KAPITEL D – VERWALTUNGSHANDELN
Was Sie in diesem Kapitel lernen können
Die Tätigkeit der Sozialverwaltung, die Soziale Arbeit eingeschlossen, ist in ein Geflecht von Rechtsnormen eingebunden, die nicht nur ihre Aufgaben, sondern auch das Vorgehen bei der Aufgabenerfüllung regeln (den „Weg“). Neben der Bindung an verfassungsrechtliche Grundsätze geht es um verfahrensrechtliche Vorgaben wie die Pflicht zur eigenständigen Sachverhaltsklärung, die Pflicht, Antragsteller bei der Entscheidungsfindung zu beteiligen, Menschen vor belastenden Entscheidungen anzuhören, auf Verlangen Akteneinsicht zu gewähren, Bescheide zu begründen und bei alldem die Anforderungen des Datenschutzes zu beachten. Im Zentrum des Kapitels stehen Verwaltungsverfahren, die auf die Entscheidung über soziale Leistungen ausgerichtet sind.
1 RECHTSSTAATLICHE GRUNDSÄTZE DES VERWALTUNGSHANDELNS
Als Mitarbeiter/innen des Jugend-, Sozial- oder Gesundheitsamtes nehmen Sozialarbeiter/innen staatliche Aufgaben wahr und sind folglich wie der Staat insgesamt an die grundlegenden Prinzipien der Verfassungsordnung gebunden. Das die öffentliche Verwaltungstätigkeit am stärksten prägende Verfassungsprinzip ist das Rechtsstaatsprinzip.
Das Rechtsstaatsprinzip ist in Art. 1 und Art. 20 des Grundgesetzes besonders verankert.
Art. 1 III GG: Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht (Hervorhebung durch d. Verf.).
Art 20 III GG: Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet dazu, neben dem ‚einfachen Recht‘ (den einzelnen Gesetzen) immer auch die Grundrechte zu beachten (als „unmittelbar geltendes Recht“). Die Auslegung des einfachen Rechts darf nicht in einen Widerspruch zu Verfassungsrechten treten, sondern muss im Einklang mit den Grundrechten geschehen.
Vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsprinzips kann es in der Praxis der Sozialen Arbeit nicht um die Frage gehen, was dem einzelnen Mitarbeiter in einer konkreten Situation womöglich aus „erzieherischen Gründen“ sinnvoll erscheinen mag, wenn dieses Sinnvolle nach rechtlichen Erwägungen einen Verstoß gegen geltendes Recht darstellt. Ein Klient, der sich gegenüber dem Sozialarbeiter undankbar zeigt, dessen Unterstützung nicht zu würdigen weiß und wiederholt Termine versäumt, verliert nicht deshalb seinen Anspruch auf eine ihm zustehende Sozialleistung. Sofern es mit dem objektiv geltenden Recht unvereinbar ist, ist das subjektive Rechtsempfinden als Maßstab von Entscheidungen untauglich. Aus der rechtlichen Bindung ergibt sich zwingend die Verpflichtung, die für den Berufsvollzug bedeutsamen Rechtsnormen zu kennen und die Weiterentwicklung des Rechts kontinuierlich zur Kenntnis zu nehmen. Dies dient zugleich dem Selbstschutz, denn Teil des Rechtsstaatsprinzips ist die Rechtsweggarantie; diese räumt dem Bürger nach Art. 19 IV GG das Recht ein, sich gegen Rechtsverletzungen durch die öffentliche Verwaltung außergerichtlich und vor Gericht zu wehren.
Das Rechtsstaatsprinzip kommt in mehreren Grundsätzen zum Ausdruck:
• Grundsatz des Gesetzesvorrangs: Alle Handlungen, Entscheidungen und Rechtssetzungen der Verwaltung (→Rechtsverordnungen, Satzungen, Verwaltungsvorschriften als Innenrecht) müssen sich im Einklang mit den Gesetzen befinden („Kein Handeln gegen das Gesetz“). Dies gilt ebenso in positiver Hinsicht (die gesetzlichen Ziele positiv verfolgen) wie in negativer Hinsicht (Vermeidung von Gesetzesverstößen) (Maurer 2011, 123).
