1 Wissenschaften und ihre Grenzen
Wissenschaften sind keine natĂŒrlichen Arten, und sie handeln auch nicht nur von solchen. » Die Physik«, » die Chemie«, » die Biologie« gibt es nicht wirklich. Ernst Mayr hat behauptet, dass die Biologie seit Darwin die einzige Naturwissenschaft sei, die ohne natĂŒrliche Arten operiere, im Unterschied zur Physik, die die Klasse der Elementarteilchen als unverĂ€nderbare Arten kennt, und der Chemie mit ihrem Periodensystem (Mayr, 1982, S. 45 f.). FĂŒr die Jurisprudenz und die Geschichte liegt auf der Hand, dass sie sich mit Einzelnem und nicht mit natĂŒrlichen Arten befassen.
Erst recht gibt es nicht » die Wissenschaft«, auĂer als wissenschaftsphilosophische Fiktion. Vielmehr handelt es sich bei den universitĂ€r gelehrten Disziplinen um Komplexe von Ăberzeugungen und Praktiken, die historisch entstanden sind und die nicht auf eine einzige zentrale Theorie oder Praxis »zurĂŒckgefĂŒhrt« oder »reduziert« werden können.
In den Entstehungsprozessen dieser Disziplinen werden manche Ăberzeugungen und Praktiken weitergefĂŒhrt, andere fallengelassen. Kein Chemiker versucht heute noch, Stoffe auf die aristotelische prima materia zu reduzieren, wie einst die Alchemisten. Doch viele Praktiken der Alchemie, wie hermetische Versiegelung von ReaktionsgefĂ€Ăen oder Metallproben, werden bis heute weiterhin durchgefĂŒhrt. Die moderne Chemie wĂ€re ohne die in der Alchemie entwickelten Techniken der Reinigung und Isolation von Substanzen nie entstanden. Die GrĂŒndungsvĂ€ter der Astronomie, PtolemĂ€us und Kepler, erstellten auch astrologische Gutachten (North, 1965). Die Genauigkeit von Konstellationsprognosen, etwa einer Sonnenfinsternis, war von enormer astrologischer Bedeutung â so wollte beispielsweise kein Feldherr einen Krieg zum Zeitpunkt einer ungĂŒnstigen Konstellation beginnen. Das BedĂŒrfnis nach astrologischen Prognosen war eine wesentliche Triebkraft der Herstellung von prĂ€zisen Beobachtungen und Berechnungen in der Astronomie, wie sie bis heute, etwa wenn ein Satellit ins All geschickt wird, mit Hilfe der Newtonâschen Gravitationstheorie durchgefĂŒhrt werden. Doch heutige Chemiker und Astronomen wĂŒrden die damalige Suche nach der prima materia oder der Quintessenz und den Glauben an die AbhĂ€ngigkeit des Handlungserfolges von Menschen vom Stand der Himmelskörper als irregeleitet und die mit diesen Ăberzeugungen verbundenen Praktiken als pseudowissenschaftlich kennzeichnen, erst recht, wenn sie auch in der Gegenwart mit neuen Mitteln, aber denselben Grundannahmen (wie etwa im Falle der computerisierten Astrologie) verfolgt werden. Das Ă€ndert freilich nichts daran, dass weiterhin mit Horoskopen Geld verdient wird und im Sinne einer banalisierten Alchemie der Handel mit »heilenden« und »schĂŒtzenden« Mineralien und Metallen in Form von Arm- und Fingerreifen oder Amuletten in esoterischen Kreisen blĂŒht.
Man kann nun mit Blick auf die Geschichte der universitĂ€ren Disziplinen negativ induktiv schlieĂen, dass auch die heutigen Wissenschaften Konglomerate aus in Zukunft weiterfĂŒhrbaren und historisch nicht ĂŒberlebensfĂ€higen Ăberzeugungen und Praktiken darstellen. Mit Blick auf die Welt nicht-universitĂ€rer Wissenspraktiken wie der Alchemie und Astrologie ist festzustellen, dass es womöglich keine Ăberzeugung der Vergangenheit gibt, die, wenn sie es in irgendeiner Form geschafft hat, in unsere Gegenwart ĂŒberliefert zu werden, in ihr nicht auch AnhĂ€nger findet.
