II. Durchführung:
Die Wundertaten Jesu in urchristlichen Darstellungen
6 Krankenheilungen
6.1 Berichte über wunderbare Heilungen kranker Menschen durch Jesus nahmen in der Darstellung des Markusevangeliums breiten Raum ein. Die Evangelisten Matthäus und Lukas sind der Vorlage des Markusevangeliums weitgehend gefolgt, doch haben sie an manchen Stellen die ihnen vorliegende Textfassung gestrafft oder hier und da verändert.
Die Erzählungen, die der Evangelist Markus der mündlich weitergegebenen urchristlichen Überlieferung entnommen hat, sind durchweg in der formalen Gestalt gehalten, wie man allgemein in der griechisch-sprachigen Welt der Spätantike von wunderbaren Begebenheiten zu sprechen gewohnt war (s. o. S. 22f.).1 Zu Beginn wird die Schwere der Krankheit beschrieben, des öfteren auch vom vergeblichen Bemühen befragter Helfer oder Ärzte gesprochen. Umso größer hebt sich vor diesem Hintergrund die nunmehr bewirkte Heilung des Kranken ab. Handlungsweise und Worte des Wundertäters werden in der Mitte der erzählenden Darstellung gewürdigt. Und am Schluss ist von der Wirkung der eingetretenen Heilung die Rede, indem der nunmehr gesunde Mensch sich zu bewegen vermag und die umstehenden Zeugen voller staunender Bewunderung die soeben vollzogene Wundertat bezeugen.
Im Markusevangelium sind zu den Heilungsgeschichten die folgenden Perikopen zu zählen, die des näheren zu betrachten sind:
Mk 1,29–31 Par.: Heilung der Schwiegermutter des Petrus
Mk 1,40–45 Par.: Heilung eines Aussätzigen
Mk 2,1–12 Par.: Heilung eines Gichtbrüchigen
Mk 3,1–6 Par.: Heilung einer verdorrten Hand am Sabbat
Mk 5,21–43 Par: Heilung einer blutflüssigen Frau und Auferweckung der soeben verstorbenen Tochter des Jairus
Mk 7,31–37 Par.: Heilung eines Taubstummen
Zu dieser Aufstellung sind folgende Perikopen hinzuzunehmen, die die Evangelisten Matthäus und Lukas zu den im Markusevangelium vorgegebenen Abschnitten hinzugefügt haben:
Mt 8,5–13 Par.: Der Hauptmann von Kapernaum
Lk 13,10–17: Heilung einer verkrümmten Frau
Lk 14,1–6: Heilung eines Wassersüchtigen
Lk 17,11–19: Heilung von zehn Aussätzigen2
6.2 Vor dem Hintergrund einer großen Vielzahl von Heilungsgeschichten, die man in der spätantiken Umwelt erzählte, hebt sich die Eigenart der in den Evangelien aufgeführten Wundertaten Jesu deutlich ab. Einige Beispiele von antiken Berichten über Krankenheilungen seien kurz beschrieben und gewürdigt.
Seit alter Zeit wurde die Gottheit des Asklepios um Hilfe in Krankheitsnöten angerufen. Um die erbetene Zuwendung des Gottes zu empfangen, musste der Kranke, der sich zum Wallfahrtsort begeben hatte, sich nach den Anweisungen der Priester am Heiligtum verhalten. Dabei kam es darauf an, dass die vorgeschriebenen Riten sorgsam beachtet und befolgt wurden. Dann bestand begründete Hoffnung, dass die Gottheit sich einem kranken Beter hilfreich zuwenden würde. Dieser Vorgang konnte dann so beschrieben werden3:
„Die Offenbarung war unzweifelhaft, wie man ja auch in tausend anderen Fällen die Erscheinung des Gottes mit voller Gewißheit fühlte. Man hatte die Empfindung seiner Berührung und spürte sein Kommen in einem Zwischenzustand zwischen Schlaf und Wachen, wollte aufschauen und hatte Furcht, er könnte sich vorher entfernen, spitzte die Ohren und lauschte, halb im Traum, halb im Wachen, die Haare sträubten sich, Freudentränen kamen, stolze Bescheidenheit schwellte die Brust. Welcher Mensch könnte diesen Zustand mit Worten schildern? Wer zu den Eingeweihten gehört, weiß davon und erkennt ihn wieder.“4
In diesen Worten ist das subjektive Empfinden des eingeweihten Mysten beschrieben, der im Vertrauen auf die helfende Kraft der Gottheit sich in ihr Heiligtum begeben hat und dort – den Anweisungen der Priester folgend – das Kommen des kraftvollen Helfers spürt. Damit setzt die erbetene Heilung ein, die freilich zur Bedingung hat, dass der hilfsbedürftige Mensch zu den Eingeweihten gehört, die im Vertrauen auf die Gottheit den vorgeschriebenen Riten gehorsam folgen.