• Grundsatz des Gesetzesvorbehaltes: Entscheidungen einer Verwaltung erfordern insbesondere dann, wenn es um Eingriffe in die Rechte einer Person geht (z. B. die Inobhutnahme eines Kindes gegen den Willen der Eltern) eine Ermächtigungsgrundlage, die nur der Gesetzgeber selbst bereitstellen kann („Kein Handeln ohne Gesetz“). Auch Entscheidungen, die für die Grundrechtsverwirklichung von wesentlicher Bedeutung sind (z. B. die Versorgung im Pflegefall), muss der Gesetzgeber selbst treffen. Die Verwaltung darf von ihr erkannte Lücken bei den Ansprüchen des Einzelnen auf soziale Leistungen nicht eigenmächtig schließen: Rechte und Pflichten auf Sozialleistungen dürfen nach § 31 SGB I „nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt“. Der Verwaltung sind also die Hände gebunden, wenn der Gesetzgeber eine Leistung nicht vorgesehen hat oder den Leistungsrahmen bewusst beschränkt hat, weil er selbst die Kontrolle über die Ausgestaltung des Sozialstaates behalten will und die Gleichbehandlung der Bürger gewährleisten muss. Dabei geht es um Leistungsansprüche im Einzelfall. Keiner Kommune ist dagegen verwehrt, soziale Einrichtungen für ihre Bürger allgemein bereitzustellen oder durch Zuwendungen (Subventionen) Dritten hierfür Haushaltsmittel zur Verfügung zu stellen. Denn hierzu ist sie ebenso durch die Verfassung wie durch das Kommunalrecht legitimiert (→Kap. B).
• Grundsatz der Verhältnismäßigkeit („Übermaßverbot“): Eingriffe in die Rechte einer Person bedürfen nicht nur einer Gesetzesgrundlage, sondern müssen sich – falls Entscheidungsmöglichkeiten bestehen – am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientieren.
Die Verhältnismäßigkeit ist in drei Schritten zu prüfen:
1. Die von der Verwaltung vorgesehene Maßnahme muss für die jeweilige Zielerreichung geeignet sein.
2. Die Maßnahme muss notwendig sein. Kommen mehrere gleichermaßen geeignete Maßnahmen in Betracht, muss die Verwaltung diejenige auswählen, die den Bürger am wenigsten belastet (das mildeste geeignete Mittel; Belastung nur im notwendigen Umfang).
3. Die zu ergreifende Maßnahme muss angemessen sein. Die Verwaltung muss dazu eine Abwägung vornehmen zwischen der Schwere des in Betracht kommenden Eingriffs (Belastung des Betroffenen) und der Gewichtigkeit des von ihr verfolgten Ziels. Wiegt das Interesse des Belasteten ersichtlich schwerer als das öffentliche Interesse, ist die Durchsetzung der Verwaltungsentscheidung nicht angemessen oder zumutbar. Eine Maßnahme, die zur Zielerreichung weder geeignet noch erforderlich ist, ist grundsätzlich nicht angemessen und zumutbar.
Beispiel:
Die alkoholabhängige Frau M. gefährdet durch ihre wiederholte Trunkenheit das Wohl ihrer beiden Kinder. Eine Unterbringung der Kinder in einer Pflegefamilie wäre geeignet und notwendig, um die Kindeswohlgefährdung mit absoluter Sicherheit auszuschließen. Fraglich ist jedoch die Angemessenheit einer solchen Entscheidung. Denn trotz der gelegentlichen Ausfälle von Frau M. besteht zwischen Mutter und Kindern eine intensive emotionale Bindung. Diese würde durch die Unterbringung gefährdet. Möglicherweise würde der Eingriff das Alkoholproblem von Frau M. sogar verschärfen, sodass eine spätere Rückführung der Kinder kaum noch in Betracht kommt. Bei der Abwägung zwischen absolutem Schutz und Erhalt der persönlichen Bindungen kommt das Jugendamt zu dem Schluss, dass ein Eingriff in das Sorgerecht mit Fremdunterbringung der Kinder nicht angemessen wäre (Belastungen überwiegen, mehr Schaden als Nutzen). Das Jugendamt macht deshalb Abstriche bei seinem Hilfekonzept und akzeptiert bis auf weiteres, dass die befreundete Nachbarin sich um die Kinder kümmert, wenn Frau M. ihre Elternrolle kurzzeitig nicht wahrnehmen kann. Die Einschaltung des Gerichts unterbleibt deshalb vorerst. Frau M. soll zu einer therapeutischen Behandlung motiviert werden.
