Kinderstärken – Kinder stärken: Pädagogische, soziologische und psychologische Zugänge zu einer »starken Idee«
Petra Büker
1 Kinderstärken – Kinder stärken: Einleitende Bemerkungen
Kinder haben Stärken, und diese gilt es zu stärken: Eine attraktive Vorstellung, die das Potenzial hat, zum Berufscredo für Pädagoginnen und Pädagogen bzw. zum Erziehungsideal von Eltern zu werden. Bereits der Säugling ist neugierig und will sich und seine Umwelt aktiv erschließen, begreifen und verstehen. Junge Kinder gestalten ihre Kindheit mit und verfügen nach aktuellem Wissensstand über enorme Selbstbildungspotenziale, die bestimmten Eigenlogiken folgen. Eltern, Geschwister, Peers, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer sind wichtige Mitakteure, die das Kind bei der Entwicklung und Gestaltung seiner Bildungsprozesse begleiten, unterstützen und stärken können. Auch ich selbst bin nach langjähriger schulpraktischer Erfahrung sowie über die wissenschaftliche Beschäftigung mit Kindern und ihren Bildungsprozessen überzeugte Vertreterin eines ressourcenorientierten Blickes auf Kinder und Kindheiten. Allerdings verweisen gerade meine qualitativ orientierten Praxisforschungsstudien in Grundschule, Kindertageseinrichtung und Bildungshaus darauf, dass aus Sicht der befragten Akteure häufig große Diskrepanzen zwischen ambitionierten pädagogischen Zielen und der täglichen Handlungspraxis wahrgenommen werden und dass (vermeintlich) stärkende Praktiken von den adressierten Kindern selbst als unangenehm oder unpassend gewertet werden (vgl. Büker, 2011, Kordulla & Büker, 2015). Kinderstärken – Kinder stärken: Das, was so bestechend einfach und plausibel klingt, und gerade deshalb anfällig für programmatische Verkürzungen ist, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als außerordentlich komplex, frag-würdig bis widersprüchlich und als ausgesprochen voraussetzungsreich. Kinderstärken: Welche als »Stärken« gewerteten Ressourcen sind dies? Wer (oder welche Instanz) besitzt die Definitionsmacht über das, was zur Kategorie »Stärken« zählt? Unter welchen Bedingungen können Kinder diese entwickeln und entfalten? Welche Faktoren und Lebensumstände wirken dabei förderlich, welche hinderlich? Auf welcher wissenschaftlichen Grundlage, auf welchem Gesellschaftsbild und auf welchem professionellen Rollenverständnis beruhen Maßnahmen zur »Stärkung« kindlicher Ressourcen? Welche Rolle spielt dabei die jeweilige Interpretation des theoretischen Axioms der Kindorientierung? Wie werden die auf die Stärken der Kinder abgestimmten Praktiken von den Kindern selbst empfunden? Wer profitiert von Förder- und Unterstützungsmaßnahmen, wer nicht?
All dies sind Fragen, deren Untersuchung und Diskussion sich die Buchreihe »KinderStärken« zur Aufgabe gemacht hat. Der Leitgedanke »Kinderstärken – Kinder stärken« bildet damit die zentrale Arbeitshypothese, die es über die Lebensspanne von der Geburt bis zum Übergang in die weiterführende Schule zu prüfen gilt. Dabei werden die Annahmen des (sich selbst bildenden) »kompetenten Kindes« und der »Kompetenz des es umgebenden sozialen Systems« (Familie, Institutionen und Peers als Ko-Konstrukteure) zusammengedacht.