In der Wissenschaftsphilosophie hat sich aus dieser Tatsache das sogenannte Demarkationsproblem ergeben, das man wie folgt formulieren kann: Wie unterscheiden wir intellektuelle Projekte, die es vermeintlich zu Recht geschafft haben, sich bis in die Gegenwart fortzusetzen, von solchen, bei denen sich lediglich ein Irrtum perpetuiert; wie unterscheiden wir rationale von irrationalen Unternehmungen oder kurz: Was trennt (wirkliche) Wissenschaften von Pseudowissenschaften? Karl Popper nahm mit dieser Fragestellung einst die Psychoanalyse und den Marxismus ins Fadenkreuz seiner normativen Wissenschaftsphilosophie.1 Dabei schien er jedoch nicht nur davon auszugehen, dass einzelne wissenschaftliche Disziplinen homogene Gebilde sind, von denen als solchen festgestellt werden kann, ob sie wissenschaftlich (weil fallibel, wenn wir das Popperâsche Kriterium anwenden) oder pseudowissenschaftlich sind, sondern auch, dass es so etwas wie »die RationalitĂ€t«, »die Wissenschaft ĂŒberhaupt« gibt.
Eine historisch reflektierte Wissenschaftsphilosophie, welche die Einsichten von Ludwik Fleck, Georges Canguilhem, Gaston Bachelard, Thomas Kuhn und Paul Feyerabend ernst nimmt, kann die Probleme nicht mehr so eindimensional sehen und auch die Psychoanalyse nicht als ein homogenes Gebilde betrachten, das als solches entweder als eine Wissenschaft oder als pseudowissenschaftlich einzustufen ist. Eine historische Epistemologie wird vielmehr sowohl das PrĂ€dikat »wissenschaftlich« wie »pseudowissenschaftlich« zeitlich indexikalisieren: Die Astrologie war im 16. Jahrhundert eine an den Höfen Europas â nicht jedoch an den christlichen Hochschulen â betriebene Wissenschaft. Sie ist in ihren ExaktheitsansprĂŒchen und ihrem Empirismus die historische Voraussetzung der bis heute betriebenen mathematischen Konstellationsprognose. In der Gegenwart sind das astrologische Ăberzeugungssystem sowie die astrologischen Praktiken jedoch zu einer Pseudowissenschaft geworden. Die Alchemie war ebenfalls nie eine universitĂ€re, sondern eine höfische Disziplin mit Wissenschaftsanspruch. Doch ihre Praktiken sind eine der wichtigsten Voraussetzungen der heute universitĂ€r anerkannten Chemie und Pharmazie.
Die normative Wissenschaftsphilosophie, die glaubte, auf der Grundlage von philosophischen RationalitĂ€ts- und Methodenkonzepten zwischen Wissenschaften und Pseudowissenschaften unterscheiden zu können, ist der Idee des Fortschritts verpflichtet. Seit Hegel existiert der Gedanke, dass die geistige Entwicklung der Menschheit eine Richtung habe. Eine normative Wissenschaftsphilosophie vom Typ Poppers (auch wenn der sich nicht in einer Linie mit Hegel sehen mochte) wollte dem Fortschritt dienen, indem sie vermeintlich irrationale intellektuelle Projekte als in Zukunft nicht fortsetzbare schon jetzt kritisiert und sich so als Agent der Progression (durch Selektion und Exklusion) der Vernunft und der sukzessiven WahrheitsannĂ€herung betĂ€tigt. Auch die Psychoanalyse sollte in diesem Zusammenhang als nicht zukunftstrĂ€chtig antizipierend ausgemerzt werden. Nun ist es mit dem Fortschritt so eine Sache; er scheint selbst wenig Zukunft zu haben. Die mythischen Politikkonzepte der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts (wie Ernst Cassirer in The Myth of the State analysiert hat [Cassirer, 1946]) widersprechen der Hegelâschen Vorstellung eines Fortschritts der Menschheit im Bewusstsein der Freiheit. Die RĂŒckkehr der Religionen als Lebensformen bestimmende Ăberzeugungssysteme und die damit seit der Romantik ablaufenden Revolten gegen die AufklĂ€rung â ehemals sentimentalisch rĂŒckwĂ€rtsgewandt, jetzt fundamentalistisch gewalttĂ€tig â lassen ebenso wie die UrstĂ€nde des Aberglaubens in der Esoterikbewegung an der historischen Notwendigkeit einer Entwicklung der Menschheit hin zu einem bestimmten RationalitĂ€tstyp zweifeln. Die lineare Ordnung der Zeit, in der sich »die Wahrheit«, »die Wissenschaft« und »das VernĂŒnftige« durchsetzen und »das Irrationale« ausstirbt, scheint entweder eine vereinfachende Vergangenheitsdeutung zu sein (die Welt war immer schon komplexer, als ihre Diagnostiker meinten), oder eine Gleichzeitigkeit inkompatibler Denk- und Lebensformen ist an Stelle der Fortschrittsideologie Bestandteil der Selbstdeutung der Gegenwart geworden.
