Inklusion
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Inklusion

Vision und Wirklichkeit

  1. 204 pages
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Inklusion

Vision und Wirklichkeit

About this book

Das Thema "Inklusion" ist in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen. Das Buch will den Streit um das Für und Wider der Inklusion nicht fortführen. Es setzt vielmehr an der für die Gegenwart einzig entscheidenden Frage an: Wie lässt sich das Ziel der Inklusion in gesellschaftliche Praxis umsetzen? Das Buch öffnet den Blick für die historischen Dimensionen, die internationalen Erfahrungen, die Hemmnisse und Chancen in den Gesellschafts- und Bildungssystemen und schließlich auf das Selbstverständnis der Akteure und die Sicht der Betroffenen. Sichtbar werden so die Chancen der "Vision Inklusion" in menschenfreundlicheren Gesellschaften.

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Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2016
Print ISBN
9783170293861
eBook ISBN
9783170293885
Edition
1

1          Auftakt: Der lange Weg zu einer inklusiven Gesellschaft

 
 
 
»Wenn ein Volk keine Vision hat, verwildert es.«
Sprüche 29, 18
Es gibt keinen Zweifel: Das Thema »Inklusion« ist in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen. Einen Bewusstseinswandel in der Einstellung gegenüber behinderten Menschen zeigen jüngere Beispiele durchaus eindrucksvoll.
Zur besten Sendezeit zeigt die ARD im Mai 2012 den viel beachteten und kontrovers diskutierten Spielfilm »Inklusion – Gemeinsam anders«. Das Hamburg Museum eröffnet im November 2013 eine Ausstellung mit dem Titel »Geht doch! Inklusion erfahren«, die Hamburger Kammerspiele präsentieren im Mai 2014 Inszenierungen von »Rain Man« und »Ziemlich beste Freunde«, und auf dem Berliner Tempelhofer Feld wird im Juli 2014 der »Inklusionslauf Berlin« veranstaltet. Auch der Rat der evangelischen Kirche hat sich des Themas angenommen und unter dem Titel »Es ist normal, verschieden zu sein« (2014) eine Orientierungshilfe herausgegeben. Die Bundeszentrale für politische Bildung veranstaltet im September 2015 den Kongress »inklusiv politisch bilden«, auf dem es um die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Lernschwierigkeiten geht.
Und wer hätte es noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten, dass eine deutsche Ministerpräsidentin (Marlu Dreyer, Rheinland-Pfalz) offen über ihre Krankheit Multiple Sklerose spricht und auf einem Dorf in einem Wohnprojekt mit behinderten Menschen lebt (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 13.1.2013) und dass eine Abgeordnete mit einem Kind mit Downsyndrom in den Bundestag einzieht (Cicero, H. 11. 2014)?
Das Wirtschaftsmagazin »Brand Eins« widmet der Inklusion im Dezember-Heft 2013 zum Thema »Zeitgeist« den Artikel: »Ein ambitionierter Plan. Alle Kinder sollen zusammen lernen, ob behindert oder nicht. Das ist politischer Wille in Deutschland. Und neuerdings einklagbar. Auch machbar?«. Berichtet wird über eine Grundschule sowie ein privates Gymnasium in München, und der Tenor ist, dass Inklusion Freiräume, Zeit, Kommunikation und Geld benötigt. Sehr nüchtern schließt der Artikel: »Ohne milliardenschwere Investitionen wird Inklusion ein Lippenbekenntnis bleiben. Geld allein aber, auch das erfährt man …, reicht nicht« (Brand Eins, 15. Jg., H. 12 v. 2013, S. 149).
Das bringt auf den Punkt, was all jene, die sich in Theorie und Praxis mit der Inklusion beschäftigen, seit langem wissen: Die Vision von Inklusion braucht zwei Voraussetzungen für eine erfolgreiche Annäherung an die gesellschaftliche Realität, zum einen die Veränderung von Bewusstsein und zum anderen die Bereitstellung der materiellen Basis.
Das Ziel, gängige Vorstellungen von Normalität gegen den Strich zu bürsten, in den Medien die Frage zu stellen »Was ist normal«? (Die Zeit Nr. 20 v. 8.5.2013) und in der Kunst und der »Krüppelbewegung« »Unvollkommenes ist schön« zu propagieren, markiert einen auffälligen Bruch mit traditionellen Einstellungen und Überzeugungen.