Der hier vorliegende Basisband bildet den Auftakt der zehnbändigen Reihe. Der Einführungsbeitrag der Herausgeberin dient der thematischen »Vermessung des Feldes« und der breiten theoretischen Fundierung der Leitidee »KinderStärken«. Grundsätzlich kann diese facettenreiche Thematik aus vielen verschiedenen Disziplinen und Perspektiven heraus betrachtet werden (historisch, philosophisch, anthropologisch, bildungspolitisch, wohlfahrtsstaatlich, kulturvergleichend …). Mit Blick auf die Schwerpunktsetzung der Reihe soll hier eine Fokussierung auf die pädagogischen, soziologischen sowie entwicklungs- und lernpsychologischen Diskurse erfolgen. Zentrale Begriffe wie Kompetenz, Ko-Konstruktivismus, Bildung, Resilienz usw. werden in ihrer Klärungsbedürftigkeit angesprochen und in den Zusammenhang ausgewählter Theorien und Konzepte für den Vor- und Grundschulbereich gestellt. Ziel dieses Einführungsbeitrages ist es, einen grundlegenden Fragehorizont zu eröffnen, in dessen Kontext die weiteren Bände der Reihe diskutiert werden können. Dieser Intention entsprechen auch die neun Einzelbeiträge des hier vorliegenden Basisbandes. Sie wurden von den jeweiligen Autorinnen und Autoren, welche für einzelne Themenbände verantwortlich sind, in Form eines fokussierten Problemaufrisses verfasst. Eine Übersicht der Beiträge zu diesem Band findet sich in Kap. 6 dieses Einführungsbeitrages. Die Konzeption der Reihe zeichnet sich durch eine Orientierung an der Chronologie der kindlichen Bildungsbiografie von der Geburt bis zur beginnenden Jugendphase aus. Begrifflich wird dabei unterschieden zwischen Frühpädagogik als Oberbegriff für die Frühe Bildung der Kinder bis zum Schuleintritt, Elementarpädagogik als speziell auf die Institution der Kindertageseinrichtung und Grundschul- respektive Primarstufenpädagogik als auf die Institution Schule bezogene Erziehung und Bildung. Sechs Bände (siehe die Übersicht auf Seite 2) greifen über einen chronologischen Zugang wichtige Meilensteine des Entwicklungs-, Lern- und Sozialisationsprozesses des Kindes auf, während drei Bände aktuellen Querschnittsthemen gewidmet sind. Gemäß des »doppelten Blicks« der Reihe fokussiert jeder Band die »Kinderstärken« in ihrer Vielgestaltigkeit, untersucht auf dieser Basis professionelle Möglichkeiten der Förderung in Sinne einer »kinderstärkenden Pädagogik« und hinterfragt diese kritisch hinsichtlich ihrer Chancen, Grenzen und möglichen »Nebeneffekte« für die adressierten Akteure. So werden auch die Risiken für Forschung und Praxis dezidiert in den Blick genommen, insbesondere die Gefahr der Überforderung der Kinder durch Verabsolutierung des Paradigmas KinderStärken sowie das Problem der verkürzten Rezeption desselben.
Petra Völkel beginnt mit einer entwicklungspsychologisch fokussierten Betrachtung der Idee »Kinderstärken – Kinder stärken« für die Jüngsten, d. h. für die Kinder von der Geburt bis zum Alter von drei Jahren (Band 2 dieser Reihe). Renate Niesel und Wilfried Griebel widmen ihren nachfolgenden Band 3 dem ersten Übergang von der Familie in die KiTa. Dagmar Kasüschke untersucht die Frage einer kinderstärkenden Pädagogik in institutionellen Kindertageseinrichtungen (Band 4 dieser Reihe), während Petra Hanke und Melanie Eckerth den zweiten Übergang von der KiTa in die Grundschule in den Blick nehmen (Band 5 dieser Reihe). Susanne Miller und Katrin Velten diskutieren die doppelte Perspektive »Kinderstärken – Kinder stärken« für die Grundschulzeit des Kindes (Band 6 dieser Reihe). Die nachfolgenden drei Bände widmen sich den im Bereich der Frühen Bildung und der Grundschulpädagogik gegenwärtig intensiv und auch kontrovers diskutierten Querschnittsthemen der Beobachtung, Dokumentation und Rückmeldung von Bildungsprozessen (diesem widmen sich Julia Höke, Agnes Kordulla und Petra Büker in Band 7 der Reihe), des Umgangs mit Mehrsprachigkeit (welches von Charlotte Röhner und Kathrin König in Band 8 zur Diskussion gestellt wird) und des Aufwachsens in multikulturellen, pluralen Lebenswelten (dem sich Birgit Hüpping und Petra Büker in Band 9 annehmen). Den »Schlussakkord« setzt Katja Koch mit der Frage nach kindlichen Ressourcen sowie nach Möglichkeiten einer stärkenorientierten Begleitung für den dritten, hoch selektiven Übergang von der Grundschule in das System der Sekundarstufe 1 (Band 10 dieser Reihe). Alle Bände sind so konzipiert, dass sie Brücken schlagen zwischen Theorie, Empirie und Praxis. Dabei kommen interdisziplinäre Betrachtungen ins Spiel; der Hauptfokus liegt allerdings auf einer pädagogischen Perspektive. In diesem Sinne orientiert sich die Reihe an den Lesebedürfnissen des »reflektierten Praktikers« sowie des »praxisnahen Theoretikers« und möchte Akteurinnen und Akteure eines großen Adressatenkreises aus Frühpädagogik sowie Elementar-, Grundschul- und Förderschulpädagogik ansprechen sowie zur Diskussion anregen. Insbesondere möchte die Reihe für die Notwendigkeit der differenzierten Betrachtung des Ansatzes KinderStärken sensibilisieren, auf potenzielle Gelingensbedingungen desselben aufmerksam machen und dadurch zur fundierten Innovation des Paradigmas des »kompetenten Kindes« beitragen.
