1 Kindheit und Jugend (1901–1919)
Mainz, wo Walter Hallstein am 17. November 1901 zur Welt kam, war um die Wende zum 20. Jahrhundert eine aufstrebende Stadt. Nach dem Krieg von 1870/71 und der Vergrößerung des Deutschen Reichs durch die Annektierung von Elsass-Lothringen hatte sie ihre frühere Aufgabe als Festungsstadt an Metz abgegeben und konnte sich nun ganz ihrer zivilen Entwicklung widmen. Zeichen des Aufschwungs war beispielsweise ein neues Elektrizitätswerk, das 1899 eingeweiht wurde und 4000 Haushalte mit Strom versorgen konnte. Wie die meisten Städte in Deutschland wuchs auch Mainz in dieser Zeit, von 84 000 Einwohnern um die Jahrhundertwende auf 120 000 am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Verbunden war mit diesem Wachstum, das sich zum großen Teil durch Zuzüge aus der Region ergab, dass der katholische Bevölkerungsanteil der alten Bischofsstadt, der Anfang des 19. Jahrhunderts noch 80 Prozent ausgemacht hatte, im Jahr 1914 nur noch gut 50 Prozent betrug.1
Abb. 1: Hallstein auf dem Arm seiner Mutter, 1902.
Hallsteins Eltern
Unter den protestantischen Neubürgern waren seit dem Jahr 1900 auch die Eltern Hallsteins, Anna und Jakob, die beide im Jahr 1872 geboren worden waren und die 1897 geheiratet hatten. Seit Generationen waren die Vorfahren Bauern im hessischen Odenwald gewesen,2 bis sich Jakob Hallstein, ausgehend von einer Tätigkeit als Geometergehilfe, hochgearbeitet hatte. 1900 war er bei der Königlich Preußischen und Großherzoglich Hessischen Eisenbahndirektion verbeamtet worden. Er bildete sich neben dem Beruf akademisch weiter und brachte es schließlich bis zum Regierungsbaurat mit dem Spezialgebiet Brückenbau.3 Der berufliche und damit zusammenhängend der gesellschaftliche Aufstieg seines Vaters war für Hallstein zeitlebens Vorbild. Als er einmal dessen Charakter beschrieb, fand er Worte, die auch für ihn zutreffend sind: Begabung, zäher Fleiß und eine unbeirrbare Gradlinigkeit und Schlichtheit der Lebensführung, Sparsamkeit, „jene Hintanstellung der eigenen Person hinter die Pflicht, die zu den besten Traditionen deutschen Beamtentums gehört“.4 Bis zu deren Tod – der Vater starb 1936, die Mutter fünf Jahre später – hatte Hallstein eine sehr enge Beziehung zu seinen Eltern. Sie brachten ihm Liebe und große Zuneigung entgegen, förderten ihn unermüdlich und begleiteten seine spätere berufliche Karriere voller Bewunderung, setzte er doch den Aufstieg der Hallsteins weiter fort. Walter unterschied sich diesbezüglich deutlich von seinem älteren Bruder. Der 1899 geborene Willy Hallstein war ein kränkelndes Kind und ein schlechter Schüler. Früh wurde ihm ein Nervenleiden attestiert, und die Eltern waren froh, dass er beim Kreisvermessungsamt untergebracht werden konnte.5
Hallsteins Schullaufbahn
Walter dagegen, der später auch seinen engsten Mitarbeitern und Vertrauten gegenüber die Existenz seines Bruders verheimlichte, war von einem ganz anderen Kaliber. „Volksschule und Gymnasium habe ich ohne Mühe als Klassenerster durchlaufen“, schrieb er 1946 in seinem Lebenslauf. Die wenigen überlieferten Zeugnisse bestätigen dies. Sein Hauptinteresse galt Fächern, die ihn logisch und systematisch herausforderten wie Latein, Deutsch und Mathematik. Schlechte Noten bekam er nur in Sport, der nie seine Leidenschaft werden sollte, und in Schönschreiben – wer immer es mit Hallsteins Handschrift zu tun gehabt hat, seien es seine Mitarbeiter oder später die Historiker, weiß ein Lied von seiner schier unleserlichen Handschrift zu singen.6
