010).
1.1.4.1 Aufklärung, Erläuterungen des Vorgehens
Der „Gute Arzt“ gewinnt unverzichtbare Vorteile, wenn er den Patienten zu einer Kooperation bei den diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen gewinnt. Die dem Auffassungsvermögen des Patienten angepasste Wissensübermittlung und Aufklärung über diagnostische Verfahren, z. B. Endoskopie, Computertomografie, sowie die Erläuterung des weiteren therapeutischen Verfahrens, insbesondere im chirurgischen Fachgebiet, schafft eine Kooperationsbasis zwischen Arzt und Patient, die insbesondere bei schwierigen, langwierigen therapeutischen Maßnahmen, komplikationsbehafteten operativen Eingriffen für beide Seiten – Arzt und Patient – von Vorteil ist. Der Patient gewinnt durch eine ausführliche fachbezogene und seinem Verständnis angepasste Aufklärung und Erläuterung aller Maßnahmen das Gefühl, so kraftvoll wie möglich in die Durchführung des ärztlichen Behandlungsregimes einbezogen zu sein. Das bedeutet eine grundlegende Verbesserung von Kooperation und Freisetzung von Motivation, persönlichen Patientenaktivitäten und Eigeninitiativen.
In einem vertrauensvollen Arzt-Patient-Gespräch sollte einem schwerkranken Patienten die Hoffnung auf ein erträgliches Weiterleben möglichst nicht genommen werden. Die Vermittlung der Gewissheit eines unausweichlichen oder nahen Todes des Patienten, zum Bespiel bei Krebs im Endstadium, sollte unterbleiben – es sei denn, der Patient fragt danach. Dann gehört es zu den vornehmen Aufgaben des „Guten Arztes“, eine Kunst der andeutenden Sprache zu entwickeln und von Mensch zu Mensch zu kommunizieren.
1.1.4.2 Interaktion Chirurgie und Anästhesie
Die Chirurgie hat durch die Entwicklung des Faches Anästhesiologie ihre operativen Möglichkeiten dramatisch erweitern können (selbst bei Hochrisikopatienten, lange dauernden Eingriffen etc.). Ohne Zweifel ist deshalb die Kommunikation zwischen Anästhesiologie und Chirurgie von entscheidender Bedeutung nicht nur im interdisziplinären Sinne, sondern vor allem bezüglich der gemeinsam anvertrauten Patienten. In aller Regel haben die Patienten vor der Narkose mehr Angst als vor einer Operation, da der operative Eingriff als Maßnahme zur Gesundung verstanden wird und...