2 Kinderstärken – eine Idealvorstellung? Interdisziplinäre Perspektiven auf Kinder und Kindheiten
Die Annahme des kompetenten Kindes ist in zahlreichen Disziplinen prominent geworden. Für den pädagogischen Diskurs sind die Einflüsse aus der Soziologie und der Psychologie besonders bedeutsam, weshalb deren Beiträge im Folgenden fokussiert werden. Selbstverständlich können hier nur sehr grobe Diskussionslinien angeführt werden – eine vertiefende Betrachtung findet in den einzelnen Themenbänden statt.
2.1 Das Bild vom Kind in der soziologischen Kindheitsforschung
Soziologische Perspektiven auf Kinder und Kindheiten setzen dort an, wo diese ein gesellschaftliches Thema werden. In dieser Hinsicht sind sie zum einen eng mit der Beobachtung des gesellschaftlichen Wandels und zum anderen mit der Relationalisierung von Kindsein und Erwachsensein verknüpft (vgl. Honig, 2009a, S. 30). Sowohl gesellschaftliche Modernisierungsprozesse als auch die Entdeckung und Bestimmung der großen kulturellen Unterschiede innerhalb der generationalen Ordnung von Kindern und Erwachsenen haben zur Anerkennung und Markierung von »Kindheit« als eigenständiger Lebensphase geführt.
Den Hauptakteuren der »Kindheit« als gesellschaftlicher Strukturkategorie wurde in der klassischen Soziologie der Status von »Werdenden« zugesprochen: Im Mittelpunkt etablierter Sozialisationstheorien steht die Frage, wie aus Kindern, die noch nicht umfänglich zur gesellschaftlichen Teilhabe in der Lage sind, voll handlungs- und verantwortungsfähige, erwachsene Gesellschaftsmitglieder werden und welche Einflüsse die sie umgebenden Kontexte in diesem Prozess ausüben (vgl. Thole, Göbel & Milbradt, 2013, S. 27). Dem entsprechend dominierte in der klassischen Soziologie ein defizitorientiertes Bild vom (passiven) Kind, welches durch gesellschaftsfähige, kompetente Erwachsene sozialisiert wird. Dieser Sichtweise wird in den letzten zwei Jahrzehnten von Seiten der »neuen« oder sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung, den sogenannten »new childhood studies«, entschieden widersprochen (vgl. Honig, 2009b; vgl. Heinzel, Kränzl-Nagel & Mierendorff, 2012). So werden insbesondere die Annahmen der Kontrollierbarkeit und direkten Steuerbarkeit von Kindern und Kindheit in Frage gestellt: »Modelle der Selbstkonstitution, der Selbstbildung und der Selbstorganisation von Kindern sowie der komplexen und eigensinnigen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Entstehungsbedingungen von Kindheit« (Heinzel, Kränzl-Nagel & Mierendorff, 2012, S. 12) bilden seitdem wichtige theoretische Ausgangspunkte einer sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung, aber auch einer neuen Pädagogik und Didaktik für den Elementar- und Primarbereich (vgl. Kap. 2.3).
Kerngedanke des Gegenkonzeptes zum »Kind als Entwicklungswesen« wurde die Konstruktion des »Kindes als sozialer Akteur« (vgl. Heinzel, Kränzl-Nagel & Mierendorff, 2012, S. 13; Lange, 1995). Insbesondere inspiriert durch angelsächsische Forschungszugänge (James & Prout, 1990; James, Jenks & Prout 1998) bewegt sich die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung aktuell weniger in geschlossenen Theoriegebäuden, sondern sucht ihre Fragestellungen empiriebasiert zu klären. Im Mittelpunkt akteursbezogener »Childhood Studies« steht die Frage nach der kindlichen »Agency«, die als vielschichtiger Begriff häufig mit »Handlungsfähigkeit«, »Handlungsmächtigkeit« oder auch »Wirkmächtigkeit« übersetzt wird (vgl. Helfferich, 2012, S. 10f). Inwieweit Kinder in der Lage sind (oder in die Lage versetzt werden), ihre eigenen, von der Vordefinition durch andere Akteure unabhängigen Bedürfnisse und Handlungslinien zu realisieren (vgl. Bühler-Niederberger, 2011, S. 202), bildet ein noch weitgehend unerschlossenes Forschungsfeld der modernen Kindheitssoziologie. Auch die Verbindung der Konzepte des generationalen Ordnens und der kindlichen Handlungspraxen steht noch aus (vgl. ebd., S. 200; Honig 2009a). Dies ist umso wichtiger, als davon auszugehen ist, dass die durch Erwachsene dominierte und daher durch asymmetrische Machtverhältnisse bestimmte generationale Ordnung maßgeblich den Grad der Akteurschaft der Kinder bestimmt. So gewähren Eltern, Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrkräfte unterschiedlich große Freiräume, innerhalb derer ein Kind sanktionsfrei selbstbestimmt agieren darf. Innerhalb dieser Settings sind Art und Grad des Eingreifens Erwachsener in das kindliche Handeln sowie die räumlichen und materiellen Bedingungen entscheidend für die Ausübung zielgerichteter Handlungen (Agency) durch Kinder (vgl. Moran-Ellis, 2014).
