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Schüler in ihrer heutigen Lebenswelt
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Familie
1.1 Demographischer Wandel
Deutschland gehört zu den Ländern mit einer sehr niedrigen Geburtenrate. Seit Jahrzehnten gibt es einen demographischen Wandel, der zu einem Geburtenrückgang geführt und das Bild der Familie verändert hat. Nach dem Mikrozensus ist die Zahl der minderjährigen Kinder zwischen 2000 und 2010 in Westdeutschland um etwa 10 Prozent gesunken, in Ostdeutschland um 29 Prozent (Statistisches Bundesamt 2011).
Kinderwunsch und Elternschaft
Kinderwunsch hängt zum einen von der generellen Einstellung zu Familie und Kindern ab. Eine positive Einstellung führt eher als eine negative zu einer Realisierung des Kinderwunsches. Aber auch bei denjenigen Paaren, die Familie und Kindern grundsätzlich positiv gegenüber stehen, gibt es Gründe, den Kinderwunsch nicht verwirklichen zu wollen. Argumente sind gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen und – vor allem bei Frauen – die Sorge, Familie und Beruf nicht miteinander verbinden zu können und damit auf eine berufliche Karriere verzichten zu müssen.
Kinderwunsch hängt zum anderen auch von der Verfügbarkeit sozialen ›Kapitals‹ ab. Darunter werden emotionale, finanzielle und zeitliche Ressourcen verstanden, auf die das Paar zurückgreifen kann, wenn es über ein eigenes soziales Netzwerk verfügt (Ette & Ruckdeschel 2007). Das ist jedoch keineswegs bei allen Paaren der Fall. Für nicht wenige gilt, dass sie entfernt von Eltern und Schwiegereltern leben und über kein soziales Netzwerk verfügen.
Für Deutschland gilt allgemein, dass Kinder nicht mehr selbstverständlich als Quelle der Zufriedenheit und Lebensfreude angesehen werden. Von den Befragten, die bereits Kinder hatten, stimmten nur 17 Prozent und von den Kinderlosen nur knapp die Hälfte (45 Prozent) der Aussage zu, dass sich ihre Lebensfreude und Lebenszufriedenheit verbessern würden, wenn sie in den nächsten drei Jahren ein (weiteres) Kind bekämen (a. a. O., S. 41).
Das Thema ›Zeit‹ spielt eine große Rolle bei der Entscheidung für oder gegen Kinder. Männer und Frauen haben allerdings sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, welche Zeit sie gewillt wären zu reduzieren, wenn Kinder da sind: ihre Freizeit oder ihre Arbeitszeit. Männer denken eher daran, ihre Freizeit reduzieren zu müssen, und sorgen sich um Spontaneität und Flexibilität, Frauen dagegen denken an eine notwendig werdende Reduzierung ihrer Arbeitszeit und sorgen sich um ihre berufliche Karriere (Rogacki 2012, S. 240). Da bei Männern in der Diskussion um Kinderwunsch eine Reflexion über mögliche Veränderungen ihrer Arbeitszeit nur selten stattfindet, wird bei Frauen die Befürchtung stärker, im Ernstfall die größeren Opfer bringen zu müssen (a. a. O., S. 242 ff).
Nicht nur die Befürchtung, mit Kindern weniger Zeit für sich zur Verfügung zu haben, sondern auch die hohen Erwartungen und Anforderungen, die heute an Elternschaft gestellt werden, sind für viele Paare Gründe dafür, auf Kinder zu verzichten. Eltern sollen alles richtig machen, liebevoll und fürsorglich sein, ihren Kindern die besten Entwicklungsvoraussetzungen geben, sie fördern und unterstützen bei der Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben, sie gut durch die Schule bringen, mit dafür sorgen, dass sie gute Schulabschlüsse erreichen – und dabei auch noch eigene Bedürfnisse wie Selbstverwirklichung und berufliche Karriere befriedigen. In Westdeutschland glauben über 60 Prozent der befragten Personen zwischen 18 und 40 Jahren, dass Kinder wahrscheinlich darunter leiden, wenn die Mutter berufstätig ist. Eine solche Überzeugung trägt mit dazu bei, dass viele Paare, selbst wenn Kinderwunsch vorhanden ist, keine Kinder bekommen wollen. Diese Meinung teilen jedoch nur 45 Prozent in Ostdeutschland, 40 Prozent in Frankreich und in 39 Prozent in Belgien (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 2012).
Hinzu kommt, dass Elternschaft nicht so gut angesehen ist wie in anderen Ländern. In Frankreich und Russland z. B. wird Elternschaft mit 32 und 45 Prozent, in Deutschland allerdings nur mit 18 Prozent wertgeschätzt (Seiffge-Krenke & Schneider 2012, S. 100).
