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Emotionale und soziale Entwicklung im Kindes- und Jugendalter
In diesem Kapitel werden wichtige entwicklungspsychologische Grundsteine für ein effektives, präventives Handeln im Kindes- und Jugendalter dargestellt. Eine enge Orientierung an den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie, den Ergebnissen der Resilienzforschung sowie der Theorie der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung bildet dabei die theoretische Basis für die präventive Förderung emotional-sozialer Kompetenzen im Kindes- und Jugendalter.
1.1 Emotionale und soziale Kompetenzen
Für die nähere Auseinandersetzung mit den Konstrukten sozialer und emotionaler Kompetenzen ist es erforderlich, sich die Definitionsversuche dieser zu vergegenwärtigen.
Soziale Kompetenz bezeichnet die Fähigkeit, in sozialen Situationen persönliche Ziele zu erreichen und gleichzeitig positive Beziehungen zu anderen aufrechtzuerhalten (Siegler et al. 2008).
Als emotionale Kompetenzen werden die Fähigkeiten bezeichnet, die in sozialen Interaktionen mit emotionaler Priorität dazu beitragen, ein erwünschtes Ergebnis zu erreichen (Saarni 2002).
Betrachtet man vor diesem Hintergrund, unterschiedliches Verhalten von Menschen, so lässt sich mit Hilfe dieser Definitionen eine Aussage über deren soziale Kompetenz formulieren:
Ein Mensch, der ausschließlich an der Umsetzung eigener Ziele arbeitet und dabei die Ziele und Bedürfnisse anderer Menschen ignoriert bzw. diesen sogar entgegenwirkt, zeigt kein sozial kompetentes Verhalten. Ein Mensch, der stets bedacht ist, die Ziele anderer Menschen wahrzunehmen und zu verwirklichen und dabei seine eigenen Ziele und Bedarfe nicht berücksichtigt, zeigt ebenfalls kein sozial kompetentes Verhalten. Dagegen kann man nach diesen Definitionen einem Menschen, der sich z. B. aufgrund einer ausgeprägten Religiosität stark für andere Menschen engagiert, soziale Kompetenzen zuschreiben. Das eigene Handlungsziel wäre in diesem Fall der Einsatz für andere Menschen, sodass sowohl die eigenen als auch fremde Ziele berücksichtigt werden.
Sozial kompetentes Verhalten ist jedoch nur auf der Basis einer stabilen Emotionalität möglich. Bei Menschen mit einem geringen Selbstwert, mit ausgeprägten Ängsten, aber auch unter dem Einfluss von Wut, Trauer oder anderen Emotionen gerät die eben beschriebene doppelte Zielpassung in den Hintergrund und es wird häufig nur eine Dimension (die eigene oder die der anderen) berücksichtigt.
Unterschiedliche Modelle dieser Kompetenzen sollen im Folgenden beschrieben und deren Entwicklung aufgezeigt werden, um die Relevanz und Funktion jener Kompetenzbereiche für die Ausgestaltung menschlichen Verhaltens zu verdeutlichen.
1.1.1 Die Bedeutung der Emotionen und Modelle emotionaler Kompetenz
Die Entwicklungsbereiche emotionaler und sozialer Kompetenzen sind in vielfältiger Weise miteinander verknüpft und bedingen sich in ihrer Entwicklung gegenseitig (Petermann/Wiedebusch 2008). Emotionen gestalten zwischenmenschliche Interaktion. Menschen lassen sich dabei von sozialen Emotionen in ihrem Erleben, Denken und Handeln maßgeblich leiten:
»Die Funktion von Emotionen ist es, die eigenen Handlungsziele, -ergebnisse und -folgen und ihren situativen Kontext in ihrer Beziehung zum Grad der Befriedigung der eigenen Motive sicherzustellen (Frijda, 1986, S. 465 f nach Holodynski 2006). [. . .] Emotionen regulieren demnach die Handlungen einer Person in ihren motivrelevanten Aspekten, womit sie eine äußerst komplexe Funktion in der menschlichen Tätigkeitsregulation übernehmen (Holodynski/Friedlmeier 2006, S. 41).«
Eine Emotion besteht aus einer objektiven und einer subjektiven Ebene. Objektiv sind der Ausdruck und die körperlichen Komponenten (Gesichtsausdruck, Körperspannung, Herzklopfen usw.), die sich bei einer Emotion ergeben. Subjektiv ist das Gefühl, wie ein Individuum eine Emotion erlebt (Holodynski/Friedlmeier 2006). Beide Aspekte einer Emotion sind für die Gestaltung zwischenmenschlicher Interaktion von zentraler Bedeutung. Für die kindliche Entwicklung haben Abe und Izard (1999) die Funktionen von Emotionen wie folgt zusammengefasst:
• Emotionen fördern soziale Interaktion.