Ist vielleicht deshalb auch die Psychoanalyse lediglich Â»ĂŒbrig geblieben«? Hat sie sich analog zur Astrologie fortgesetzt? Auch der Marxismus, von Popper als »die andere Pseudowissenschaft« bekĂ€mpft, feiert neuerdings ja muntere Renaissancen, seit »der Markt« als Inkarnation der kollektiven Vernunft durch die Finanzkrise ausgedient hat. Durch Hinweise auf diese historischen und rezenten Erscheinungen kann freilich auch eine normative Wissenschaftsphilosophie, die an einen bestimmten Vernunftbegriff als pacemaker der Geistesgeschichte glaubt, nicht zum Verschwinden gebracht werden. Niemand kann daran gehindert werden, eine bestimmte Form des Denkens und der wissenschaftlichen Praxis als die einzig legitime anzusehen, auch wenn er keine legislative Gewalt ĂŒber das menschliche Denken und Handeln besitzt und kein Copyright auf bestimmte RationalitĂ€ts- und Rechtfertigungsbegriffe anmelden kann. Dass die Psychoanalyse sich als eine Denk- und Therapieform einfach immer weiter fortsetzt, auch wenn sie von einigen Vertretern der naturwissenschaftlichen Medizin und von dem Fortschritt verpflichteten Wissenschaftsphilosophen als irrational und unhaltbar kritisiert wird, kann Poppersch gesehen entweder nur als historisches Wunder bestaunt oder mit dem Hegelâschen Kommentar »umso schlimmer fĂŒr die Wirklichkeit« aktiv ignoriert werden. Wir glauben jedoch, dass die Psychoanalyse sich fortgesetzt hat, weil sie ein vernĂŒnftiges Projekt der Erkenntnis und Heilung von psychischem Leiden sui generis ist. Es ist philosophisch bisher noch nicht ausreichend gelungen, dieses Projekt zu erkennen, weil die falschen Fragen ĂŒber die Psychoanalyse gestellt wurden, wie die, ob sie eine Wissenschaft oder eine Pseudowissenschaft, eine Natur- oder hermeneutische Wissenschaft sei. Stattdessen ist im Anschluss an John Forrester zu erwĂ€gen, ob und wie die Psychoanalyse eine eigene Form des »Denkens in FĂ€llen« entwickelt hat (Forrester, 1996). Vielleicht kann das Denken in FĂ€llen, wenn man seine Muster und seine FrĂŒchte einmal erfasst hat, sich sehr wohl als »rational« erweisen. Auch ein britischer Jurist denkt in FĂ€llen und nicht deduktiv mathematisch. Auch er macht keine Experimente. Vielleicht falsifiziert er Annahmen. Doch das könnte auch bei der Psychoanalyse so sein. Wenn wir der TĂ€tigkeit des britischen Juristen, der Fallbeispiele wĂ€lzt und aufeinander bezieht, das Adjektiv »rational« gönnen, vielleicht sollten wir es dann auch der Psychoanalyse nicht vorenthalten. Man muss nicht, aber man kann die Jurisprudenz, auch die nach dem angloamerikanischen case-law, eine Wissenschaft nennen (auf Deutsch spricht man ja von den »Rechtswissenschaften« und nicht von den »RechtskĂŒnsten«), denn dieses Denken weist eine Systematik auf.2 Vielleicht gibt es so etwas auch in der Psychoanalyse â wir werden sehen. Dann könnte das systematische Denken in FĂ€llen, das juristische wie das psychoanalytische, anders als Popper und seine AnhĂ€nger dachten, sowohl rational als auch wissenschaftlich sein. Bevor wir uns dieser Einsicht nĂ€hern, ist jedoch einiges wissenschaftsphilosophisches Geröll aus dem Weg zu rĂ€umen.