Hilfe lässt sich nach verbreiteter Überzeugung jedoch nicht nur durch Aufsuchen eines Heiligtums erhoffen, sondern kann auch mitten im Alltag zuteil werden, wenn sich Gelegenheit bietet, eine Helfergestalt um Beistand anzurufen. Folgt der angerufene Helfer der an ihn gerichteten Bitte und gelingt ihm deren Erfüllung, so gewinnt er entsprechendes Ansehen und Anerkennung für sein Wirken. So beschreibt Sueton, was Vespasian, der sich auf dem Weg nach Rom zur Übernahme der Herrschaft befand, in Alexandria widerfuhr:5
„Noch fehlte Vespasian das nötige Ansehen und gleichsam die von Gott bestätigte Majestät, da er wider Erwarten und erst seit kurzem zum Kaiser erhoben worden war. Aber auch dies wurde ihm zuteil. Zwei Männer aus dem Volke, der eine blind, der andere mit einem lahmen Bein, kamen miteinander zu ihm, als er auf seinem Tribunal saß, und baten ihn, zu ihrer Heilung zu tun, was ihnen Serapis im Traum gezeigt habe: Vespasian werde dem Blinden das Augenlicht wiedergeben, wenn er dessen Augen mit seinem Speichel benetzte, das Bein des Lahmen möge er mit seiner Ferse berühren. Da kaum eine Hoffnung bestand, dass die Sache irgendwie von Erfolg begleitet sein könnte, wollte der Kaiser nicht einmal einen Versuch wagen, auf Zureden seiner Freunde unterzog er sich endlich vor versammeltem Volke dem Experiment, und der Erfolg blieb nicht aus.“
Diese Geschichte schildert, welche Bedeutung eine Heilung Kranker auf der einen Seite für den Helfer selbst, auf der anderen aber für die betroffenen Menschen haben konnte. Verständlich ist zunächst das Zögern des angerufenen Vespasian. Doch dann lässt er sich auf das ihm angetragene Wagnis ein und bedient sich der Mittel, die nach verbreiteter Überzeugung Hilfe bewirken können: Bestreichen der Augen mit Speichel und Berührung des kranken Gliedes mit der Ferse. So kann heilende Kraft hinüberströmen und hier wie da Genesung bewirkt werden. Das versammelte Volk kann bezeugen, was geschehen ist. Dem Helfer aber wird entsprechend hohes Ansehen entgegengebracht und sein Charisma respektvoll anerkannt.
Auch in der breiten Fülle rabbinischer Traditionen finden sich Wundererzählungen, die davon handeln, wo und wie sich Staunen erregende Vorgänge zugetragen haben.6 Hierfür ein Beispiel:7
„Einst erkrankte der Sohn Rabbi Gamaliels und er sandte zwei Schriftgelehrte zu Rabbi Chanina ben Dosa, dass er für ihn um Erbarmen flehe. Als dieser sie sah, stieg er auf den Söller (= Dachboden) und flehte für ihn um Erbarmen. Beim Herabsteigen sprach er zu ihnen: Geht, das Fieber hat ihn verlassen. Sie sprachen zu ihm: Bist du denn ein Prophet? Er erwiderte: Weder bin ich ein Prophet, noch der Sohn eines Propheten; allein so ist es mir überliefert: Ist mir das Gebet im Munde geläufig, so weiß ich, daß es angenommen wurde. Wenn nicht, so weiß ich, daß es verworfen wurde. Hierauf ließen sie sich nieder und schrieben die Stunde genau auf, und als sie zu Rabbi Gamaliel kamen, sprach er zu ihnen: Bei Gott, weder habt ihr vermindert noch vermehrt; genau dann geschah es, in dieser Stunde verließ ihn das Fieber, und er bat uns um Wasser zum Trinken.“8
Der jüdische Charakter dieser Erzählung ist sogleich daran zu erkennen, dass Hilfe und Heilung durch frommes Gebet erhofft werden, das an den Gott Israels als den alleinigen Helfer gerichtet ist. Der Kranke, zu dessen Gunsten das Gebet gesprochen wird, befindet sich nicht am Ort. Daher erweist das Gebet durch die sogleich eingetretene Heilung seine wirksame Kraft. Diese wird von den Zeugen zum Abschluss dankbar bestätigt.
