Inklusive Schul- und Unterrichtsentwicklung
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Inklusive Schul- und Unterrichtsentwicklung

Vom Anspruch zur erfolgreichen Umsetzung

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Inklusive Schul- und Unterrichtsentwicklung

Vom Anspruch zur erfolgreichen Umsetzung

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Die inklusive Schul- und Unterrichtsentwicklung bildet gegenwärtig die große Herausforderung im Bildungswesen. Noch immer ist zu wenig über die Bedingungen des Gemeinsamen Unterrichts sowie die Gestaltung inklusiver Schulen bekannt. Das Buch gibt einen Überblick über Entwicklungsprojekte zur Realisierung eines inklusiven Bildungssystems und gleichzeitig einen Einblick in aktuelle empirische Ergebnisse zur inklusiven Schul- und Unterrichtsentwicklung. Es behandelt folgende Themen: Gelingensbedingungen der inklusiven Schul- und Unterrichtsentwicklung, Einstellungen von Kindern, Eltern und Lehrkräften zum inklusiven Unterricht, Lernen in der inklusiven Schule und Möglichkeiten der Qualifizierung von angehenden Lehrkräften für den inklusiven Unterricht.

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Information

I Gelingensbedingungen der inklusiven Schul- und Unterrichtsentwicklung

Inklusion und Qualität in Schulen – die Qualitätsskala zur inklusiven Schulentwicklung (QU!S)

Ulrich Heimlich

Vorbemerkung

Mit Inkrafttreten der »UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen« im Jahre 2009 tritt das deutsche Schulsystem in ein neues Entwicklungsstadium ein (vgl. Vereinte Nationen, 2010). Vorrang hat nunmehr die Gestaltung eines inklusiven Bildungssystems auf allen Ebenen, wie es in Artikel 24 der UN-Konvention gefordert wird. Die Konvention fungiert nach der Ratifizierung im Range eines Bundesgesetzes. Insofern ergibt sich eine rechtliche Verpflichtung in Deutschland, die Ziele der Konvention politisch umzusetzen. Diese Verpflichtung gilt ebenso für die Bundesländer. In der föderalistischen Struktur Deutschlands hat zwar die Kulturhoheit der Bundesländer nach wie vor einen hohen Stellenwert bei der Gestaltung der Bildungspolitik, zugleich macht die UN-Konvention aber auch deutlich, dass sich die Bildungspolitik zunehmend globalisiert und international vernetzt (vgl. Ellger-Rüttgardt, 2008). Der Blick über die Grenzen – beispielsweise in die europäischen Nachbarländer – wird in Zukunft wohl zum festen Bestandteil in der Weiterentwicklung der eigenen Konzepte und Strukturen zählen müssen (vgl. Biewer, 2009; Bürli, Strasser & Stein, 2009).
Das gilt umso mehr, als Deutschland nach 1945 mit dem Aufbau eines differenzierten »Sonderschulsystems« einen eigenständigen Weg im Vergleich zu anderen europäischen Staaten beschritten hat. Dies ist zugleich die Ausgangssituation für die inklusive Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung. Die Entwicklung inklusiver Schulen ist zu einer globalen Bewegung angewachsen. Viele praktische Schulbeispiele – auch aus armen Regionen der Erde – zeigen, dass inklusive Schulen entwickelt werden können und nicht an geringen Mitteln scheitern müssen (vgl. die umfangreiche Projektdokumentation bei Rieser, 2008). Zugleich wird beim genaueren Blick in diese inklusiven Schulprojekte gezeigt, dass auch die Arbeit in inklusiven Schulen nicht ohne sonderpädagogische Förderung im Sinne von »special needs education« auskommt. Inklusive Bildung ist deshalb kein Plädoyer für die Abschaffung der Sonderpädagogik, sondern vielmehr eine Aufforderung, sich zu modernisieren und sich an einem pädagogischen Reformprozess von gesamtgesellschaftlichen Ausmaßen zu beteiligen. Wer sich auf neue Wege begibt, tut gut daran, sich seiner Ziele bewusst zu werden und sich gleichzeitig zu versichern, welche Wege eingeschlagen werden können. Nur so kann etwas über die jeweils nächsten Schritte gesagt werden. Inklusive Bildung (1.), inklusiver Unterricht (2.) und inklusive Schulentwicklung (3.) sind die zentralen Elemente auf dem Weg zur Entwicklung einer inklusiven Schule.