Nach den ersten Jahren an einem Darmstädter Gymnasium wechselte Hallstein dann auf das „Neue Gymnasium“ seiner Geburtsstadt Mainz. Von seiner Ausrichtung her unterschied sich diese Schule trotz gewisser zaghafter reformpädagogischer Ansätze kaum von den übrigen Gymnasien des Kaiserreichs. Genauere Kenntnisse über diese Lehranstalt haben wir Dank eines weiteren prominenten Schülers: Der Schriftsteller Carl Zuckmayer, fünf Jahre vor Hallstein geboren, berichtet von dem täglichen Drill an einer nationalkonservativen Schule, die ihren Schülern keinerlei Freiräume bot. Das Schulfach Geschichte, so Zuckmayer, bestand beispielsweise „nur aus einer Aufreihung von Kriegs- und Feldzugsdaten, d. h. eigentlich nur aus Siegen“, und als Zuckmayer im Deutschunterricht die Namen Hebbel und Heine erwähnte, entging er nur knapp einem Schulverweis.7
Pfadfinderzeit und Erster Weltkrieg
Der an der Schule gepflegte Hurrapatriotismus des Wilhelminischen Reichs infizierte auch Hallstein. In einem Interview mit Günter Gaus schaute er im Jahr 1965 folgendermaßen zurück:
„Sie haben völlig recht, wenn Sie sagen, dass dies[e meine] eine Generation ist, die nicht als europäisch betrachtet werden kann. Ich mache keine Ausnahme davon. Ich bin ein Kind meiner Zeit. Ich war als junger Mann erfüllt von nationalen Vorstellungen und von der Notwenigkeit, nationale Werte zur Geltung zu bringen.“8
So ist davon auszugehen, dass der 13-Jährige unter denen war, die den Beginn des Ersten Weltkrieges von Herzen begrüßten. Er schrieb in sein Tagebuch: „Mit einem Mal war die Sehnsucht in mir erwacht, auch in Feindesland mein Bestes zu der großen Sache beizutragen.“9 Dazu passt, dass sich Hallstein einer Pfadfindergruppe angeschlossen hatte, in der wie in allen solchen Gruppen im Wilhelminischen Deutschland auch schon vor 1914 der Gesinnungsmilitarismus gepflegt und in Drill und Geländespielen Verhaltensmuster eingeübt wurden, die einer vormilitärischen Ausbildung gleichkamen.10 Die Sommerferien 1915 und 1917 verbrachte Hallstein bei einer Pfadfindergruppe, die der deutschen Kommandantur in der belgischen Hauptstadt zugeordnet war. Die Ironie des Schicksals wollte, dass er genau von hier, von seinem Dienstort Brüssel aus, später als Kommissionspräsident das Zusammenwachsen jenes Europas fördern sollte, das eben noch in Flammen stand und dessen Brand er so gerne als richtiger Soldat mitgeschürt hätte. Denn noch notierte er in seinem Tagebuch, die älteren Mitschüler beneidend, „die das Glück hatten, auf feindlichem Boden ihre Kraft in den Dienst des Vaterlandes zu stellen“, dass ihm nichts anderes übrig bleibe, als „von der Heimat aus die Ruhmestaten unseres Heeres zu verfolgen“.11 Für den Pfadfinder Hallstein standen lediglich ebenso langweilige wie lästige Botengänge und leichte Büroarbeiten auf dem Stundenplan, eingebettet zwar in den Kasernenalltag mit markerschütternden Weckrufen, Antreten und Marschieren, weit entfernt aber von der Realität des Krieges.
