III. Fachteil: Psychiatrische und relevante körperliche Störungen
13 Genetische Störungen
Christiane Zweier
Die subjektive Perspektive
»Das Leben ist nicht einfacher, der eine Tag läuft besser, der andere schlechter. Estha braucht viel Beschäftigung und Aufmerksamkeit, Arzttermine, intensive Krankenhausaufenthalte im Kinderzentrum München, wo wir Eltern auch psychologisch begleitet werden. Logopädische Therapie und Krankengymnastik werden sie wohl Zeit ihres Lebens begleiten.
Große Unterstützung bekamen wir von Anfang an von ihrem Umfeld: Eltern, Geschwistern, Verwandten und Freunden (es haben sich auch viele abgewandt, weil sie vielleicht nicht wissen, wie sie mit uns und Estha umgehen sollen), was sehr, sehr wichtig ist. Sie nehmen uns viel ab und stützen uns mental sehr stark. Wichtig ist, sehr offen über das Thema zu sprechen, auch wenn es manche nicht hören wollen.
Das ist unser persönlicher Wunsch: Wir wollen um Toleranz, Verständnis und Unterstützung für behinderte Menschen werben. Wir wollen ein Zeichen setzen, dass man Behinderungen zulässt und akzeptiert, dass behinderte Menschen einen berechtigten Platz in der Gesellschaft bekommen. Und andererseits, dass sich Eltern von behinderten Kindern nicht abkapseln und aufgeben, dass sie auch Hilfen akzeptieren und annehmen und ihre Kinder nach Kräften fördern.«
Estha ist neun Jahre alt und hat ein Pitt-Hopkins-Syndrom (vgl. auch genetische Diagnostik)
Brief einer Mutter aus Süddeutschland, September 2017
13.1 Allgemein
In den westlichen Industrienationen tritt eine intellektuelle bzw. psychomotorische Entwicklungsstörung bei ungefähr 2–3 % der Kinder auf. Bei unauffälliger Schwangerschafts- und Geburtsanamnese wird in den meisten Fällen von einer genetischen Ursache ausgegangen. Diese sind sehr heterogen und umfassen sowohl chromosomale Veränderungen als auch Punktmutationen in einem von vielen, mit kognitiven Einschränkungen assoziierten Gen. Auch die klinische Ausprägung psychomotorischer Entwicklungsstörungen ist extrem vielfältig. Die Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit kann von mild im Sinne einer Lernschwäche bis hin zu einer schwersten Beeinträchtigung ohne Mobilität und Kommunikationsfähigkeit reichen. Eine intellektuelle Entwicklungsstörung kann zudem sowohl isoliert ohne weitere Auffälligkeiten als auch syndromal im Kontext einer übergeordneten Erkrankung in Kombination mit z. B. Wachstumsstörungen, Organfehlbildungen oder neurologischen Auffälligkeiten auftreten.
13.2 Chromosomale Aberrationen
Chromosomale Aberrationen können bei etwa 20 % der Patienten mit psychomotorischen Entwicklungsstörungen nachgewiesen werden. In den meisten Fällen kommt es zu einem Verlust (Deletion; (partielle) Monosomie) oder Zugewinn (Duplikation; (partielle) Trisomie) chromosomalen Materials. Solche Deletionen oder Duplikationen enthalten meist mehrere bis hin zu über hundert Gene. Die klinische Symptomatik kann entweder Resultat des Verlusts/Zugewinns eines bestimmten oder mehrerer in der Aberration enthaltener Gene sein. Die Größe der chromosomalen Aberration oder die Zahl der enthaltenen Gene korreliert nicht unbedingt mit der Schwere der Erkrankung. Entscheidender sind die Funktion und Bedeutung der betroffenen Gene.
13.2.1 Aneuploidien
Bei den Aneuploidien handelt es sich um Fehlverteilungen ganzer Chromosomen bei der Keimzellreifung. Abgesehen von Fehlverteilungen der Geschlechtschromosomen führen alle Monosomien und Trisomien, bis auf die Trisomien der Chromosomen 13, 18 und 21, relativ früh zu einer Fehlgeburt oder verhindern das Einnisten der befruchteten Eizelle.
Die einzige autosomale Aneuploidie, die dauerhaft mit dem Leben vereinbar ist, stellt die Trisomie 21 dar, die zum Down-Syndrom führt. Dieses ist neben einer variablen intellektuellen Entwicklungsstörung und muskulären Hypotonie durch typische äußerliche Merkmale gekennzeichnet. Hierzu zählen aufsteigende Lidachsen, ein Epikanthus, ein rundes Gesicht, eine große, ggf. hervorstehende Zunge, ein kurzer Hals, Vierfingerfurchen und Sandalenlücken, d. h. ein großer Abstand zwischen Großzehe und zweiter Zehe. Bei vielen Betroffenen treten neben Wachstumsstörungen im Sinne eines Kleinwuchses und einer Mikrozephalie auch Fehlbildungen des Herzens oder des Gastrointestinaltrakts auf. Das Risiko für endokrine Störungen (z. B. Hypothyreose), eine Leukämie und im Erwachsenenalter für eine Demenz ist erhöht.
13.2.2 Strukturelle Chromosomenaberrationen
Strukturelle Chromosomenaberrationen im Sinne von größeren Deletionen oder Duplikationen können in fast allen Bereichen des Erbguts auftreten und von sehr unterschiedlicher Größe sein.
Manchmal tritt eine partielle Monosomie eines Chromosoms in Kombination mit einer partiellen Trisomie eines anderen Chromosoms im Rahmen einer unbalancierten Translokation auf.