Ritus und Magie – kraftvolles Charisma – und inständiges Gebet sind mithin die Themen, denen Rettung und Heilung von Krankheit und Leiden zugeschrieben wird. Das sind Züge, wie sie sich gelegentlich auch in neutestamentlichen Wundergeschichten wiederfinden. Damit aber stellt sich die Aufgabe, in vergleichender Gegenüberstellung die charakteristischen Züge der Berichte über die Wundertaten Jesu aufzuweisen.
6.3 Der Evangelist Markus leitet seine Darstellung der öffentlichen Wirksamkeit Jesu mit den Worten ein, er habe mit dem Ruf begonnen, die Herrschaft Gottes sei nahe. Dass dieser Ruf sowohl die Verkündigung wie auch das Handeln Jesu beinhaltete, zeigt die nun folgende Beschreibung dessen, was Jesus in Wort und Tat proklamierte. Nach einem ersten Auftritt in der Synagoge von Kapernaum (Mk 1,23–28; s. u. S. 78f.) beruft Jesus seine ersten Jünger und kehrt mit ihnen in das Haus der Brüder Simon und Andreas ein. Dort liegt die Schwiegermutter des Simon (= Petrus) mit Fieber darnieder. Jesus reicht ihr die Hand, und sogleich verlässt sie das Fieber. Sie kann aufstehen und ihnen dienen. (Mk 1,29–31) Dieser überaus kurz gehaltene Bericht enthält gleichwohl alle Züge, die eine Heilungsgeschichte ausmachen. Die eingetretene Situation wird durch den Hinweis auf die Erkrankung der Schwiegermutter des Simon/Petrus angegeben. Die sogleich bewirkte Heilung geschieht durch Darreichung der Hand Jesu. Damit geht ein Kraftstrom auf die erkrankte Frau über, der die sofortige Genesung zur Folge hat. In antiken Wundergeschichten wird des Öfteren die Handauflegung bzw. Berührung mit der Hand als therapeutische Geste gewürdigt.9 „Wo Berührung geschieht, wird die Heilung durch Demonstration von Aktivität unter Beweis gestellt. Der Notzustand war vor allem Schwäche …, ein Mangel an belebender Kraft.“10 Was durch Jesu Handeln geschehen ist, wird mit dem kurzen Hinweis gesagt, dass die Frau aufstehen und den eingetretenen Gästen dienen kann.
Dieser auffallend kurze Bericht, der jedes unnütze Wort vermeidet, ist auf Grund der ihm eigenen Nüchternheit offensichtlich dem Geschehen selbst nahe, so dass man begründet annehmen kann, dass diese karge Erzählung dem historischen Geschehen nahe steht und dieses treffend darstellt.
In der Geschichte von der Heilung eines Aussätzigen ist gleichfalls vom Ausstrecken und Berühren mit der Hand berichtet. (Mk 1,40–45 Par.) Der Kranke geht auf Jesus zu und wendet sich an ihn mit der flehentlichen Bitte, er möge sich ihm helfend zuwenden. Jesus nimmt sich seiner an, streckt seine Hand aus und berührt den Kranken. Dabei spricht er das befehlende Wort: „Ich will’s tun, sei rein.“ (V. 41) Die Wirkung tritt auf der Stelle ein, der Mann wird von seinem Aussatz befreit und ist damit rein. Um Missverständnissen oder Missbrauch vorzubeugen, spricht Jesus ein Schweigegebot aus. Auch der Priester, der die Reinheit feststellen und bestätigen muss, soll von der Wundertat Jesu nicht erfahren. Erst nach dem Abschluss dieser klärenden Feststellung läuft das Geschehen einen anderen Weg. Jesu Schweigegebot wird nicht eingehalten, sondern allerorten wird die Geschichte bekannt gemacht, so dass Jesus sich in die Einsamkeit zurückziehen muss.
Die Erzählung weist deutlich palästi...