TEIL II
BEITRÄGE ZU DEN KÜNSTLERISCHEN UND MEDIALEN SCHWERPUNKTEN
1 VERFAHREN DER BILDENDEN KUNST IN DER SOZIALEN ARBEIT – VERDEUTLICHT AM BEISPIEL DER EINZELARBEIT MIT KINDERN
Mona-Sabine Meis
Was Sie in diesem Kapitel lernen können
Die Bildende Kunst stellt eine Bandbreite von Verfahren für die Soziale Arbeit zur Verfügung, die von voraussetzungsarm bis sehr anspruchsvoll reicht. Grundsätzlich unterschieden wird dabei in experimentelle, forschende und spielerische Ansätze auf der einen Seite sowie in die stärker künstlerisch-gestaltenden und symbolbildenden auf der anderen. Dieser Beitrag vermittelt Verständnis und Begründungen für die künstlerisch orientierte Soziale Arbeit. Grundlegende Methoden und vielfältige, alltagstaugliche Anregungen werden bereitgestellt, die mit allen Zielgruppen bereichernd eingesetzt werden können. Der Schwerpunkt liegt im zweiten Teil auf der Arbeit mit (Klein-)Kindern, die sich die Welt vor allem ästhetisch, also mit allen Sinnen, erschließen und für die das künstlerisch-ästhetische Arbeiten daher von besonderer Bedeutung ist. Zur Veranschaulichtung werden konkrete Beispiele aus der Praxis vorgestellt und erläutert. Zu Grunde liegt ihnen die in ihren verschiedenen Facetten vorgestellte Werkstattmethode – auf den Alltag zugeschnitten mit einem mobilen „Kunst-Koffer“.
1.1 Funktion und Bedeutung von Bildender Kunst in der Sozialen Arbeit
Häufig äußern Studierende, dass sie nicht zeichnen oder malen können, und daher gegenüber dem Medium Bildende Kunst Bedenken hätten. Dies zeigt, wie sehr künstlerische Verfahren in unserer Gesellschaft mit formal-ästhetischen Ansprüchen, mit gegenständlichen Darstellungen, Können und Leistung verknüpft sind. Es geht jedoch zunächst nicht um Können, sondern um Ausprobieren, Forschen, Entdecken und mutig sein, es geht um individuelle symbolische Lösungen und Strukturen, um Interaktion, Kommunikation, Lachen und Freude. Auch die meisten Klient/innen haben keine künstlerische Vorbildung und oft auch keine große Begabung, aber auch das ist unerheblich, weil die Produktion renommierter (Museums-)Kunst nicht das Ziel des künstlerischen Schaffens in der Sozialen Arbeit ist. Gut ist grundsätzlich erst einmal, was sich zeigt. Manchmal entstehen sogar großartige, künstlerisch anspruchsvolle Werke, teilweise erhalten sie als „Outsider-Art“ sogar internationale Wertschätzung. Dies ist natürlich gerne gesehen und erfreulich, bleibt aber die Ausnahme, an der die Arbeit nicht gemessen wird. Trotz der verbreiteten Leistungs- und Versagensängste gehören künstlerische Aktivitäten zu unserem Alltag. Jeder Mensch beherrscht die kreative „Bild-Sprache“ im Traum und gezeichnet wird in den unterschiedlichsten Zusammenhängen: Den ersten „Schmierbildern“ von Kleinstkindern folgen die frühen Kritzelzeichnungen. Im Kinder- und Jugendalter werden die künstlerischen Äußerungen meist gegenständlich und oftmals in Form von Mangas, Comics und Tags standardisiert. Später werden die Aktivitäten als Kritzelzeichnungen, oft beispielsweise am Telefon fortgeführt. Manch einer gestaltet kunstvolle Wegbeschreibungen, Merkzettel oder auch mit Blümchen und Herzchen verzierte Einkaufslisten. Hinzu kommen jahreszeitliche Dekorationen und private Fotografien. An unseren Wänden hängen selbstgemalte oder gekaufte Bilder, und auf Fensterbänken und in Regalen stehen kleine Objekte. Im Freizeitbereich gibt es ein ständig wachsendes Angebot an Aktivitäten und Kursen im Bereich der Malerei, des Plastizierens und weiterer Schwerpunkte der Bildenden Kunst für alle möglichen Alters- und Zielgruppen. Und der große Bereich der sogenannten Outsider Art/Art Brut, meist von Menschen mit psychischen Erkrankungen und/oder geistiger Behinderung geschaffen, erfährt mittlerweile internationale Anerkennung (Menzen 2009; Weltenwandler 2011). Kunst umgibt uns überall: im öffentlichen Raum, in der Arbeitswelt und in der privaten Umgebung. Von den frühen Höhlenmalereien bis zu den heutigen digitalen künstlerischen Ausdrucksformen begleitet die bildliche Gestaltung die Menschheit als anthropologische Konstante.
