Der Psychotherapeut im Film
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Der Psychotherapeut im Film

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Der Psychotherapeut im Film

About this book

Schon kurz nach Entstehung der Psychoanalyse und des Films um 1900 gab es die ersten "Seelenheiler" auf der Leinwand; ihre Geschichte wird bis heute erzĂ€hlt. Das Hollywoodkino schuf Klischees des allwissenden Heilers, des bösen Seelenmanipulators und der liebenswert-schrulligen "Shrinks". Die Figuren sind nicht nur von filmhistorischem Interesse, sondern prĂ€gen die Vorstellung vieler Patienten und Therapeuten darĂŒber, wie "richtige" Psychotherapie gelingen kann. Auch die gesellschaftliche WertschĂ€tzung von Psychotherapie und Psychiatrie wird maßgeblich durch die Darstellung im Kino geprĂ€gt. Die zahlreichen Fallbeispiele beinhalten nahezu alle großen Hollywoodfilme, die sich mit psychischen Erkrankungen und deren Behandlung auseinandersetzen.

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Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2012
Print ISBN
9783170210127
eBook ISBN
9783170281523
Edition
1

1. Vorlesung
Zwischen Traum und Hypnose:
Der Psychotherapeut im Stummfilm
(1895–1933)

Das „Geburtsjahr“ sowohl des Kinos als auch der Psychoanalyse kann mit 1895 angesetzt werden: Freud veröffentlichte gemeinsam mit Breuer die Studien zur Hysterie1 in Wien, die GebrĂŒder LumiĂšre prĂ€sentierten die ersten öffentlichen VorfĂŒhrungen ihrer „bewegten Bilder“ in Paris.
WĂ€hrend Freud seine Traumdeutung2 schrieb, drehte George MĂ©liĂšs in Paris seine verblĂŒffenden Kurzfilme: In drei bis fĂŒnf Minuten wurden dem Publikum „ZauberkunststĂŒcke“ prĂ€sentiert. So sah man etwa einen Mann, der eine senkrechte Wand hinauflief oder eine naiv-poetisch bebilderte Reise zum Mond. WĂ€hrend die GebrĂŒder LumiĂšre das Publikum durch den Realismus ihrer Darstellungen eher erschreckten – bekannt ist die Anekdote vom Publikum, das entsetzt davonlief, als der Zug aus der Leinwand „herausfuhr“ –, versuchte George MĂ©liĂšs, die anti-realistischen Potenziale des Kinos auszutesten. In beiden FĂ€llen aber ging es um Bewegung, um Darstellung von Bewegung. Der ĂŒberwĂ€ltigende Eindruck der ersten bewegten Bilder grĂŒndete auf dieser erstmaligen technischen Darstellbarkeit von BewegungsablĂ€ufen.
Zur gleichen Zeit beschĂ€ftigte sich die Proto-Psychoanalyse mit der Frage, wie die statischen, unbewussten Bilder der traumatisierenden Szenen in der Seele ihrer Patienten durch Sprache, durch die „talking cure“ bewegt und dynamisiert werden könnten, um so eine Heilung zu bewirken. VerblĂŒffend schnell und intensiv interessierten sich die damaligen „Psycho-Wissenschaften“ fĂŒr das neue Medium des Kinematographen: Schon 20 Jahre zuvor hatten sich die Fotos von Charcots Patientinnen großer Beliebtheit erfreut. Seine Lieblingspatientin Augustine hatte Fotografien ihrer AnfĂ€lle fĂŒr die Fans signiert. Jetzt wurden in der SalpĂȘtriĂšre von Charcots Nachfolgern auch filmische Darstellungen hysterischer AnfĂ€lle hergestellt.
