Teil IV
Begriff und Phänomen
der geistigen Behinderung
Wolfram Kulig, Georg Theunissen & Ernst Wüllenweber
Geistige Behinderung
Geistige Behinderung ist ein seltsam doppelgesichtiger Begriff. Einerseits bestimmt er die pädagogische Praxis, strukturiert weite Teile der Theoriebildung, verteilt juristisch gesehen Leistungsansprüche und ist auch im normativ-moralischen Sinne immer wieder Grundlage einer Diskussion über Einschluss oder Ausgrenzung bestimmter Personengruppen. Andererseits entzieht er sich bis heute einer eindeutigen Bestimmung (Speck 1999, 38 ff.; Mühl 2000, 45 ff.; 2002; Theunissen 2005, 11 ff.). Ein Begriff, der in vielen theoretischen und praktischen Feldern hohen Strukturwert hat, ist selbst keineswegs eindeutig strukturiert.
Während im Bereich der Rechtssetzung und der Sozialverwaltung mit einem finalen Behinderungsbegriff gearbeitet wird, steht die pädagogische Theorie dem Terminus immer wieder kritisch gegenüber. Ein eigenständiger Beitrag zur Klärung dieses Problems kann hier selbstverständlich nicht geleistet werden. Vielmehr geht es darum, einige hauptsächliche Bestimmungsversuche aus theoretischer Sicht aufzuzeigen. Hier soll davon ausgegangen werden, dass geistige Behinderung als ein soziales Phänomen in Erscheinung tritt, welches aus verschiedenen theoretischen Blickwinkeln beschrieben werden kann und mit verschiedenen Ansätzen praktisch bearbeitet wird.
Da es vor dem Hintergrund dieser Annahme wenig sinnvoll erscheint, geistige Behinderung unabhängig vom Kontext – gewissermaßen als Phänomen „an sich“ – zu betrachten, soll sie hier unter verschiedenen theoretischen Blickwinkeln als ein Bestandteil des menschlichen Lebens und der Gesellschaft diskutiert werden.
Dabei wird zuerst der Begriff selbst thematisiert, zum zweiten werden die Hauptströmungen theoretischer Beschreibungsversuche aufgezeigt, drittens wird ein Modell diskutiert, das einen modernen Beschreibungsvorschlag beinhaltet und schließlich werden viertens einige Angaben zur Prävalenz angefügt.
Zum Begriff „geistige Behinderung“
Der Begriff „geistige Behinderung“ wurde Ende der 1950er Jahre maßgeblich von der Elternvereinigung „Lebenshilfe“ in die fachliche Diskussion eingebracht. Damit sollten zum einen die als diskriminierend empfundenen Begriffe wie „Schwachsinn“, „Blödsinn“ oder „Idiotie“ ersetzt werden, und durch die Verwendung des Behinderungsbegriffes wurde die Personengruppe erstmals anderen Behinderungen sprachlich zugeordnet. Außerdem wollte man Anschluss an die amerikanische Terminologie (mental handicap, mental retardation) finden. Von Anfang an wurde der Begriff „geistige Behinderung“ also nicht nur deskriptiv verwand, sondern er hatte zugleich eine ausgeprägt normative Seite. Die heutige Verwendung des Begriffes beinhaltet ebenfalls beide Seiten, was sich auf eine fachliche Debatte zum Teil negativ auswirkt. Eine derartige Begriffsbestimmung verleitet nämlich dazu, aus der Beschreibung einer bestimmten Personengruppe (Deskription) Normen und Wertvorstellungen für die pädagogische Arbeit mit diesen Personen abzuleiten (Präskription). In der pädagogischen Praxis mögen derartige Folgerungen zulässig und auch sinnvoll sein, in der Theoriebildung hingegen ist ein solcher Schluss von einem Sein auf ein Sollen als naturalistischer Fehlschluss unzulässig. Es wird hier nicht davon ausgegangen, dass die wissenschaftliche Heil- oder Sonderpädagogik die Formulierung von Erziehungszielen oder auch anzustrebenden Lebensverhältnissen aus ihrem Aufgabenfeld ausblenden soll; jedoch sollte die Vermischung von beiden Arten von Sätzen in der theoretischen Debatte vermieden werden.
In die wissenschaftliche Debatte wurde der Begriff der Behinderung (und damit der geistigen Behinderung) insbesondere von Bleidick um 1970 mit seinem Werk „Pädagogik der Behinderten“ eingeführt. Bleidick selbst hatte die oben angesprochene Kritik der Begriffsvermischung damals vermieden, indem er den Bereich der Normsetzung und Wertedebatten in einem eigenen Aufgabenfeld der „Erziehungsphilosophie“ bearbeitet sehen wollte.
