1 Psycho(onko)logie und Klinikseelsorge
1.1 Psychoonkologie
Mitte des letzten Jahrhunderts wurde (parallel zum Betreuungskonzept der Palliativmedizin) die Psychoonkologie als interdisziplinÀre Spezialdisziplin im Schnittpunkt von Onkologie, Innerer Medizin, Psychiatrie und Psychosomatik entwickelt, um eine ganzheitliche Versorgung der Patienten in allen Stadien ihrer Erkrankung zu gewÀhrleisten. Sie befasst sich mit der Beratung, Begleitung und Behandlung von Problemen und Verhaltensweisen von Krebspatienten in den verschiedenen Erkrankungsphasen, der Rehabilitation und des Sterbens.77
Die Sicht auf KrankheitsbewĂ€ltigung als individuelles, interaktives und soziales Prozessgeschehen ist speziell das Verdienst der Psychoonkologie. Die Definition des Begriffs KrankheitsbewĂ€ltigung variiert je nach dem zugrunde liegenden theoretischen Modell und kann die Haltung der Erkrankung gegenĂŒber meinen, die Befindlichkeitsregulation oder Lösung krankheitsbedingter Probleme oder die Anpassung an die durch die Erkrankung verĂ€nderte Lebenssituation und die Aufrechterhaltung eines bestimmten Performanzniveaus.78
Die supportive Betreuung der Patienten durch den psychoonkologischen Dienst ist in Qualifikation und Aufgabenprofil als Teil des Gesundheitssystems genau definiert. Nach den Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft richten sich die psychoonkologischen Interventionen auf die Themen: Angst, Depression, Belastungserleben, Krankheitsverarbeitung, gesundheitsbezogene LebensqualitÀt und funktioneller Status, Körperbild, Selbstkonzept, soziale Beziehungen, Kommunikation, SexualitÀt, Fatigue, Schmerzen, Behandlungscompliance und -adherence sowie neuropsychologische BeeintrÀchtigungen (Aufmerksamkeit, GedÀchtnis, KonzentrationsfÀhigkeit).79
Das zentrale Ziel psychoonkologischer Arbeit ist die psychosoziale UnterstĂŒtzung der an Krebs Erkrankten und ihrer Angehörigen. Erst seit den 1980er Jahren ist auch die Palliativversorgung von Tumorpatienten Thema der Psychoonkologie.80 Es bleibt weiterhin die Ausnahme, dass Psychotherapeuten in den letzten Stunden noch Kontakt zu ihren Patienten haben. Ăblich ist eher ein gestalteter Abschied einige Wochen vor dem Lebensende. Derzeit werden im Bereich der Onkologie fĂŒr die Leitlinien Psychoonkologie und Palliativmedizin sowohl organspezifische als auch diagnoseĂŒbergreifende Leitlinienthemen entwickelt.81
Die im psychologischen Dienst tÀtigen Psycho(onko)logen arbeiten, sofern sie psychotherapeutisch weitergebildet sind, je nach Ausrichtung der Hochschule in deren Umkreis sie nach dem Studium tÀtig werden, in der Regel entweder verhaltenstherapeutisch oder tiefenpsychologisch orientiert. Die psychodynamischen wie verhaltenstherapeutischen Richtungen sind in der Psychoonkologie als klassische Therapieverfahren weit verbreitet und von den KostentrÀgern anerkannt.82
In der klinischen Psychotherapie ist die Auseinandersetzung mit dem VerhĂ€ltnis von Psychotherapie, Religion und SpiritualitĂ€t traditionell nicht ĂŒblich. Die religiöse Seelsorge wird seitens der Psychotherapie eher als âKonkurrenzâ und âVorlĂ€uferinâ angesehen.83 Nicht selten wird von Psychotherapeuten/Psychoonkologen, die in der Klinik Teil des therapeutischen Teams sind, der Anspruch vertreten, es gehe in der Arbeit darum, âobjektivâ festzustellen, was âtatsĂ€chlichâ wirkt, ein Anspruch, den der Viktor-Frankl-PreistrĂ€ger der Stadt Wien (2005)84 und inzwischen emeritierter Professor fĂŒr Psychotherapie und Klinische Psychologie zu OsnabrĂŒck, JĂŒrgen Kriz, mit Verweis auf Heisenberg85 als âmaĂlos im Vergleich zur Bescheidenheit moderner Physikâ und als âverantwortungslosâ86 kritisiert:
â[âŠ] wer so spricht, drĂŒckt sich um seine Verantwortung herum, dass es um seine Beziehung zur Psychotherapie, zum Menschen und zur Welt geht, wenn er so tut, als könne er quasi unbeteiligt, objektiv und unschuldig die âWeltâ, den Menschen oder die Psychotherapie beschreiben.â87