In der einschlägigen Literatur werden unterschiedliche Funktionen der Bildenden Kunst herausgearbeitet, die in der Sozialen Arbeit von Bedeutung sein können. Auch wenn die zugeschriebene Wirksamkeit nicht immer wissenschaftlich eindeutig belegt ist, gibt es umfangreiche und vielfältige fundierte Publikationen zur Funktion, Anwendungsmöglichkeit und Wirkung der Bildenden Kunst bis hin zu den neueren Bereichen der neurobiologischen Bedeutungen (vgl. Hampe et al. 2009). Bevor die für die Soziale Arbeit zentralen Aspekte ausgeführt werden, soll die folgende Übersicht daher die mögliche Vielfalt verdeutlichen:
• Befriedigung kultureller und ästhetischer Bedürfnisse (vgl. Winnicott 2010),
• Biografiearbeit und Erinnerung (vgl. Schulze 2006; Ganß 2012/2016; Hölzle/Jansen 2011),
• Veränderung von Atmosphäre und Stimmung (vgl. Böhme 2007), Wohlbefinden,
• Stifterin von Anregungen und Bildungsimpulsen (vgl. Mollenhauer 1996; Kahlert/Lieber/Binder 2006; Niehoff/Wenrich 2007),
• Unterstützung von Identifizierung und Identitätsbildung (vgl. Kirchner 2006; Kirchner et al. 2006),
• Spuren und Selbstzeugnisse legen (Ganß 2012/2016; Stern 2008; Stritzker/Peez/Kirchner 2011; Wittmann 2009),
• Halt geben, Trost spenden und beruhigen (vgl. Wichelhaus 2000; Block/Meis 2004; Ganß 2012/2016),
• Erstarrungen verflüssigen (vgl. Eberhart/Knill 2010),
• heilsame Resonanzen und Resilienz fördern (vgl. Titze 2008),
• Heilen (vgl. Dannecker 2017; Franzen 2009), Kunst als Medizin (vgl. Wichelhaus 2000), Kompensation und Hilfe bei psychischen Erkrankungen (vgl. Weltenwandler 2011; Spreti/Martius/Förstl 2005; Kramer 2018; Kraus 2007),
• Unbewusstes und Vorsprachliches nach außen bringen und bearbeitbar machen (vgl. Rubin 2005; Baukus/Thies 1997; Dannecker 2017),
• Kommunikation (vgl. Rubin 2005; Schottenloher 1994),
• Hilfen bei Sprach- und Leseproblemen (beispielsweise auch bei Analphabeten, Migrantinnen, Menschen mit Behinderungen) (vgl. Weltenwandler 2011),
• Sozialraumforschung und -arbeit (vgl. Deinet 2012),
• Geschichten erzählen oder im Kopf des Betrachters in Gang setzen (vgl. Hoffmann 1998),
• Kunst statt Strafe bei Straffälligen (vgl. Hüser-Granzow 2007),
• Ganzheitlichkeit fördern, Einbeziehung aller Sinne (vgl. Böhme 2007),
• Aktivierung durch Selbsttätigkeit im künstlerischen Prozess (Schorer 2002),
• Gestaltung des eigenen Lebens und der Gesellschaft im Sinne der Beuysschen Sozialen Plastik (vgl. Buschkühle 1997)
und
• Dokumentation, Information, Kommunikation und Reflexion zu unterschiedlichen Themen,
• Schmuck und Dekoration (u. a. diverse Literatur zu – jahreszeitlichem – Basteln).
1.2 Bildende Kunst im Kontext der Sozialen Arbeit
Die Bildende Kunst existiert im 21. Jahrhundert in einer unüberschaubaren Variationsbreite: Dominante Stile, vorherrschende Themen und Eingrenzungen auf Verfahren und Techniken gibt es nicht mehr. Auch wenn es mit der Ausweitung des Kunstbegriffs im 20. und 21. Jahrhundert zunehmend Überschneidungen mit den performativen Künsten und digitalen Verfahren gibt, sollen diese im vorliegenden Kunst-Beitrag nicht weiter thematisiert werden; sie werden in den anderen Beiträgen dieses Buches behandelt. Im Folgenden liegt der Schwerpunkt zur Abgrenzung auf den Verfahren und Werken, die neben ihrem ideellen und visuellen Charakter starke Bezüge zu Materialien, Haptik, Körper und Raum aufweisen.