Im Laufe der Zeit wurde der Begriff der geistigen Behinderung mit verschiedenen Ansätzen in beschreibender und auch normativer Hinsicht gefüllt und geriet im Zuge dieser Ausarbeitungen immer wieder selbst in den Verdacht, die Personengruppen zu stigmatisieren. Besonders seit den 1990er Jahren wird verstärkt diskutiert, ob der Begriff nicht seine ursprünglich positive Konnotation verloren habe und durch andere Termini ersetzt werden müsse (dazu Theunissen 2005). So stoßen wir zum Beispiel auf Begriffsalternativen wie:
- Menschen, die als geistig behindert gelten/bezeichnet werden;
- Menschen mit kognitiver, intellektueller oder mentaler Behinderung/Beeinträchtigung;
- Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf/Hilfebedarf;
- Menschen mit Lernschwierigkeiten (favorisiert von Betroffenen bzw. People First).
Obwohl diese Bemühungen um begriffliche Veränderungen nachvollziehbar und notwendig erscheinen, sollen einige Schwierigkeiten eines Begriffswandels benannt werden:
- Geistige Behinderung ist inzwischen zu einem allgemein verständlichen Begriff geworden. Es würde vermutlich einen langen Zeitraum einnehmen, bis eine neue Bezeichnung einen vergleichbar hohen Verständigungsgrad auch in der Alltagssprache erreichen könnte.
- Die zur Zeit bestehende (labile) Übereinkunft über den Begriff „Geistige Behinderung“ würde für einen langen Zeitraum einer Konfusion verschiedenster Termini weichen.
- Die interdisziplinäre Kommunikation zwischen Pädagogik, Medizin, Psychologie und Soziologie würde über einen langen Zeitraum erschwert werden, da sich die nichtpädagogischen Fachdisziplinen vermutlich einer Umbezeichnung solange verschließen würden, bis ein einheitlicher neuer Konsens gefunden wird.
- Geistige Behinderung ist auch ein sozialrechtlich relevanter Begriff. Durch eine „Begriffskonfusion“ könnten den behinderten Menschen Probleme (Nachteile) bei der Gewährung von Unterstützung und finanziellen Hilfen erwachsen.
- Die Konstruktion neuer Begriffe kann zunächst einen theoretischen Rückschritt nach sich ziehen. Alte Begriffe besitzen in der Regel einen empirisch und theoretisch entwickelten Gehalt, der nicht ohne weiteres auf neue Begriffe übertragen werden kann. Ein solcher Gehalt müsste bei einem neuen Begriff erst entwickelt werden.
- Als Hauptargument ist jedoch anzuführen, dass ein neuer Begriff in relativ kurzer Zeit einen genauso stigmatisierenden Effekt erzeugen würde wie der derzeitige Terminus „geistige Behinderung“. Eggert (2003, 8) verweist zum Beispiel auf diesen Aspekt: „Nun lässt sich gerade in der Behindertenpädagogik kein völlig neuer und damit nicht diskriminierender Begriff denken, weil beim Wechsel der Begriffe die Konnotationen des alten Begriffs bald schon auch auf den neuen Begriff übertragen werden“.
Die hier vorgestellten Gedanken zum Begriff der geistigen Behinderung unterstreichen noch einmal die Ausgangsthese seiner generellen Unschärfe. Sie zeigen auf, dass der Begriff seit Beginn seiner Verwendung stets deskriptiv und normativ verwandt wurde. Es wird aber auch deutlich, dass eine Ersetzung dieses Begriffes wohl kaum die wissenschaftlich anzustrebende Klarheit mit sich bringen würde. Die Mehrdeutigkeit des Begriffes der geistigen Behinderung ist maßgeblich auf die verschiedenen Ausarbeitungs- und Bestimmungsversuche im Laufe der Zeit zurückzuführen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder eine endgültige Systematik sollen einige dieser Bestimmungsversuche vorgestellt werden (genauere Ausführungen hierzu Speck 1999; Theunissen 2005).
Konzepte zur Bestimmung von geistiger Behinderung
Die erste wissenschaftlich orientierte Auseinandersetzung mit der Personengruppe, die wir heute als geistig behindert bezeichnen, erfolgte bereits im frühen 19. Jahrhundert in der deutschsprachigen Psychiatrie. So unterteilt der Hallenser Anatom und Mediziner Johann Christian Reil Personen mit kognitiven Einschränkungen in drei Gruppen:
„Der erste Grad ist am schwersten zu bestimmen, weil er eine Demarkationslinie zwischen gesundem Menschenverstand und beginnenden Blödsinn voraussetzt. ... Der mittlere Grad ist von beiden Endpunkten gleich weit entfernt. Der Kranke ist nicht ganz sinnlos, sondern fasst noch die einfachsten Begriffe, doch er ist zu den gemeinsten Geschäften unfähig, wenn sie nicht ganz mechanisch abzumachen sind. ... In dem äußersten Grade des Blödsinns ... fehlen alle Wahrnehmungen der Sinne ...