Ein bemerkenswerter kultureller Wandel offenbart sich aber auch in der Akzeptanz und Verwendung der »Leichten Sprache«. Nicht nur Behörden und amtliche Verlautbarungen befleißigen sich ihrer, sie findet zunehmend auch Eingang in den öffentlichen Raum. Auf der Website hamburg.de wird der Fahrdienst für behinderte Menschen in Leichter Sprache präsentiert, der Deutschlandfunk offeriert das Portal »nachrichten-leicht.de« und sogar Teile der Bibel sind bereits übersetzt worden. Schließlich unterstreicht die Gründung des Instituts für Leichte Sprache und Inklusion (ISI) in Köln im Januar 2014 eine wachsende Bereitschaft der deutschen Gesellschaft, Leichte Sprache als einen »Schlüssel zur Enthinderung der Gesellschaft« (Aichele 2014) zu verankern, ein Schlüssel, der keineswegs nur Menschen mit Lernschwierigkeiten dient, sondern auch allen anderen Bevölkerungsgruppen, die von kommunikativer Exklusion bedroht bzw. betroffen sind.
Aber es ist auch unübersehbar, dass die Debatte um Inklusion in Deutschland häufig von Uninformiertheit, Naivität und dogmatischer Fixierung gekennzeichnet ist, häufig emotional und moralisierend, thematisch verengt und somit einseitig geführt wird, etwa wenn traditionelle »Sonderinstitutionen« wie Förderschulen, Einrichtungen der berufliche Rehabilitation, Werkstätten für behinderte Menschen und andere Einrichtungen pauschal abqualifiziert und ideologische Debatten um ihre Existenzberechtigung geführt werden – Debatten, die oft fruchtlos verlaufen, da sie wichtige Zusammenhänge vernachlässigen.
Es geht mir in diesem Buch nicht um die rückwärtsgewandte Argumentation eines Für oder Wider Inklusion und den Versuch ihrer jeweiligen empirischen Beweisführung. Die Entscheidung für eine inklusive Gesellschaft ist eine wertegeleitete, sie kann daher weder bewiesen noch widerlegt werden, und die Entscheidung für Inklusion ist in Deutschland durch die Ratifizierung der UN-Konvention im Jahre 2009 getroffen worden. Worum es aber in der Gegenwart geht, ist die sehr entscheidende Frage, wie wir das Ziel der Inklusion in gesellschaftliche Praxis umsetzen wollen (s. a. Moser 2012, S. 7). Hier nun tun sich in der Tat beträchtliche Hürden auf, die es aufzuklären und abzubauen gilt.
Die inklusive Gesellschaft ist eine großartige Vision. Sie spornt an, in allen gesellschaftlichen Bereichen dafür zu arbeiten, dass Menschen, die am Rande stehen oder gar von Ausschluss bedroht sind, ihren Platz als Bürger und Bürgerinnen mit unveräußerlichen Rechten in diesem Land finden. Dies betrifft behinderte Menschen, chronisch Kranke, aber auch Sinti und Roma, Flüchtlinge und Migranten, alte und pflegebedürftige Menschen – kurzum all jene, die der solidarischen Unterstützung durch die Gesellschaft bedürfen.
Es liegen unzählige Abhandlungen zum Thema Inklusion vor und die berechtigte Frage muss daher lauten: Noch ein Buch über Inklusion? Wurde nicht schon alles gesagt und geschrieben, was vonnöten ist? Ja, und nein! Es gibt in der Tat in Deutschland viele Publikationen zum Thema Inklusion, aber sie sind in gut deutscher Manier nicht selten moralisch überhöhte und dogmatisch grundierte Programmschriften für die gute Sache oder sie verlegen sich mehr auf Kritik und Abwehr. Was oft fehlt, ist eine Reflexion der Vision von Inklusion in ihrem komplexen Bedingungsgefüge.
Eine tragfähige Veränderung von gesellschaftlichem Bewusstsein im Sinne von Inklusion wird langfristig nur gelingen, wenn realisiert wird, welche tiefe historische Zäsur im Umgang mit behinderten Menschen in Deutschland, aber auch anderen Ländern, die Forderung nach Inklusion darstellt. Ferner bedarf es einer differenzierten, nüchternen Betrachtung internationaler Programmatiken und Praktiken, um einen begründeten nationalen Standpunkt zu entwickeln. Unverzichtbar für die hiesige Diskussion um Inklusion ist auch die Frage nach der Verfasstheit unserer Gesellschaft und im Hinblick auf die inklusive Schule die nach der Struktur des deutschen Schulsystems. Schließlich wird allzu leicht vergessen, dass es einzelne Menschen, die jeweiligen Professionellen, sind, die in der Praxis die Forderung nach Inklusion umsetzen sollen. Sie zu hören und ihre Erfahrungen ernst zu nehmen, dürfte einer der Garanten für eine erfolgreiche Umsetzung des Ziels der Inklusion sein. Ein Schwerpunkt des Buches liegt daher in der Wiedergabe von Interviews, die ich mit Akteuren geführt habe.