Auch wenn mit dem weiteren Kriegsverlauf und der allgegenwärtigen Erfahrung von Mangel und Entbehrung dem Heranwachsenden immer stärkere Zweifel am Sinn des Krieges kamen, für ein Miteinander der europäischen Nationen zu kämpfen, auf den ehemaligen „Feind“ zuzugehen, dafür war Hallstein noch lange nicht bereit. „Ich habe persönlich tief gelitten bis in meine Studentenzeit hinein unter dem Ende des Ersten Weltkriegs und all dem, was darauf gefolgt ist.“12
Das Miterleben des Kriegsendes in Mainz wurde sicherlich prägend für Hallstein. Im Waffenstillstandsabkommen vom November 1918 war die Räumung der linksrheinischen Brückenköpfe von deutschen Truppen vereinbart worden. Anfang Dezember rückten französische Truppen in Mainz ein.13 Während Hallstein sich auf das Abitur vorbereitete, das er schließlich im Frühjahr 1919 ablegte, engten Ausgangssperren und Verkehrsbeschränkungen das Leben der Mainzer empfindlich ein. Das Klima in der Stadt unmittelbar nach dem verlorenen Krieg spiegelt der Fall des späteren SS-Obergruppenführers Werner Best wider, der im Juli 1919 als Primaner einen Französischwettbewerb gewonnen hatte, sich dann aber weigerte, den Preis aus den Händen eines französischen Besatzungsoffiziers entgegenzunehmen. Öffentliches Lob erhielt Best vom Mainzer Provinzialdirektor für sein „ehrendes Beispiel männlichen und mutvollen Verhaltens“.14
Abb. 2: Hallstein als Pfadfinder mit seinem Vater, 1916.
Abb. 3: Abitur Ostern 1920. Hallstein ist die vierte Person von rechts in der untersten stehenden Reihe.
Über Hallstein ist nichts dergleichen bekannt. Allerdings fällt in diese Zeit das erste öffentliche politische Wirken Hallsteins: Der Abiturient gehörte zu einer Gruppe von Schülern, die der Schulleitung ein Dokument zur Schülerselbstverwaltung vorlegte, in dem Ansätze der Reformpädagogik zu finden sind.15
2 Studium und akademischer Werdegang (1919–1933)
Dass der glänzende Abiturient sich für ein Studium entschied, überraschte niemanden. Hallsteins Lebensweg hätte sicher eine andere Richtung genommen, hätte sich sein technisches Interesse, das er von seinem Vater geerbt hatte, durchgesetzt und wäre er seiner ursprünglichen Überlegung gefolgt, Ingenieurswesen zu studieren und Brückenbauer zu werden. Mit der Entscheidung für die Juristerei wurde es ein verschlungener und eben keinesfalls selbstverständlicher Weg, als späterer Europapolitiker in ganz anderer Hinsicht Brücken zwischen den westeuropäischen Staaten zu bauen.
Studium und Promotion
Ab dem Frühjahr 1920 also studierte Hallstein Rechts- und Staatswissenschaften, zuerst in Bonn und München, bevor er im Wintersemester 1921/22 nach Berlin wechselte, wo er für die nächsten zehn Jahre leben sollte. Die dortige Juristische Fakultät galt in den 1920er Jahren als beste Deutschlands.1 Zuvor hatte er ein Praktikum in der Rechtsabteilung eines Tiefbauunternehmens in Biebrich am Rhein absolviert. Über den noch nicht einmal 20-Jährigen heißt es in dem Zeugnis:
„Mit außergewöhnlichem Fleiß und mit selten rascher Auffassungsgabe hat er auf allen Gebieten der Abteilung sich umgesehen und infolge eines für sein Alter ungewöhnlichen Wissens und Scharfsinnes praktisch mitarbeiten können.“2
Bereits nach dem sechsten Semester bestand Hallstein im Sommer 1923 die erste juristische Staatsprüfung vor der Prüfungskommission beim Kammergericht Berlin mit dem Prädikat „gut“. Es folgte der juristische Vorbereitungsdienst bei der Generalstaa...