1 Inklusive Bildung

Auf der Konferenz von Salamanca im Jahre 1994 wurde der Begriff der Inklusion in die internationale schulpädagogische Diskussion eingeführt (vgl. Österreichische UNESCO-Kommission, 1996). In der deutschen Fassung wurde der neue Begriff »inclusion« noch mit »Integration« übersetzt. Dies hat bis heute im bundesdeutschen Sprachraum zu dem Missverständnis beigetragen, dass von einer Gleichsetzung zwischen Inklusion und Integration auszugehen sei. Auch mit Inkrafttreten der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention) konnte dieses Missverständnis im Jahre 2009 noch nicht ausgeräumt werden. Die ratifizierte Fassung ist allerdings die englische, in der es heißt: »inclusive education system at all levels« (United Nations, 2010). Insofern ist es im gegenwärtigen Diskurs über inklusive Bildung und angesichts der begrifflichen Verunsicherung angezeigt, die Vorstellung eines inklusiven Bildungssystems, wie sie sich gegenwärtig vor dem Hintergrund des internationalen Entwicklungsstands abzeichnet, genau zu bestimmen (Booth & Ainscow, 2002; Rieser, 2008; Rustemier & Booth, 2005).
Im Ergebnis lässt sich zunächst festhalten, dass Inklusion nicht nur als Übersetzung von Integration gelten kann. Der Begriff geht auch weit über eine optimierte Form der Integration im Sinne von Qualitätssteigerung hinaus. Inklusion meint vielmehr eine substantielle Weiterentwicklung der Integration. Inklusive Bildungseinrichtungen verzichten von vornherein auf jegliche Formen von Aussonderung. Alle Kinder und Jugendlichen eines Stadtteils, Wohngebiets oder Quartiers sind willkommen. Die Unterschiedlichkeit ihrer Lernbedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten wird als Ausgangsbedingung jeglichen Bildungsangebots angesehen. Heterogenität wird damit – zumindest konzeptionell – nicht als Belastung aufgefasst, sondern vielmehr als Bereicherung und Chance für die Gestaltung eines Bildungsangebots, das sich an alle Kinder und Jugendlichen richtet. Damit einher geht die Öffnung von Bildungseinrichtungen hin zu ihrem Stadtteil und dem aktiven wechselseitigen Austausch zwischen Schulen und ihrem Umfeld. Inklusive Bildung enthält somit auch die Dimension der Einbeziehung gesellschaftlicher Probleme der Teilhabe. Ebenso wie eine demokratische Gesellschaft demokratische Schulen benötigt, wie es John Dewey in »Demokratie und Erziehung« im Jahre 1916 beschrieben hat (vgl. Dewey, 1916/1993), ist eine inklusive Gesellschaft auf eine inklusive Schule angewiesen. Das bedeutet aber auch, dass Schulen allenfalls einen Beitrag zu einer inklusiven Gesellschaft leisten, nicht jedoch für den gesellschaftlichen Inklusionsprozess gänzlich allein verantwortlich gemacht werden können.
Aber was ist nun mit dem Konzept der Inklusion gemeint? Inklusion im Sinne der ursprünglichen lateinischen Wortbedeutung von »Einschluss bzw. Enthaltensein« umfasst mehr als ein schulisches Verständnis von Integration. Inklusion zielt auf eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe in möglichst weitgehender Selbstbestimmung. Dies entspricht einer stark normativ geprägten Vorstellung von Inklusion, wie sie in der schul- und sonderpädagogischen Debatte derzeit vorherrscht (vgl. Bürli, Strasser & Stein, 2009; Schnell & Sander, 2004). Ein Blick in das soziologische Begriffsverständnis von Inklusion lehrt jedoch, dass sich die gesellschaftlichen Inklusionsmuster in modernen westlichen Industriegesellschaften in den letzten 150 Jahren nachhaltig verschoben haben. Während gesellschaftliche Inklusion ursprünglich über feste Bindungen im sozialen Nahraum über Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen sowie innerhalb der Nachbarschaft organisiert wurde, reißt die Gesellschaft der Zweiten Moderne (vgl. Beck, 1986) ihre Mitglieder immer stärker aus gewachsenen sozialen Strukturen heraus. Soziale Beziehungen und Identitäten (vgl. Keupp et al., 1999) müssen selbst gesucht und konstruiert werden. Es ist unschwer vorstellbar, dass Menschen mit Behinderungen oder sozialen Benachteiligungen rasch aus diesem selbst zu organisierenden Inklusionsprozess herausfallen und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Westliche Industriegesellschaften haben eindeutige Tendenzen zur Exklusion. Die BRD leistet sich als eines der reichsten Länder der Erde bei Kindern und Jugendlichen eine Armutsquote, die bei ca. 16% liegt – mit steigender Tendenz (vgl. Heimlich, 2008). Inklusion und Exklusion sind von daher in modernen Gesellschaften unauflöslich miteinander verknüpfte Prozesse (vgl. Luhmann, 2002; Nassehi, 1997). Der schul- und sonderpädagogische Blick auf die Inklusion sollte dieses Spannungsverhältnis also mit einbeziehen (vgl. Lee, 2010; Speck, 2010). Inklusion im pädagogischen Sinne weist somit weit über das Bildungssystem hinaus in die Gesellschaft.
Inklusion im pädagogische Sinne zielt vor diesem Hintergrund auf die Schaffung netzwerkartiger Strukturen in Schule und Gesellschaft ab, die zur Unterstützung der selbstbestimmten sozialen Teilhabe aller Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen beitragen und Tendenzen zum Ausschluss bestimmter Gruppen aus der Gesellschaft aktiv entgegentreten.
Das Konzept der Integration konnte in der Vergangenheit nur einsetzen, wenn Kindern und Jugendlichen ein sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wurde. Der Vorteil dieses Systems ist sicher die klare Individuumszentrierung. Zum Nachteil gereichte der Integrationspraxis das Festhalten an einer weitgehend defizitorientierten Diagnostik. Noch immer steht in der Praxis der sonderpädagogischen Diagnostik die Zuweisung zum Förderort im Vordergrund und nicht die Entwicklung von individuellen Fördermaßnahmen. Dadurch wurde in integrativen Bildungsangeboten auch der Abgrenzung von zwei Gruppen Vorschub geleistet und das Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma (vgl. Füssel & Kretschmann, 1993) letztlich nicht überwunden. Personelle, räumliche und sächliche Ausstattung konnten integrative Bildungsangebote nur erreichen, wenn sie eine möglichst große Zahl von Kindern und Jugendlichen mit dem Etikett »sonderpädagogischer Förderbedarf« behafteten. Die Integration blieb deshalb auch häufig auf einer institutionellen Ebene des bloßen Beieinanderseins stehen, ohne zu intensiven sozialen Austauschprozessen zu gelangen. In der Konsequenz hieß das, dass auch die heil- und sonderpädagogische Fachkompetenz nur den Kindern und Jugendlichen zugutekommen konnte, die einen gutachterlich festgestellten Förderbedarf vorweisen konnten.
Mit der Entwicklung integrativer Bildungsangebote ist es also durchaus gelungen, die speziellen Förderangebote der Heil- und Sonderpädagogik in die allgemeinen Schulen zu verlagern. Ihr Charakter als spezielle Förderung für ›Behinderte‹ ist dabei jedoch prinzipiell nie verändert worden. Das System der integrativen Bildung mit heil- und sonderpädagogischer Unterstützung ist somit in der BRD an seine Grenzen gestoßen, was sich nicht zuletzt in den lange Jahre stagnierenden Anteilen der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in allgemeinen Schulen zeigt (vgl. Daten der KMK; vgl. http://www.kmk.org).
In einer kurzen Formel zusammengefasst können Integration und Inklusion folgendermaßen unterschieden werden: In integrativen Bildungssystemen werden Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf an die allgemeinen Schulen angepasst, in inklusiven Bildungssystemen werden die allgemeinen Schulen hingegen an den Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten aller Kinder und Jugendlichen orientiert (vgl. Wilhelm, Eggertsdóttir & Marinósson, 2006).