Bereits kurz nach 1900 war die filmische Darstellung von abnormen BewegungsablĂ€ufen bei neurologischen und auch psychiatrischen Krankheitsbildern zur Diagnostik und Ausbildung zum Standard in vielen neuropsychiatrischen Kliniken in Europa und den USA geworden. Trotz des Beharrens auf „ObjektivitĂ€t“ wurde krĂ€ftig inszeniert. Bekannt ist etwa das Beispiel eines italienischen „Lehrfilms“ ĂŒber einen hysterischen Anfall von 1908: LA NEUROPATHOLOGIA. Camillo Negro war sowohl Regisseur als auch Darsteller des behandelnden Arztes. Dieser Film bot, wie viele andere Filme der damaligen Zeit, auch erotische „Schauwerte“. Nachdem schon Charcot nur seine weiblichen Patienten fotografieren ließ, blieb auch im Film die Exhibition der Krankheitssymptome von Frauen fĂŒr ein mĂ€nnliches Publikum zentral.
UnabhĂ€ngig davon gab es auch schon zahlreiche Versuche, das neue Medium therapeutisch zu nutzen: Bereits 1914 gab es in 24 psychiatrischen Anstalten in den USA regelmĂ€ĂŸig FilmvorfĂŒhrungen fĂŒr die Patienten, angeblich mit sehr positiven Auswirkungen auf deren Zustand. Gezeigt wurden kurze Filme dokumentarischen oder komödiantischen Inhalts: vor allem ĂŒber Verfolgungsjagden, Tiere, „Eingeborene“ etc.
Am 07.12.1913 erschien in der römischen Zeitung Tribuna ein Bericht ĂŒber eine Filmvorstellung in der Irrenanstalt von Perugia, in dem die heilsamen Wirkungen dieser VorfĂŒhrungen betont wurden:
„Das Kino muss seine heilenden Wirkungen auf die kranken Geister ĂŒbertragen und wird mehr erreichen als Zwangswaschung, Zwangsjacke und Gummizelle.“ 3
Noch in demselben Jahr wurde der Artikel mehrmals nachgedruckt, u. a. fĂŒr eine österreichische Film-Fachzeitschrift mit dem Titel Das Kino im Irrenhaus.
Dass auch Patienten selbst von der therapeutischen Wirkung des Films ĂŒberzeugt waren, zeigt ein frĂŒhes Beispiel aus Amerika: Mrs. Johanna Goldbach war (laut Motography 1912) der treueste Stammgast im Kino von Long Island. Sie liebte die Stummfilme, die sie in erster Linie als Therapie gegen ihre nervösen Beschwerden aufsuchte. Nun sei sie bereits völlig genesen, komme aber weiterhin aus Freude an den Filmen ...4
Sehr bald tauchten die ersten Therapeuten im Film auf (es handelte sich ĂŒbrigens lange Zeit ausschließlich um MĂ€nner). Diese Filme waren wenige Minuten lang, daher darf man hier keine subtile Charakterzeichnung erwarten. Ein frĂŒhes Hollywood-Beispiel dafĂŒr ist DR. DIPPY’S SANATORIUM aus dem Jahr 1906: Es handelt sich bei diesem Film um eine harmlose Komödie fĂŒr die ganze Familie. Die Insassen eines „Irrenhauses“ ĂŒberwĂ€ltigen ihre WĂ€rter und brechen aus, können aber vom spĂ€ter im Film auftretenden Anstaltsleiter Dr. Dippy unschwer und gewaltlos wieder zur RĂ€son gebracht werden. Er bringt ihnen einen großen Picknickkorb auf die Wiese, wo sie lagern, der Film endet mit dem gemĂŒtlichen gemeinsamen Schmausen von „Apple-Pie“. NatĂŒrlich ist dieser Streifen weder aus psychotherapeutischer noch aus filmhistorischer Sicht ĂŒberhaupt von Bedeutung. Allerdings sehen wir hier bereits ein Klischee des Psychiaters, das in den nĂ€chsten fĂŒnfzig Jahren fast unverĂ€ndert und hĂ€ufig reproduziert wird.
In Dr. Dippy sieht Irving Schneider das erste Beispiel eines der drei â€žĂŒberdauernden Psychiater-Klischees im Hollywood-Film“: Die anderen beiden nennt er Dr. Wonderful und Dr. Evil:5