• Emotionen bringen Kinder dazu, über die eigenen Erwartungen und Verhaltensweisen nachzudenken und diese gegebenenfalls neu zu bewerten.
• Emotionen fördern die Vorstellung von Kindern über die Kontextabhängigkeit von Gefühlen. (Kullik/Petermann 2012)
Denham (1998) formuliert in ihrem »Konzept der emotionalen Kompetenz« insgesamt neun Fähigkeiten, welche in die drei Kategorien Emotionsausdruck, Emotionsverständnis und Emotionsregulation eingeordnet sind. Dieses Modell legt einen starken Fokus auf die Entwicklung und stellt heraus, dass sich die einzelnen Fertigkeiten in den drei Bereichen im Laufe von mehreren Jahren ausbilden können. So kann es sein, dass bei einem Kind einige Schlüsselfertigkeiten bereits vorliegen, andere hingegen noch nicht (Petermann/Wiedebusch 2008).
Das Modell der »Schüsselfertigkeiten emotionaler Kompetenz« von Saarni (1999) knüpft an den Entwicklungsgedanken an und betont die Entwicklung der einzelnen Fertigkeiten, welche von familiären und kulturellen Interaktion geprägt sind. Saarni formuliert insgesamt acht emotionale Schlüsselfertigkeiten:
1. Die eigenen Emotionen wahrnehmen
2. Emotionen anderer wahrnehmen und verstehen
3. Die Fähigkeit zur Kommunikation über Emotionen
4. Empathie
5. Die Fähigkeit zur Trennung zwischen Emotionsausdruck und Emotionsempfindung
6. Adaptive Emotionsregulationsstrategien
7. Bewusstsein der emotionalen Kommunikation in sozialen Beziehungen
8. Die Fähigkeit zur Selbstwirksamkeit
Diese sind jedoch nicht theoriegeleitet zusammengestellt, sondern auf Grundlage empirischer Untersuchungen entwickelt worden. In diesem Zusammenhang besteht die Möglichkeit der Ergänzung weiterer Fertigkeiten und der Bedarf, die einzelnen Komponenten in eine hierarchische Struktur zu bringen (Petermann/Petermann 2008; Saarni 2002).
Ein erster Entwurf, der versucht, die einzelnen Komponenten in eine hierarchische Struktur der Entwicklung zu bringen, ist das Konzept des Emotionswissens (Pons et al. 2004). Die hier benannten Fertigkeiten sind chronologisch nach der Reihenfolge der Entwicklung angeordnet:
1. Mimik: Erkennen und Benennen von verschiedenen Emotionsausdrücken anhand der Mimik.
2. Anlässe: Zuordnung einer Emotion zu einem konkreten Anlass/einer bestimmten Situation.
3. Wünsche: Erwartungen und Wünsche werden als Emotionsauslöser verstanden.
4. Emotionsperspektive – ToM (Theory of Mind): Fähigkeit zur emotionalen Perspektivübernahme in die Gefühle anderer.
5. Erinnerung: Verständnis dafür, dass abgespeicherte Erinnerungen erneut Emotionen auslösen können.
6. Regulation: Die Fähigkeit, das eigene emotionale Befinden zu beeinflussen.
7. Verbergen von Emotion: Die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu verbergen.
8. Multiple Emotionen: Verständnis dafür, dass man mehrere Emotionen gleichzeitig haben kann.
9. Gewissen: Verständnis für Emotionen, die sich aus dem sozialen Kontext ergeben.
Die Komponenten bauen teilweise aufeinander auf und lassen sich in drei verschiedene Phasen unterteilen: externale, mentale und reflexive Aspekte von Emotion. Das Wissen über die ersten Komponenten entwickelt sich bereits im Kindergartenalter, die letzten Komponenten frühestens in der späten Grundschulzeit (Janke 2008). Die Entwicklung des jeweiligen Emotionswissens vollzieht sich jedoch nicht dergestalt, dass ein bestimmter Entwicklungsschritt erst vollständig abgeschlossen sein muss, bevor Merkmale einer höheren Entwicklungsstufe überhaupt beginnen können sich auszuprägen. Vielmehr findet im Zuge des Voranschreitens ebenfalls ein kontinuierlicher weiterer Ausbau der davorliegenden Niveaus statt. Während durch erworbene Fertigkeiten neue Entwicklungen angestoßen werden, können sich gleichzeitig die Fertigkeiten im vorausgehenden Bereich noch intensivieren. Zum Beispiel ist die Fähigkeit zur Emotionsregulation die notwendige Bedingung dafür, die eigenen Emotionen verbergen zu können. Während sich, initialisiert durch Kompetenzen in der Emotionsregulation, die Fertigkeit zum Verbergen von Gefühlen ausbildet, entwickelt sich die Emotionsregulation selbst ebenfalls noch weiter. Für die neun Bereiche des Emotionswissen von Pons et al. (2004) konnte, insbesondere im deutschsprachigen Raum, ein sich chronologisch vollziehender Fortschritt in den einzelnen Komponenten über die Entwicklungsspanne der Kindheit nachgewiesen werden (Janke 2008).