Eine Besonderheit der Psychoanalyse besteht darin, dass sie die BĂŒhne der Wissenschaft (freilich nicht die der UniversitĂ€t) mit einer expliziten Bezugnahme auf vor-, un- und pseudowissenschaftliche Praktiken und Anschauungen betritt. Allein der Titel von Freuds Die Traumdeutung belegt das, indem der Volksglaube, dass TrĂ€ume einen Sinn haben, rehabilitiert wird und der kontextbezogenen Deutungspraxis eines Artemidorus als brauchbare Ur-Idee, ein Ausdruck Ludwik Flecks, ihre Reverenz erwiesen wird (Fleck, 1994). Durch auf antike Mythen bezogene Begriffsbildungen wie »Ădipuskomplex« und »Narzissmus« unterstreicht Die Traumdeutung die KontinuitĂ€t zwischen neuem wissenschaftlich-psychoanalytischem und auĂerwissenschaftlichem Wissen. Sie etabliert sich, Ă€uĂerlich betrachtet, somit zunĂ€chst nicht als ein antimythologisches aufklĂ€rerisches Wissen, sondern (zumindest partiell) als »close reading« des Mythos (Winter, 1999). Und in der Schreber-Analyse Freuds finden wir den Ansatz zu einer Kritik der wissenschaftlichen SystemrationalitĂ€t, die immer Gefahr laufen kann, die ZĂŒge eines paranoiden Wahnsystems anzunehmen, wenn sie es mit ihrer Systematisierung ĂŒbertreibt.
WĂ€hrend der Fortschritt der Psychoanalyse zunĂ€chst darin bestand, sich neue GegenstĂ€nde wie sprachliche Fehlleistungen, Witze, die Tabus der Wilden, die Kriegsneurosen und -traumata, die Religionsrituale usw. einzuverleiben, wird er heutzutage vor allem in AnnĂ€herung an zeitgemĂ€Ăe technische Verfahren, wie etwa der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI), gesucht. Dabei sucht man den Anschluss einerseits an alte Experimente aus dem Umkreis der Psychoanalyse (wie z. B. Pötzls Konzept der psychischen »Nachentwicklung« subliminal dargebotener Reize im Traum [Pötzl, 1917]), welche innerhalb neuer Versuchsanordnungen bestĂ€tigt werden; andererseits unternimmt man eine Verschiebung des Gegenstandsbereichs, der den Anforderungen des neuen technischen Equipments besser genĂŒgt als die alten epistemischen GegenstĂ€nde (Leuschner, 2002). An die Stelle des Interesses am verdrĂ€ngten Unbewussten oder gar am UrverdrĂ€ngten tritt z. B. die Erforschung vorbewusster Wahrnehmung. Damit werden nicht nur manche Teile der Psychoanalyse zur Vor-Wissenschaft (sofern sie mit den neuen Methoden nicht bestĂ€tigt werden können), sondern es erscheinen auch gewisse ehemals psychoanalytische GegenstĂ€nde als nicht mehr wissenschaftlich, weil die Art ihrer PrĂ€paration nicht mehr als wissenschaftlich angesehen wird.
Die Historisierung der Wissenschaftstheorie â durch Autoren wie Fleck, Kuhn und Bachelard â hat zwar mit dem alten cartesischen Traum einer mathesis universalis als allgemeingĂŒltigem RationalitĂ€tsstandard aufgerĂ€umt, mit dem sich pseudo-, auĂer- und vorwissenschaftliches Wissen eindeutig vom wissenschaftlichen unterscheiden lĂ€sst, sie hat aber gleichzeitig das Demarkationsproblem unlösbar gemacht. Wenn jede Beobachtung theoriegeladen ist und durch einen Denkstil, ein Paradigma, eine episteme oder ein konzeptuelles Schema (»conceptual scheme«) vorgespurt wird, so gibt es keinen auĂerbegrifflichen archimedischen Punkt mehr, von dem aus entschieden werden kann, ob ein Paradigma wahr ist oder nicht, ob es die Wirklichkeit besser »abbildet« als ein anderes, ob es wissenschaftlich ist oder nicht (Lacewing, 2014).