Dr. Dippy ist eigentlich liebenswert, allerdings ein bisschen lĂ€cherlich. Er trĂ€gt einen Frack, einen langen Bart und eine Brille. Er bewegt sich etwas ungeschickt, wirkt aber insgesamt freundlich und durchaus um seine Patienten bemĂŒht. Die VorlĂ€ufer dieser Klischee-Gestalt finden sich in der Commedia dell’arte, bei MoliĂšre und als aufgeblasenpompöser Arzt in zahllosen TheaterstĂŒcken. Insgesamt lĂ€dt Dr. Dippy eher zum Schmunzeln oder lauten Lachen ein – ebenso wie andere Karikaturen, die eine AutoritĂ€tsfigur der LĂ€cherlichkeit preisgeben.
Dr. Evil hingegen entspricht dem Klischee des verrĂŒckten Wissenschafters, der seine Patienten ausbeutet oder ihre Krankheit böswilligerweise erst erzeugt. Dr. Evils literarische VorlĂ€ufer entstammen der schwarzen Romantik: In der deutschen und englischen Literatur des 19. Jahrhunderts finden wir zahllose dunkle Hypnotiseure, Mesmeristen und sonstige Scharlatane oder Wunderheiler. Je nach Epoche variieren die Attribute dieser bedrohlichen Figuren vom Labor Ă  la Dr. Frankenstein bis zu glitzernden High-tech-Apparaturen. Am gefĂ€hrlichsten aber wirkt oft die FĂ€higkeit dieser Bösewichte, durch Suggestion und EinfĂŒhlung ihre Opfer zu steuern. Dr. Evil kann immer auch gelesen werden als Sinnbild der Angst vor mentaler Beeinflussung, Gedankenlesen, GehirnwĂ€sche etc.
Das positive Gegenbild zur Bedrohung durch Dr. Evil ist der idealisierte Heiler mit ĂŒbermenschlichen KrĂ€ften: Dr. Wonderful! Dieselben empathischen und intellektuellen QualitĂ€ten, die Dr. Evil zur Bedrohung fĂŒr die ganze Welt machen, sind bei diesem positiven Kontrastbild die Garantie fĂŒr Hilfe und Heilung – oft Heilung durch Liebe zu seinen Patientinnen. Dr. Wonderful evoziert (Übertragungs-)GefĂŒhle von Bewunderung und Verliebtheit. Je nach Bedarf kann er edelvergeistigt und asketisch oder aber als sinnlicher Traumprinz auftreten.
Alle drei Psychiater-Klischees des Kinos sind Erben alter Figuren des Theaters oder des Rituals, alle drei Klischees illustrieren jeweils unterschiedliche GefĂŒhle gegenĂŒber geliebten, gehassten oder verlachten AutoritĂ€tsfiguren. Jedem dieser drei Klischees entspricht ein Filmgenre: Dr. Dippy eignet sich wunderbar als Komödienfigur, wĂ€hrend Dr. Wonderful meist in Melodramen auftritt. Das Reich des Dr. Evil hingegen ist der dunkle Thriller, der Film noir. Über Jahrzehnte der Filmgeschichte kann man auch die Abfolge verschiedener Klischees bei der Darstellung einer ganz spezifischen therapeutischen Praxis nachzeichnen: So erleben wir Psychoanalytiker im Kino bis zu den FĂŒnfzigerjahren meist als Dr. Wonderful, danach hĂ€ufig als dĂ€monische Vertreter des Dr. Evil, seit den Neunzigerjahren wahrscheinlich am hĂ€ufigsten als skurrile Dr. Dippys. Diese Abfolge in der „Übertragungsbeziehung“ Hollywoods zur Psychoanalyse wiederum ist ein getreues Abbild des gesamtgesellschaftlichen Stellenwertes dieser Methode.
Eines der frĂŒhesten Beispiele fĂŒr Dr. Wonderful im Kino zeigt uns einen Therapeuten, der durch die Macht der Filmbilder eine todgeweihte Patientin heilt und rettet:

Le MystĂšre des Roches de Kador (L. Perret 1912)

1912 entstand ein Stummfilm, der anlĂ€sslich seiner Wiederentdeckung bei einem Festival im Jahr 1995 in Pordenone als „erster Film ĂŒber die Psychoanalyse”6 gefeiert wurde – eine fast schon rĂŒhrende FehleinschĂ€tzung: LE MYSTÈRE DES ROCHES DE KADOR (in Deutschland und Österreich wurde er unter dem weniger „trashigen“ Titel: EWIGE ZEUGEN gezeigt). Der Regisseur LĂ©once Perret schuf ein lupenreines Melodram mit einer klassischen Dreiecks-Konstellation:
Die junge Suzanne de Lormel lebt bei ihrem Vormund Graf Fernand de KĂ©ranic in der Bretagne. Der verschuldete Vormund drĂ€ngt sein MĂŒndel zur Heirat, um an ihr Erbe zu gelangen. Sie aber ist glĂŒcklich verliebt in den KapitĂ€n Jean d’Erquy. Als Graf KĂ©ranic dies entdeckt, lockt er den KapitĂ€n – durch FĂ€lschung eines Briefes in Suzannes Handschrift – zu einem Stelldichein in der Meeresbucht bei den Felsen von Kador. Dort will er ihn und Suzanne töten, denn auch im Falle ihres Todes oder einer unheilbaren Krankheit fĂ€llt das Vermögen an ihn!
In einer hochdramatischen Szene sieht der getĂ€uschte KapitĂ€n die vom Grafen vergiftete und ohnmĂ€chtige Suzanne am Strand liegen, eilt verzweifelt zu ihr, wird vom Schurken de KĂ©ranic angeschossen, versucht noch, sich und Suzanne ins rettende Boot zu schleppen, bricht zusammen. Suzanne erwacht aus ihrer Ohnmacht, sieht den Geliebten reglos im Sand liegen, hĂ€lt ihn fĂŒr tot – ihr schwinden neuerlich die Sinne 
 Viele Wochen spĂ€ter ist jedoch der KapitĂ€n wieder genesen. Suzanne aber verharrt durch den Schock in Apathie und Stupor, in „unheilbarer Umnachtung“, reagiert auf keinerlei Reize. Der böse Vormund kann daher ihr Erbe fĂŒr sich in Anspruch nehmen. Aber es gibt noch Hoffnung: Der verzweifelte Verlobte bittet den berĂŒhmten Professor Williams um Hilfe, „einen der bedeutendsten Ärzte der Neuzeit“, der „mit der Anwendung der Kinematographie auf GemĂŒtskranke“ berĂŒhmt geworden ist. Dieser Professor dreht jetzt gemeinsam mit dem Verlobten einen „Film im Film“, in dem dargestellt wird, was in der fĂŒr Suzanne traumatischen Szene wirklich geschah. Suzanne wird im Rollstuhl in den VorfĂŒhrraum gebracht, der Film wird ihr gezeigt, und wĂ€hrend der VorfĂŒhrung erwacht sie wunderbarerweise aus ihrem halb-komatösen Zustand. Sie wankt auf die Leinwand zu, erkennt sich im Film und fĂ€llt geheilt und glĂŒcklich ihrem Verlobten in die Arme 
 (Zwischentitel des Stummfilms: „Sie weint, sie ist gerettet. Sie ist geheilt, ihre Erinnerung kehrt zurĂŒck.“).7
Sigmund Freud wĂ€re wohl wenig amĂŒsiert gewesen ĂŒber die Rezension, die in der „Ersten Internationalen Filmzeitung“ von Hans Joachim von Winterfeld geschrieben wurde:
„Ärzte-Kreise wird der Film besonders interessieren. Versucht er doch die Freud’sche Theorie, daß das getrĂŒbte Unterbewusstsein durch Wiederholung der VorgĂ€nge geweckt werden kann, zu erhĂ€rten.“8
Realistischerweise kann man die „Quellen“ des Regisseurs LĂ©once Perret eher in einen kulturellen Kontext des damaligen französischen Interesses sowohl fĂŒr Parapsychologie als auch fĂŒr moderne Technologien einordnen. Trotzdem ist der Verweis des Rezensenten auf die Psychoanalyse verstĂ€ndlich. Immerhin heißt es zu Beginn der „Studien zur Hysterie“:
„Wir fanden nĂ€mlich, anfangs zu unserer grĂ¶ĂŸten Überraschung, dass die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgrund zur voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen [
] und wenn der Kranke den Vorgang in möglichst ausfĂŒhrlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab.“ 9
Das Bild muss also zum Wort und zur ErzÀhlung werden, damit die Heilung eintreten kann.
Die oben genannten frĂŒhen Beispiele aus jenen Jahren, als die Bilder im Kino „laufen lernten“, können w...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. 1. Vorlesung Zwischen Traum und Hypnose: Der Psychotherapeut im Stummfilm (1895–1933)
  6. 2. Vorlesung Die goldenen Jahre: Psychoanalyse und Hollywood (1945–1965)
  7. 3. Vorlesung In Ungnade gefallen: Psychotherapie als Anpassungs-Agentur (1965–1975)
  8. 4. Vorlesung Clowns, Schurken und liebende Frauen: Pluralismus der Darstellungen von Psychotherapie im Film seit 1975
  9. 5. Vorlesung Die Heilung der Seele im Kino: Liebe statt Technik?
  10. Verzeichnis der Filme
  11. Literatur