Als die Bildungseuphorie und Reformbewegung der 1960er und 1970er Jahre zugunsten der Gesamtschule ins Stocken geriet, benannte der Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke als einen der Gründe für das Scheitern die »historische Ahnungslosigkeit« der Reformer (1977, S. 172 f.). Ein mangelndes historisches Gedächtnis könnte auch die Inklusionsbewegung zu Fall bringen, denn nur wer seine Herkunft kennt, vermag Zukunft zu gestalten. Ich möchte daher im 2. Kapitel zeigen, dass aus historischer Sicht nicht nur Strukturveränderungen, sondern vor allem ein grundlegender Mentalitätswandel erforderlich ist. In der Vergangenheit schwankte der Umgang mit behinderten Menschen stets zwischen Inklusion und Exklusion, und auch in der Pädagogik sind diese Ambivalenzen nachweisbar.
Da in der Forderung nach Inklusion in Deutschland die Behindertenrechtskonvention von 2006 als Kronzeuge angeführt wird, sollen in den Mittelpunkt des 3. Kapitels verschiedene internationale Dokumente zur Behindertenpolitik gerückt werden. Eine Analyse dieser Papiere belegt die Notwendigkeit der Adaption internationaler Programmatiken an nationale Gegebenheiten und bestreitet damit einen Widerspruch zwischen dem Ziel der Inklusion im Sinne von Selbstbestimmung und Teilhabe und der Existenz besonderer Organisationsformen für behinderte Menschen in den einzelnen Ländern.
Inklusion in gesellschaftstheoretischer Dimension wird in Kapitel 4 erörtert, indem Inklusion und Exklusion als ambivalente Prozesse entwickelter Staaten beschrieben werden. Gesellschaftliche Teilhabe auch für behinderte Menschen umzusetzen, kann nur in einem demokratischen Sozialstaat gelingen, in dem auch die Würde der schwächsten Gesellschaftsmitglieder anerkannt und respektiert wird.
Im 5. Kapitel stelle ich die Frage nach der strukturellen Verfasstheit des deutschen Bildungswesens und damit nach den Realisierungschancen einer inklusive Schule, um im anschließenden Kapitel 6 die Entwicklung in Berlin und Hamburg näher zu beleuchten, die beiden Stadtstaaten, die sich seit mehr als vier Jahrzehnte Integration bzw. Inklusion auf die Fahnen geschrieben haben.
Die Sicht der Akteure und damit die Debatte um pädagogische Professionalität bildet den Mittelpunkt des 7. Kapitels, um schließlich im 8. Kapitel am Beispiel von Frankreich, Luxemburg und Schweden erneut die internationale Perspektive aufzunehmen. Das 9. Kapitel wendet sich der besonderen Gruppe der Lernschwachen zu, Schüler, die in entwickelten Schulsystemen schon seit mehr als einhundert Jahren zwischen allen Stühlen sitzen. An ihrer Lage werden ungelöste Strukturprobleme moderner Bildungssysteme, aber auch die Grenzen pädagogischer Anstrengungen erkennbar. Den Abschluss des Buches bilden ein Ausblick in Kapitel 10 und eine Literaturauswahl, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.
Der Schwerpunkt meiner Darstellung liegt, gemäß meiner beruflichen Herkunft, auf dem Felde der Pädagogik – einer Pädagogik, so hoffe ich zu zeigen, die weder gesellschaftspolitischen Allmachtphantasien huldigt noch ihre Bedeutung und Wirksamkeit für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft unter den Scheffel stellt. Dabei sollen vor allem jene zu Wort kommen, die an verschiedenen Orten des pädagogischen Feldes an der Verwirklichung des Ziels Inklusion arbeiten: Lehrer, Schulleiter, Ausbilder, Sozialarbeiter, Behördenvertreter.
Dieses Buch will nicht nur die Fachleute, sondern auch Neugierige und interessierte Laien erreichen. Daher mein Bemühen, jenen Wissenschaftsjargon zu vermeiden, der eher vernebelt als dass er erklärt, und einer affirmativen Sprache aus dem Wege zu gehen, die vermeintliche Gewissheiten vorgaukelt anstatt den kritischen Verstand zu wecken.
Noch eine Vorbemerkung ist unerlässlich. Von behinderten oder beeinträchtigten Menschen zu sprechen, ist eigentlich eine unzulässige Generalisierung, denn keine Behinderung gleicht der anderen. All jene, zu denen eine Sinnesschädigung, eine intellektuelle Einschränkung, eine körperliche oder psychische Beeinträchtigung gehört, sind verschieden, da Individuen. Der Sprachgebrauch verführt uns stets zu Verallgemeinerungen und zur Abstraktion, dem kann auch ich nicht entgehen; es gilt aber auch für dieses Buch, dass es immer nur um den einzelnen Menschen geht.
Eine letzte Bemerkung ist mein Dank an all jene, die dazu beitrugen, dass dieses Buchprojekt schließlich konkrete Gestalt annahm: Klaus-Peter Burkarth vom Kohlhammer Verlag, Dietrich Ellger, Kathleen Fietz, Tobias Hensel und allen Interviewpartnern, die mir ihre Zeit und ihr Vertrauen schenkten.