In der Sozialen Arbeit stehen die Klient/innen im Mittelpunkt. Das bedeutet: Anders als in der Kunstpädagogik dient der Umgang mit Bildern und der Bildenden Kunst in der Sozialen Arbeit nicht primär der Hinführung zu Kunst und Kultur. Vielmehr wird die Kunst für die unterschiedlichen Ziele der Sozialen Arbeit genutzt oder – wie es auch die künstlerischen Puristen teilweise abwertend nennen – instrumentalisiert. Erfahrungen, Verfahren und Methoden der ebenfalls mit Kunst befassten wissenschaftlichen Disziplinen Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte werden dabei für die Soziale Arbeit fruchtbar gemacht.
Im Unterschied zu diesen teilweise stark sach- und zielorientierten Ansätzen spielen in der Sozialen Arbeit jedoch vor allem diejenigen künstlerischen Ansätze und Verfahren eine Rolle, die von den individuellen und sozialen Bedürfnissen und Voraussetzungen der Klient/innen ausgehen und sodann aktivierend, unterstützend und dialogisch ihren Prozess begleiten. Dazu bieten sich besonders künstlerische Methoden und Verfahren aus den Bereichen der Kunstpädagogik, der Kunsttherapie und dem Werken an. Aber auch die Sozial-, Heil-, Erlebnis- und Spielpädagogik sowie die allgemeine Pädagogik, die Psychologie, Philosophie, Sozial- und Kommunikationswissenschaften sowie die Anthropologie können wichtige Impulse für eine klientenorientierte künstlerische Arbeit bieten.
1.2.1 Auswahlkriterien für Kunstwerke und künstlerische Verfahren
Für die Soziale Arbeit sind vor allem jene (Kunst-)Werke von Interesse, die ein ganzheitliches Verständnis für relevante und individuelle Themen wie Angst, Freude, Trauer, Einsamkeit, Migration, Glück oder Tod vermitteln – um nur einige wenige zu nennen.
Von den künstlerischen Verfahren werden diejenigen bevorzugt eingesetzt, die die Klient/innen aktivieren und fördern, ausgleichend wirken und einen ganzheitlichen Zugang zu sich selbst und der Welt eröffnen helfen. Dies sind vor allem experimentelle, forschende und gestaltende Verfahren, die erlebnis- und erfahrungsorientiert angelegt werden. Sie zielen auf einen Zuwachs an Erkenntnissen, Wissen und Fertigkeiten bei der Auseinandersetzung mit den Materialien, Formen, Farben und Themen – und mit sich selbst (vgl. Blohm et al. 2005). Der jeweilige Lernzuwachs kann dabei sowohl das künstlerische Material, seine Eigenschaften und Wirkungen als auch die eigene Person betreffen (Welche Gesetzmäßigkeiten des Materials finde ich heraus? Welche Wirkungen können erzielt werden? Wie? Was gefällt mir/nicht? Was möchte ich/nicht? Was wird ausgelöst, wenn ich mit Ton arbeite? Erinnerungen, Beruhigung, Ausgleich, Anregung durch künstlerisches Arbeiten? Warum male ich mich immer so klein?)
Die künstlerischen Verfahren dienen also der Identitätsbildung und Persönlichkeitsentwicklung im Sinne von Empowerment und Selbstermächtigung. Es geht um
• Aktivierung eigener Ressourcen,
• Interesse, Neugier, Wissbegier,
• Aktivierung und Eigentätigkeit,
• Wahrnehmungsschulung,
• Ganzheitlichkeit,
• Förderung von sogenannten Schlüsselkompetenzen,
• Konzentration, Strukturbildung und Feinmotorik,
• Förderung von Kreativität, Phantasie und Eigensinn,
• Ausdrucksschulung und Unterstützung kommunikativer Fähigkeiten,
• Ausdauer und Frustrationstoleranz,
• Ausgleich, Wohlbefinden, Freude,
• Befriedigung der Sehnsucht nach Schönheit,
• und vieles mehr.
Der Schwerpunkt in der Sozialen Arbeit mit künstlerischen Verfahren kann dabei auf den individuellen Prozess der Klient/innen und auf sein Ergebnis gelegt werden. So kann in der Arbeit mit Senior/innen der Prozess des Malens u. a. als meditative Betätigung wichtig sein, andererseits in der Biografiearbeit beispielsweise Erinnerungsbildern (also „ Ergebnissen“ im Sinne von gemalten, aber auch in den Medien und in Fotoalben gefundenen Bildern) besondere Bedeutung beigemessen werden und diese können als Grundlage für Gespräche dienen. Der Schwerpunkt kann zudem auc...