Die Verflechtung zwischen emotionaler und sozialer Kompetenz ist Kerngedanke des »Konzeptes affektiver sozialer Kompetenzen« (Halberstadt et al. 2001). Es betont vor allem das Einsatzgebiet der beschriebenen Kompetenzen, die soziale Interaktion:
• Senden emotionaler Botschaften
• Kompetente Kinder wissen, wann sie in einer sozialen Situation emotionale Botschaften senden müssen. Sie identifizieren und senden situationsangemessene Botschaften auf klare und prägnante Weise. Außerdem treffen sie angemessene Entscheidungen darüber, was sie kommunizieren und was nicht.
• Empfangen emotionaler Botschaften
• Kompetente Kinder wissen, wann sie in einer sozialen Situation emotionale Botschaften empfangen. Sie können die Botschaften anderer angemessen identifizieren und interpretieren. Emotionale Botschaften werden nicht verwechselt und müssen nicht wiederholt werden. Außerdem treffen sie klare Entscheidungen darüber, ob sie wahre oder falsche Signale empfangen.
• Erleben von Gefühlen
• Kompetente Kinder wissen, wann sie in einer sozialen Situation Gefühle erleben. Sie können ihre emotionalen Erfahrungen erkennen und richtig interpretieren. Außerdem können sie angemessene Entscheidungen darüber treffen, ob sie ihre emotionalen Erlebnisse im Hinblick auf das Ziel der sozialen Interaktion abschwächen, zurückhalten oder verstärken müssen.
Die enge Beziehung zwischen emotionalen und sozialen Fertigkeiten, wie sie in dem Modell von Halberstadt et al. (2001) zum Ausdruck kommen, ist ein zentrales Merkmal dieser Kompetenzen. Das Erkennen von Emotionen stellt im Rahmen emotionaler und sozialer Kompetenzen eine wesentliche Basisfertigkeit dar (Izard 1994). Sie bildet die Voraussetzung für das Emotionsverständnis (Denham 1998), welches wiederum das Fundament für die interpersonelle Fähigkeit zur Emotionsregulation ist (Grob et al. 2009). Das Anwenden von adäquaten Emotionsregulationsstrategien bildet seinerseits die Basis für ein sozial kompetentes Handeln, trägt im Allgemeinen zur psychischen Gesundheit bei und schützt vor psychischen Störungen (Petermann/Barnow 2013). Die Fähigkeit zur selbstständigen Regulation von Emotionen ist daher eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben (ebd.).
1.1.2 Modelle sozialer Kompetenz
Im Kontext der beschriebenen Komponenten emotionaler Kompetenz ist es vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass aktuelle Modelle sozialer Kompetenz emotionale Aspekte integrieren. Sozial kompetentes Verhalten vollzieht sich in der Wechselwirkung zwischen kognitiven sozialen Kompetenzen, emotionalen sozialen Kompetenzen und aktionalen sozialen Kompetenzen (Döpfner 1989). Auf der Ebene der kognitiven sozialen Kompetenz bedarf es hiernach einer effektiven sozialen Informationsverarbeitung sowie einer guten Einschätzung und Antizipation der für die Interaktion relevanten Faktoren sowohl in einer Person selbst als auch in deren Umwelt. Auf der zweiten Ebene, der emotionalen sozialen Kompetenz, werden Fähigkeiten benötigt, um für die Situation angemessene Gefühle entwickeln zu können. Die letzte Ebene der aktionalen sozialen Kompetenzen bezieht sich schließlich auf das Repertoire verbaler und nonverbaler Verhaltensfertigkeiten und deren angemessene Kombination bei der Ausführung von Verhalten.
Ebenfalls in einem engen Zusammenhang mit emotionalen Fähigkeiten und Fertigkeiten stellt sich das Pyramidenmodell sozialer Kompetenz von Rose-Krasnor (1997) dar (Abb. 1). Sie fasst soziale Kompetenz als Effektivität in sozialen Interaktionen auf. Das Fundament (Skills Level) dieses Modells stellen die emotionalen und kognitiven Fertigkeiten einer...