2 Inklusion und Exklusion: der Blick auf die Geschichte

»Niemals hab’ ich einen Vater gesehen, der seinen Sohn, wenn er auch gleich bucklig oder grindig war, nicht für sein Kind erkannt hätte; obwohl er, wenn er nicht ganz von Zärtlichkeit berauscht ist, schon merkt, wo’s ihm fehlt; aber bei alledem ist es sein Kind.«
Michel de Montaigne 1580
Es ist auffallend, dass in der öffentlichen Debatte um Inklusion die historische Dimension so gut wie keine Rolle spielt. Dieser Mangel an historischem Bewusstsein, der übrigens national (Zymek 2013) und international (Shakespeare 2006, S. 158 f.) beklagt wird, hat allerdings gravierende Folgen für die Diskussion aktueller Problemlagen. Denn nur ein kritischer Blick auf die Geschichte lässt die Gegenwart verstehen und begründete Handlungsperspektiven für die Zukunft entwerfen. Dies gilt auch für den Bereich der Pädagogik. Will man historisch gewachsene Strukturen verändern, so bedarf es nicht nur der Akzeptanz aller Beteiligten, sondern auch eines längerfristigen Mentalitätswandels – wenn nicht das Gegenteil erreicht werden soll. Der Erziehungswissenschaftler Helmut Fend bemerkt hierzu: »Ohne eine historische Sensibilität können Gestaltungsaktivitäten im Bildungswesen schnell zu Vorschlägen und Maßnahmen führen, die an die historisch entstandenen kulturellen Vorgaben nicht anschließbar sind und deshalb vom schulischen ›Innensystem‹ abgestoßen werden« (Fend 2006, S. 17).
Die Geschichte des Umgangs mit behinderten Menschen lässt sich in den Kategorien von Inklusion und Exklusion beschreiben (vgl. Janzten 2010), und die Überlieferungen belegen, dass es zu allen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturen gesellschaftlichen Einschluss und Ausschluss von behinderten Menschen gegeben hat. Dabei kann mit Blick auf die Historie weder von einer kulturoptimistischen Verbesserung der Lage Behinderter die Rede sein noch von der gegenteiligen kulturpessimistischen Annahme einer generellen Verschlechterung ihrer Situation (vgl. Neubert/Cloerkes 1994, S. 96). Die kulturell und zeitlich sehr variablen Reaktionsmöglichkeiten sind vielmehr bedingt durch Einflussfaktoren, die abhängig sind von der Art der Behinderung, dem Zeitpunkt des Eintretens der Behinderung und der Situation der jeweiligen Gruppe, in der der behinderte Mensch sich befindet.
Der Ethnologe Klaus E. Müller (1996) analysierte die jahrhundertelange Entwicklung bei alten Naturvölkern als auch späten Hochkulturvölkern in ihrem Verhältnis zu gesellschaftlichen Außenseitern, wie Menschen mit einer Behinderung. Er beschrieb ihre ambivalente gesellschaftliche Funktion, die zum einen das jeweilige Sozialgefüge und seine Ordnung bedroht, aber zum anderen auch stabilisiert. Nach Müller werden diese Fremden und Andersartigen abgelehnt, ausgegrenzt und verfolgt und zugleich auch wieder »gebraucht«, da ihnen bestimmte hellseherische und heilende Kräfte zugesprochen werden, so etwa geistig behinderten Menschen in einigen Kulturen. Die »Grenzlinge« gehören jedoch unaufhebbar zur Spezies Mensch und daher kann Müller resümieren, »jeder ist seines Nächsten Krüppel« (a.a.O., S. 290), denn »generell, im Vergleich zu den Göttern gesehen, sind an sich jedoch alle Menschen Mängelwesen, unzulänglich beschaffen, mit teils er...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. 1 Auftakt: Der lange Weg zu einer inklusiven Gesellschaft
  6. 2 Inklusion und Exklusion: der Blick auf die Geschichte
  7. 3 Das Recht auf Teilhabe: die UN-Behindertenrechtskonvention und andere internationale Dokumente
  8. 4 Inklusion als gesellschaftspolitische Aufgabe
  9. 5 Gerechte Bildung: die inklusive Schule
  10. 6 Vorreiter in Sachen Inklusion: Die Stadtstaaten Berlin und Hamburg
  11. 7 Pädagogische Professionalität im Wandel
  12. 8 Wie läuft es im Ausland mit der Inklusion? Drei europäische Beispiele
  13. 9 Das »Kreuz mit den Lernschwachen« – oder Grenzen der Pädagogik
  14. 10 Resümee und Perspektiven: »Eine Mitte für alle«
  15. 11 Literatur