Kinderreichtum (mehr als drei Kinder) wird oft mit sozial schwachen Familien bzw. niedrigen Bildungsabschlüssen der Eltern gleichgesetzt. Studien belegen zwar den deutlichen Zusammenhang zwischen Kinderreichtum und Schulbildung der Eltern, jedoch zeigen sie auch, dass es unter den Familien mit drei Kindern eine über dem Durchschnitt liegende Gruppe von Eltern mit hohem Bildungsstatus und beruflichem Abschluss (53 Prozent) gibt (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, BMFSFJ, 2007). Dennoch gibt es in der Bevölkerung die negative Assoziation von ›kinderreich‹ ›sozial schwach‹ und ›arm‹, so dass sich viele der jungen Paare nur zwei Kinder wünschen und sich diesen Wunsch, zumindest im Westen Deutschlands, auch meistens erfüllen. Im Osten Deutschlands überwiegt die 1-Kind-Familie (a. a. O.).
1.2 Familienformen und Familiensituationen
Viele Kinder, die heute in ›Familien‹ aufwachsen, leben nicht mehr unbedingt mit leiblichem Vater und leiblicher Mutter sowie mit leiblichen Geschwistern zusammen, sondern in ganz unterschiedlichen Familienformen. Der Begriff ›Familie‹ hat sich geändert. Es genügt, dass sich mindestens »ein Angehöriger der älteren Generation für die Versorgung, Erziehung und Unterstützung des Angehörigen der jüngeren Generation zuständig fühlt«, um von Familie zu sprechen (Hurrelmann & Bründel 2003, S. 98). Der Anteil Alleinerziehender beträgt ca. 20 Prozent (Statistisches Bundesamt 2010).
Kern-, Stief- und Patchworkfamilien
Kinder können durch vielfältige und sehr unterschiedliche Prozesse in Familien hineinwachsen bzw. in ihnen leben: durch Geburt, Adoption, Trennung/Scheidung, Wiederverheiratung, Verwitwung, Pflegschaft, differenziert nach hetero- und homosexuellen Eltern-Familien mit formaler Eheschließung und nicht ehelichen Lebensgemeinschaften (Nave-Herz 2012b). »Die Familie« gibt es nicht, sondern sie präsentiert sich dynamisch, vielschichtig und wandelbar (Seiffge-Krenke & Schneider 2012, S. 222.). Es überwiegen andere Formen des partnerschaftlichen Zusammenlebens. »In einem modernen Verständnis konstituiert sich Familie nicht mehr nur über Heirat, sondern über Solidarität, Wahlverwandtschaft und Elternschaft« (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, BMFSFJ, 2012a, S. 4 ff).
Kinder wachsen heute zwar in verschiedenen Familienformen und Familienbeziehungen auf, aber es gibt dennoch Kontinuitäten und Konstanten. Die eheliche Kernfamilie, bestehend aus von miteinander verheirateten leiblichen Vätern und Müttern und mindestens einem Kind, hat zwar im Vergleich zu früheren Jahrzehnten ihre dominante Stellung eingebüßt, aber sie ist – entgegen landläufiger Meinung – immer noch die Familienform, die am häufigsten verbreitet und in 75 Prozent aller Familien anzutreffen ist. Auch die Paarorientierung von Männern und Frauen ist vorherrschend, wenn auch nicht immer in Form einer Ehebeziehung. Die Anzahl der Eheschließungen hat sich im Vergleich zu früher erheblich verringert, die der Lebensgemeinschaften wie auch der Alleinerziehenden dagegen ist stark gestiegen (BMFSFJ 2012a, S. 14)
In den neuen und alten Bundesländern sind die Familienformen mit und ohne Kinder sehr unterschiedlich verteilt (
Tab. 1):
Tab. 1: Familienformen in den neuen und alten Bundesländern mit und ohne Kinder 2011
(Quelle: BMFSFJ (2012a), S. 16)
Neue Bundesländer Alte Bundesländer
Familien, in denen mehr als zwei Generationen zusammen leben, gibt es kaum noch, stattdessen wachsen Kinder eher in Kleinfamilien auf. Das heißt aber nicht, dass Großeltern nicht wichtig seien und keine Verbindung zur Kleinfamilie hätten, im Gegenteil. Hater (2011) spricht von der »muti-lokalen Mehrgenerationen Familie«. Selbst wenn die Großeltern nicht im gleichen Haus leben, wohnen sie doch häufig im gleichen Ort und haben mindestens einmal pro Woche Kontakt mit ihren Kindern und Enkelkindern (a. a. O., S. 6 ff).
Eine größere Geschwisterzahl ist eher selten (
Tab. 2).