§ 1666a BGB Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Vorrang öffentlicher Hilfen
1. Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. […]
2. Die gesamte Personensorge darf nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder wenn anzunehmen ist, dass sie zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen.
• Grundsatz der Gleichbehandlung: Art. 3 I GG bestimmt, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Dieses Grundrecht bindet die öffentliche Verwaltung unmittelbar (Art. 1 III GG, siehe oben); es zwingt sie, ihre Entscheidungen ohne Ansehen der Person zu treffen. Gleiches ist gleich zu behandeln, Ungleiches ist entsprechend seiner Eigenart ungleich zu behandeln. Dadurch sollen willkürliche Entscheidungen ausgeschlossen werden.
In der Verwaltungspraxis ist dieses Verfassungsgebot nicht immer verwirklicht, zumal die von Ungleichbehandlung Betroffenen ihre Benachteiligung nicht immer erkennen können und mit der Durchsetzung ihrer Rechte aus unterschiedlichen Gründen überfordert sind. Ungleichbehandlungsfallen lauern überall, u. a. in Bezug auf das Geschlecht, die Nationalität, die Glaubenszugehörigkeit, den soziokulturellen Status, das persönliche Erscheinungsbild und das situative Auftreten (z. B. höflich fragend oder laut und fordernd). Auch Angst vor Klienten oder die Antizipation von rechtlichem oder dienstlichem ‚Ärger‘ kann Ungleichbehandlungen begünstigen.
Der Gleichbehandlungsgrundsatz gilt nicht im Unrecht. Erhält A. eine Leistung zu Unrecht, hat B. keinen Anspruch auf Gleichbehandlung.
• Grundsatz des Vertrauensschutzes: Der Bürger soll grundsätzlich darauf vertrauen können, dass die Entscheidungen einer öffentlichen Verwaltung Bestand haben und ihm eine verlässliche Handlungsgrundlage bieten.
Beispiel:
Träger X. hat einen Zuwendungsbescheid des Sozialamtes über 150.000 Euro erhalten und daraufhin Arbeitsverträge mit zwei sozialpädagogischen Fachkräften geschlossen. Außerdem hat er einen Mietvertrag verlängert. Er hat bei Vertragsschluss selbstredend darauf vertraut, dass die Kommune sich an ihre Finanzierungszusage gebunden fühlt. Ohne dieses Vertrauen könnte er überhaupt keine Verträge schließen. Damit könnte aber auch die geplante Maßnahme nicht stattfinden.
Das Vertrauensschutzprinzip folgt nach Maurer (2011, 22 und 302 ff.) aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem sich daraus ergebenden Grundsatz der Rechtssicherheit sowie aus den Grundrechten. Für das Handeln der Sozialverwaltung spielt der Vertrauensschutz z. B. dann eine Rolle, wenn sie dem einzelnen Bürger eine Geldleistung gewährt hat, auf die er keinen Anspruch hatte. Hier stellt sich regelmäßig die Frage nach der Rückforderbarkeit der Leistung. Durch die Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz kann es nicht unbedeutend sein, ob eine Leistungsgewährung rechtmäßig oder rechtswidrig ist; andererseits soll der Bürger darauf vertrauen können, dass die Entscheidungen der Verwaltung rechtmäßig sind und nicht sang- und klanglos zu seinen Lasten rückabgewickelt werden (→D-5).
2 VERFAHRENSRECHTLICHE ANFORDERUNGEN
2.1 Verwaltungsverfahren
Das Handeln der Sozialverwaltung (die behördliche Soziale Arbeit eingeschlossen) wird wie das Handeln der Verwaltung insgesamt durch ein Geflecht verfahrensrechtlicher Vorgaben flankiert. Im Unterschied zum „Was“ (dem inhaltlichen Gegenstand des Verwaltungshandelns) geht es im Verfahrensrecht um das „Wie“ des Vorgehens, d. h. die Rechte und Pflichten der Verwaltung bei ihrer Entscheidungstätigkeit. Da...