In der psychoonkologischen Praxis bleibt nach der Erfahrung der Verfasserin auch die Sinn- und Wertfrage, vor allem bei Verhaltenstherapeuten, derzeit in der Regel insbesondere mit Verweis auf die Pflicht zur NeutralitĂ€t ausgeklammert. Ob Patienten Aspekte von SpiritualitĂ€t oder ReligiositĂ€t sowie Sinn- und Wertfragen als sie bewegende Themen in das psychotherapeutische GesprĂ€ch einbringen und eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen zu einem wichtigen Bestandteil der therapeutischen Arbeit werden kann, dĂŒrfte zum Teil auch darauf zurĂŒckzufĂŒhren sein, ob und wie Therapeuten und Therapeutinnen solche Themen wahrzunehmen und aufzunehmen bereit sind.88 Der Kontext, in dem die praktisch-psychotherapeutische Arbeit stattfindet (ambulante Praxis oder Klinik) spielt dabei ebenso eine Rolle wie der Sozialraum ([groĂ-]stĂ€dtisch, lĂ€ndlich, vorherrschende weltanschauliche PrĂ€gungen) und die Therapierichtung, die der jeweilige Psychotherapeut bzw. Psychoonkologe vertritt.89
1.2 Themen psychoonkologischer Forschung
Der Blick auf die psychoonkologische Forschung zeigt ein anderes Bild: Werterleben, Hoffnung und Sinnerleben, SpiritualitÀt und ReligiositÀt sind inzwischen durchaus Themen psychologischer und psychoonkologischer Forschung geworden.90
Hoffnung hat aus der Sicht der Psychoonkologie insgesamt einen deutlich funktionalen Charakter. Gerade bei Krebserkrankungen fĂ€llt auf, dass seitens der Medizin, aber auch in der Psychoonkologie sprachlich oft Kriegsmetaphern zum Einsatz kommen. Hoffnung wird dann verstanden als Waffe im Kampf gegen die Krankheit. Es besteht auf Seiten der Patienten eine regelrechte Pflicht zur Hoffnung, verbunden mit dem (unausgesprochenen) Verbot, Angst, Ărger, Sorgen und Traurigkeit zu Ă€uĂern. Es besteht ein sozialer Druck zur Hoffnung, da Hoffnungsverlust als unerlaubte Waffenniederlegung, als Zustandsverschlechterung ausgelegt wird. Ebenso wird eine Symptomverschlechterung gerne als Niederlage interpretiert.
Der Psychoonkologe KĂŒchler geht darĂŒber hinaus und differenziert:
â[Hoffnung] ist ein Akt der Selbsttranszendenz und wird im Zusammenhang mit den verschiedenen Phasen der Erkrankung gesehen. Hoffnung richtet sich auf etwas Mögliches. Dies unterscheidet sie von anderen KrankheitsbewĂ€ltigungsstrategien. Sie wird vorwiegend im Kontext von SpiritualitĂ€t bzw. Religion thematisiert. Damit ist allerdings implizit die transzendente Dimension der Hoffnung bereits angesprochen.â91
Die Frage nach dem Sinn ist gerade in den Krisensituationen an den Grenzen des Lebens zunehmend auch Gegenstand medizinischer, psychologischer und sozialwissenschaftlicher Forschung. Es wird gesehen, dass Sinn- und Wertfragen in engem Zusammenhang mit religiösen und spirituellen Fragen einerseits und medizinischen Fragen andererseits stehen, wobei die Beantwortung dieser Fragen im Setting der Klinik nicht mehr (ausschlieĂlich) aus theologischer Expertise heraus erwartet wird.92
Dieser Wandel hat sich in der psychoonkologischen Forschung niedergeschlagen. Psychoonkologische Untersuchungen der letzten Jahre zeigen, dass sich die Auseinandersetzung mit Sinnfragen auf das Leben von Krebskranken positiv auswirken kann.93 âSinnerfahrung scheint mit besserer psychischer Anpassung an die Erkrankung einherzugehenâ94. Beispielhaft sollen einige EntwĂŒrfe kurz skizziert werden.
1.2.1 Meaning-based Coping (Susan Folkman und Steven Greer)
Ein bekanntes Modell der Psychoonkologie ist das sogenannte âmeaning-based copingâ, im Jahr 2000 vorgestellt von Folkman und Greer.95 Bereits in den 1960er Jahren wurde ausgehend von den Ergebnissen der Stressforschung deutlich, dass die subjektive B...