Die Anzahl der Scheidungen hat sich erhöht (Pressemitteilung 2012, Nr. 241). Für Kinder bedeutet das oft Kummer und Leid,
Tab. 2: Minderjährige Kinder nach Anzahl der Geschwister, 2011:
(Quelle: BMFSFJ (2012a), S. 16)
Trennung und Abschied. Ihr Familienleben ist fragiler geworden (BMFSFJ 2013). Immer häufiger wachsen Kinder bei nur einem Elternteil auf – meistens der Mutter – und kommen in starke Loyalitätskonflikte zum anderen Elternteil. Häufig leben sie in verschiedenen Familienwelten, vor allem dann, wenn die Eltern sich wieder verheiraten und jeweils eigene Kinder mit in die Ehe bringen. Damit erhöht sich die Anzahl der Kinder in einer Familie.
Für Kinder in Patchwork-Familien bedeutet das, sich nicht nur mit dem Stief-Partner oder der -Partnerin arrangieren zu müssen bzw. sie als Stiefvater oder Stiefmutter anzuerkennen, sondern auch mit den Stiefgeschwistern auszukommen und sich zu vertragen. Erwartungen, Alltagsroutinen und -abläufe, Werte und Regeln müssen neu ausgehandelt, Besuchszeiten festgesetzt und eingehalten werden (Beck-Gernsheim 2010, S. 57). Kinder erleben dabei unterschiedliche Emotionen, angefangen von Enttäuschung, Kränkung und Wut darüber, nicht mehr gemeinsam mit beiden Eltern im vertrauten Umfeld zu wohnen, aber auch Erleichterung darüber, die Streitigkeiten zwischen den Eltern nicht mehr länger miterleben zu müssen und eine gewisse Neugier, sich auf die neuen Familienmitglieder einzulassen. Was Familie ist und wie sie lebt, wird vor allem durch die alltäglichen Interaktionen ihrer Familienmitglieder bestimmt.
Regenbogenfamilien
Zu den nichtehelichen Lebensgemeinschaften kommen zu einem geringen Prozentsatz die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften hinzu, die als ›Eingetragene Lebensgemeinschaft‹ auf rechtlicher Grundlage (›Lebenspartnerschaftsgesetz‹ 2001, erweitert 2005) zusammen leben. Sind Kinder vorhanden, werden diese Familien ›Regenbogenfamilien‹ genannt. Elternschaft kann in Begriffen wie ›biologischer Vater‹, ›sozialer Vater‹ respektive ›biologische Mutter‹ und ›soziale Mutter‹ sowie Stief- und Adoptivvater bzw. -mutter, Lebenspartner/-partnerin etc. beschrieben werden. Nach der Mikrozensus-Erhebung lebten 2008 ca. 7.200 Kinder in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Es wird vermutet, dass es weit mehr Kinder sind, die in dieser Familienform leben, da nicht alle befragten Eltern den Interviewern ihre Geschlechtspartnerorientierung zu erkennen gegeben haben (Eggen & Rupp 2011).
In einer repräsentativen Studie des Bayrischen Staatsinstituts für Familienforschung an der Universität Bamberg wurden Eltern in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zu Aspekten ihres Regenbogenfamilienalltags befragt. Es handelte sich dabei überwiegend um ›Mutterfamilien‹, d. h. sie bestanden aus Mutter und Co-Mutter und mindestens einem Kind. Beide Elternteile wiesen ein überdurchschnittliches Bildungsniveau auf und waren häufiger als heterosexuelle Paare erwerbstätig, meistens in Teilzeit (Rupp & Dürnberger 2009). Die Kinder dieser Eltern waren entweder durch eine Samenspende gezeugt worden und in die Partnerschaft hineingeboren oder aber sie stammten aus früheren heterosexuellen Beziehungen. Entgegen vielfachen Vorurteilen, dass Kinder lesbischer Mütter oder schwuler Väter in ihrer Entwicklung Schaden nähmen, wenn sie in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften aufwüchsen, kamen die entwicklungspsychologische Teilstudie des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München (Jansen 2010) wie auch die Untersuchungen von Rupp (2011) zu folgenden Ergebnissen:
Kinder aus Regenbogenfamilien können gut mit ihrer Familiensituation umgehen.
Sie zeigen ein höheres Selbstwertgefühl und mehr Autonomie in ihrer Beziehung zu ihren Eltern als Gleichaltrige in anderen Familienformen.
Ihre schulische Leistungssituation ähnelt der von Gleichaltrigen in andern Familienkonstellationen.
Sie verhalten sich geschlechtsrollenkonform.
Sie gehen mit ihrem Regenbogenfamilienhintergrund offen um.