Sehr bedeutsam ist in diesem Kontext das durch viele Studien bestätigte Phänomen der Einfügung der Kinder in die jeweils herrschende soziale Ordnung: Durch ihr kompetentes und den jeweiligen Kontexten flexibel angepasstes soziales Handeln halten Kinder familiäre, in Orten inszenierter Sozialisation (wie KiTa und Grundschule) und in weiteren Netzwerken geschaffene Ordnungen aufrecht (und internalisieren diese). So ist beispielsweise immer wieder zu beobachten, dass Kinder, die umzugsbedingt mehrere KiTa- oder Schulwechsel vollziehen und/oder Veränderungen in der Familienkonstellation erleben, mit hoher Versiertheit große Anpassungsleistungen vollbringen. Diese »Komplizenschaft« mit den durch Erwachsene festgelegten Ordnungen (Bühler-Niederberger, 2011) führt nicht selten zu dem Schluss, Kinder seien »soziale Alleskönner« – eine hoch problematische Annahme, die allzu leicht zur Überforderung des Kindes führen kann, etwa wenn Kinder innerhalb der Familie den fehlenden Lebenspartner »ersetzen« sollen, wenn die Erwartung besteht, dass sie auf häufige Partnerwechsel von Mutter oder Vater flexibel und mit positivem Bindungsverhalten reagieren sollen oder wenn Kinder sich in ständig wechselnde Gruppenkonstellationen beispielsweise bei der schulischen Hausaufgabenbetreuung einfügen sollen. Gründe für die beobachtbare gefügige Kooperation sind in den genuinen Machtverhältnissen der generationalen Ordnung zu finden: Kinder sind emotional, materiell und juristisch von Erwachsenen abhängig und in dieser Position besonders verletzbar. Insbesondere die emotionale Abhängigkeit schränkt Bühler-Niederberger (2011) zu Folge Agency ein, denn das Kind muss stets befürchten, dass ihm bei Nicht-Erfüllung der an es gerichteten Erwartungen die Zuneigung, Zuwendung und Anerkennung des Kollektivs verloren gehen könnte. Mit Wissen um eine »bessere« Position in der Zukunft steigen Jugendliche in der Pubertät schrittweise aus dieser gefügigen Komplizenschaft aus (vgl. ebd.). Interessant sind in diesem Zusammenhang Befunde aus kindheitssoziologischen Studien, die zeigen, dass bereits Kindergartenkinder bewusst und sehr geschickt zwischen verschiedenen sozialen Ordnungen navigieren, indem sie etwa in Streitsituationen im Beisein der Erzieherin deren Intervention zur Herstellung von Gruppenharmonie folgen, allerdings nach deren Verlassen des Raumes in der Peer-Group ganz andere Ansätze der (Wieder-)Herstellung der Gruppenordnung realisieren (vgl. im Überblick Moran-Ellis, 2014).
Allerdings wirken im Zeitalter der Demokratisierung und Liberalisierung familialer und institutioneller Beziehungsverhältnisse durchaus auch Kinder mit ihrer Agency auf das Handeln Erwachsener ein. Im Rahmen neuer Modelle wie dem der »Verhandlungsfamilie« dürfen und sollen Kinder ihre eigenen Bedürfnisse darstellen, eigene Meinungen entwickeln und nach Lösungen suchen. Auch in aktuellen pädagogischen Konzepten von KiTas und Grundschulen werden dem Kind mehr Mitspracherechte, Partizipation und Autonomie zugestanden; zugleich werden Verhandlungs- und Beteiligungskompetenzen aber auch erwartet (vgl. Kap. 2.3). Die Machtkonstellationen der generationalen Ordnung sind nicht aufgehoben, haben sich allerdings (zumindest vordergründig) zu Gunsten der Kinder verschoben und sind subtiler sowie intr...