Der Kranke hört ein wildes Geräusch, aber überall keinen verständlichen Ton. ... Er ist ohne Begriffe, Urteile, Gefühle, Leidenschaften, aber ohne Triebe und Willen. ... Der Kranke bewegt sich äußerst träge oder gar nicht. ... Kurz, er lebt zwar, weil er vegetiert, aber außer dieser allgemeinen Funktion des Organismus ... ist weiter kein Charakter der Tierheit vorhanden“ (zit. n. Theunissen 2000, 24).
Was hier in der Sprache des beginnenden 19. Jahrhunderts – aus heutiger Sicht recht drastisch – zitiert wird, zeigt eine bestimmte Betrachtungsweise von geistiger Behinderung, die bis heute in einigen bekannten Lehrbüchern der Psychiatrie nachwirkt (ebd. 2000, 48 ff., 2005, 15 f.). Diese Sichtweise kann man als eine radikal individualtheoretische auffassen. Behinderung wird ausschließlich als eine Eigenschaft des einzelnen Menschen aufgefasst und in Form einer Krankheit beschrieben. Dabei werden beim „letzten Grad“ der Behinderung der betroffenen Person beinahe alle menschlichen Eigenschaften abgesprochen, sie verschwindet gewissermaßen hinter ihrer psychiatrischen Diagnose. Da geistige Behinderung in einem solchen Verständnis als „unheilbar“ gilt, hat diese Sichtweise auch entsprechende Auswirkungen auf den Umgang mit den betroffenen Personen (dazu ausführlich Theunissen 2000). In diesem Verständnis kann ein „Kranker“ nur als dauerhafter Pflegefall begriffen werden, weshalb eine Versorgung Betroffener in Anstalten oder Heimen, die wie ein Krankenhaus geführt wurden, bis weit ins letzte Jahrhundert hinein wirksam gewesen war.
Dieses psychiatrisch-medizinische Modell gilt nunmehr seit einigen Jahren in der Heil- oder Sonderpädagogik sowie im fortschrittlichen Lager der Psychiatrie und klinischen Psychologie1 als gänzlich überholt. Zwei maßgebliche, pädagogisch gelagerte Argumente, die gegen diesen Ansatz vorgebracht werden, sind die völlige Ausblendung von Umweltfaktoren auf die Entwicklung des behinderten Menschen und die Einseitigkeit der Beschreibung, die nur Defizite bei der behinderten Person feststellt.
Trotzdem finden sich jedoch nach wie vor inhärente Grundgedanken einer defizitorientierten und differenztheoretischen Sichtweise nicht nur in der klinischen, sondern gleichfalls in der heilpädagogischen Fachliteratur. So werden zum Beispiel von v. Oy und Sagi (2001, 15 ff.) in ihren viel beachteten Lehrbuch der „heilpädagogischen Übungsbehandlung“ ausschließlich Negativkriterien zur Bestimmung von Menschen mit geistiger Behinderung herangezogen:
„Der geistig Behinderte ist unfähig, sein Leben selbständig zu gestalten, ... ist mehr oder weniger unfähig
Zusammenhänge logisch zu erfassen und in ein für ihn durchschaubares System einzuordnen, Erfahrungen auf ähnliche Situationen zu übertragen (Transfer), zwischen logischem und chronologischem Zusammenhang sicher zu unterscheiden, langfristig, manchmal auch kurzfristig zu planen.“
Dieser Katalog ließe sich fortsetzen, aber die angeführten Beispiele zeigen bereits deutlich, dass hier eine Sichtweise auf geistige Behinderung verbreitet wird, die mittels einer Abgrenzung von einer nicht explizit beschriebenen Vorstellung des Normalen operiert. Im Gegensatz zur eingangs anskizzierten psychiatrisch-orthodoxen Argumentation bleibt allerdings Raum für pädagogische Maßnahmen. Diese zielen in erster Linie auf den Ausgleich von Defiziten und werden weithin kompensatorisch konzipiert. Das bedeutet, dass in diesem Zusammenhang die heilpädagogische Grundüberlegung nicht auf Autonomie und Lebenssouveränität zielt. Vielmehr legitimiert ein solches Konzept auf individueller Ebene eine fortwährende Besonderung des betroffenen Personenkreises und auf institutioneller Ebene ein ausdifferenziertes Sonderschulsystem.
Dieser Ansatz steht heute im Zeichen der Kritik, da emanzipatorische Bildungsziele, Rechte, Perspektiven und Potentiale (Stärken) der Betroffen...