So sympathisch Paul Feyerabends Polemik des anything goes als das Resultat des gegen Popperâsche DemarkationsbemĂŒhungen gewandten historischen Denkens auch erscheinen mag, so kontraintuitiv ist sie geblieben. Irgendetwas sagt uns, dass Homöopathie oder Scientology nicht den gleichen Wissenschaftsstatus beanspruchen können wie Bakteriologie oder Teilchenphysik und dass auch die Psychoanalyse nicht mit Kartenlegen und Engelskunde in einen Topf gehört. Den Unterschied darauf zu reduzieren, dass die einen Unternehmungen an UniversitĂ€ten betrieben und gelehrt werden und dafĂŒr öffentliche Gelder erhalten und die anderen nicht, sondern sich auf Esoterikmessen prĂ€sentieren und sich privat finanzieren, befriedigt nicht. Der Unterschied zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft lĂ€sst sich nicht an der institutionellen Praxis allein festmachen. Erstens wird psychoanalytische Theorie, wenn auch selten, sehr wohl an UniversitĂ€ten gelehrt (wie ĂŒbrigens inzwischen auch die Homöopathie) und in den Geisteswissenschaften breit rezipiert. Zweitens funktionieren psychoanalytische Kongresse anders als Esoterikmessen und orientieren sich am traditionellen Wissenschaftsbetrieb, in dem Forschungsergebnisse vorgetragen, die Standesorganisation verwaltet, aber nicht fĂŒr Produkte geworben wird. Es ist deshalb nötig, das Demarkationsproblem nicht einfach beiseitezuschieben, sondern es neu aufzurollen, und das heiĂt, sich noch einmal genauer aus einer wissenschaftsphilosophischen Perspektive mit dem Begriff der Grenze zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu befassen.
Der logische Empirismus verfolgte bekanntlich eine Bottom-up-Strategie: Den Boden der Erkenntnis bildeten in dessen Rekonstruktion des Wissens reine Beobachtungen, die in Protokoll- oder BasissĂ€tzen aufgezeichnet werden, aus denen sich Hypothesen ergeben, die experimentell geprĂŒft und zu allgemeinen Theorien zusammengefĂŒgt werden können. VerĂ€nderungen der Theorie ergeben sich dann, wenn Beobachtungen der Theorie widersprechen. Die historische Wissenschaftstheorie hingegen geht von einem Top-down-Verfahren aus: Beobachtungen spezifischer PhĂ€nomene sind erst auf Basis eines ausgebildeten Paradigmas oder Denkstils möglich. VerĂ€nderungen des Paradigmas ergeben sich entweder aus externen oder aus internen GrĂŒnden. Dem logischen Empirismus und der historisch orientierten Top-down-Strategie ist freilich die Vorstellung gemeinsam, dass
⹠sich Theorien als Ganzes verÀndern und auf einen Schlag verÀndern,
âą dass zwischen Beobachtungen und Theorien eine enge und starre Verbindung herrscht.
In anderen Worten: Beide Sichtweisen hÀngen einem gÀngigen Dualismus von Theorie und Empirie an.
Peter Galison hat allerdings anhand akribischer Untersuchungen der modernen Physik gezeigt, dass sich dieser Dualismus nicht halten lĂ€sst (Galison, 1997). Die Physik bildet keinen einheitlichen theoretischen Block, und VerĂ€nderungen erfolgen auch nicht auf einen Schlag durch neue Erkenntnisse aus dem Labor. Denn einerseits existieren in der Physik zwei relativ unabhĂ€ngige epistemische Traditionen, von denen die eine ihre Beweise aus Bildern, aus dem Sichtbarmachen von Einzelereignissen (golden events) bezieht, die andere aber auf statistisch ausgewertete ZĂ€hlverfahren baut. Zum anderen bilden theoretische Physiker, Experimentatoren und Ingenieure, die die Apparaturen entwickeln, unabhĂ€ngige Subkulturen, die ĂŒber eigene Publikationsorgane und Konferenzen und auch ĂŒber je eigene Theorien verfĂŒgen, und zwischen denen bei Theorieentwicklungen in sogenannten »trading zones«, wie Galison es nennt, Verhandlungen ĂŒber terminologische Entscheidungen stattfinden.
Da der Fortschritt der Physik aber auf alle Subkulturen angewiesen ist, sind die jeweiligen Subkulturen gezwungen, zusammenzuarbeiten, indem sie sich auf lokale und zeitlich begrenzte Sprachen (Pidgin oder Kreolen) einigen. Diese temporÀren und lokalen Sprachen ermöglichen es, Probleme zu lösen, ohne dass dabei ein...