2 Inklusiver Unterricht als Qualitätsentwicklung

Fragen wir nach dem inklusiven Unterricht in Schulen, so steht die Unterrichtsqualität im Mittelpunkt (vgl. Heimlich & Kahlert, 2014). Auch in der deutschen Diskussion zu den Ergebnissen der PISA-Studien macht sich die Erkenntnis breit, dass strukturelle Veränderungen im Bildungs- und Erziehungssystem keineswegs ausreichen werden, um wieder Anschluss an internationale Spitzenleistungen zu erlangen. Die Hattie-Studie hat in der Darstellung von über 800 Meta-Analysen zur Unterrichtsforschung überdies deutlich gemacht, dass der größte Einfluss in Bezug auf den Lernerfolg von der Lehrerpersönlichkeit ausgeht (vgl. Hattie, 2009).
Ein Blick in die Unterrichtsforschung zeigt uns, dass auch die empirische Bildungsforschung kaum in der Lage ist, eine exakte Antwort auf die Frage nach der Unterrichtsqualität zu geben (vgl. Ditton & Krecker, 1995; Ditton, 2000). Komplexe Unterrichtssituationen – zumal mit hohem Anteil von sozialen Prozessen und selbsttätigem Lernen – sind forschungsmethodisch nicht einfach zu erschließen. Das mussten auch die verantwortlichen Leiter der Münchener SCHOLASTIK-Studie (vgl. Helmke & Weinert, 1997) erfahren, als sie versuchten, die Kriterien für solche Schulklassen herauszuarbeiten, die in der Leistungsförderung besonders erfolgreich waren. Sie verglichen die schulleistungsmäßig erfolgreichen Schulklassen in einer eigenen Studie erneut und versuchten, die Faktoren zu ermitteln, die für diesen Erfolg verantwortlich sind. Dabei wurden die Klassenführung, die Motivierungsqualität, die Strukturiertheit des Lehrervortrags, die Klarheit der Lehrerfragen, die individuelle fachliche Unt...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Vorwort
  6. I Gelingensbedingungen der inklusiven Schul- und Unterrichtsentwicklung
  7. II Einstellungen von Kindern, Eltern und Lehrkräften zum inklusiven Lernen
  8. III Lernen in der inklusiven Schule
  9. IV Möglichkeiten der Qualifizierung von angehenden Lehrkräften für den inklusiven Unterricht