Größere, strukturelle Chromosomenaberrationen sind oft einzigartig oder in der gleichen Form nur bei wenigen anderen Patienten beschrieben. Sie sind neben einer variablen intellektuellen Entwicklungsstörung häufig mit körperlichen Auffälligkeiten assoziiert. Hierzu zählen neben Wachstumsstörungen und morphologischen Besonderheiten auch Fehlbildungen der Organe, des Gehirns und der Extremitäten. Auch Verhaltensanomalien oder neurologische Symptome wie z. B. eine Epilepsie können auftreten.
Ein Beispiel für eine häufigere und klinisch erkennbare Chromosomenanomalie stellt die Monosomie 1p36 dar, die mit einer Häufigkeit von 1:5.000 bis 1:10.000 vorkommt. Hierbei tritt terminal am kurzen Arm eines der beiden Chromosomen 1 eine Deletion auf. Diese ist in der Größe variabel, führt jedoch häufig zu einer typischen Kombination von klinischen Auffälligkeiten. Hierzu zählen charakteristische Besonderheiten der Gesichtszüge wie gerade Augenbrauen, tiefliegende Augen und ein flacher Nasenrücken, außerdem eine Mikrozephalie, eine meist schwere intellektuelle Entwicklungsstörung und eine muskuläre Hypotonie. Bei über 80 % der Betroffenen treten strukturelle Hirnfehlbildungen auf, bei über der Hälfte Krampfanfälle, Herzfehler und ophthalmologische Anomalien. Auch eine Schwerhörigkeit oder Anomalien des Skeletts, der Genitalien und der Nieren können vorkommen (Battaglia 2008).
13.2.3 Chromosomale Mikroaberrationen
Chromosomale Mikroaberrationen sind meist kleiner als 5 Megabasen (Mb) und daher nicht in der konventionellen Chromosomenanalyse, sondern nur durch gezielte Methoden oder mittels Mikroarray-Analyse zu erkennen (
Kap. 33). Es gibt mehrere Mikroaberrations-Syndrome, die durch rekurrente Bruchpunkte und spezifische klinische Symptome gekennzeichnet sind.
Bei der Monosomie 22q11.2 (auch DiGeorge-/Shprintzen-/ oder Velokardiofaziales Syndrom) handelt es sich mit einer Prävalenz von 1:5.000 um eines der häufigen Mikrodeletions-Syndrome. Bei etwa 70 % der Betroffenen treten Herzfehler auf, die häufig den Ausflusstrakt betreffen (z. B. Fallot-Tetralogie, unterbrochener Aortenbogen, Ventrikelseptumdefekt, Trunkus arteriosus). Häufig sind auch (submuköse) Gaumenspalten, eine Schwäche des Gaumensegels, eine Infektanfälligkeit, eine Hypokalzämie, Nierenanomalien und variable weitere Auffälligkeiten. Die Betroffenen haben oft subtile, aber charakteristische Besonderheiten der Gesichtszüge mit quadratisch geformten Ohren, einem hemizylindrischen Nasenrücken und einem kleinen Mund. Eine Lernschwäche oder eine Lernbehinderung sind häufig. Im Erwachsenenalter ist das Risiko für psychiatrische Erkrankungen, insbesondere für eine Schizophrenie erhöht. Eine solche tritt bei etwa 25 % der Erwachsenen mit einer Monosomie 22q11.2 auf (McDonald-McGinn et al., 1999).
Das Williams-Beuren-Syndrom wird durch eine Mikrodeletion im Bereich 7q11.23 verursacht und kommt mit einer Häufigkeit von ca. 1:7.500 vor. Es ist gekennzeichnet durch spezifische kardiovaskuläre Auffälligkeiten im Sinne einer peripheren Pulmonalstenose und/oder supravalvulären Aortenstenose, durch charakteristische Gesichtszüge mit kräftigen Bäckchen und einem langen Philtrum sowie durch eine in der Regel milde intellektuelle Entwicklungsstörung. Die Gefäßauffälligkeiten lassen sich auf das in der Deletion enthaltene Elastin-Gen zurückführen. Typisch ist auch ein spezifisches kognitives Profil mit Stärken im sprachlichen Bereich und beim Kurzzeitgedächtnis, aber mit einer ausgeprägten Schwäche in der räumlichen Wahrnehmung. Darüber hinaus können eine Trinkschwäche und Gedeihstörung im Säuglingsalter, endokrinologische Anomalien, eine muskuläre Hypotonie und eine Bindegewebsschwäche auftreten (Morris 1999).
In den letzten Jahren wurden auch mehrere klinisch unspezifische, aber häufige Mikroaberrationen identifiziert und charakterisiert. Hierzu zählt vor allem die Mikrodeletion 16p11.2, die mit einer Häufigkeit von etwa 1:3.000 vorkommt. Die Mikrodeletion 16p11.2 geht mit einem variablen Spektrum an neuropsychiatrischen Auffälligkeiten einher. Dazu zählen psychomotorische Entwicklungsstörungen, v. a. Sprachentwicklungsverzögerungen, variable kognitive Einschränkungen und Verhaltensauffälligkeiten, z. B. im Sinne von Autismus-Spektrum-Störungen. Bei etwa 20 % der Betroffenen treten Krampfanfälle auf. Der Kopfumfang liegt häufig im oberen oder über dem Normbereich, und es besteht ein erhöhtes Risiko für Übergewicht. Darüber hinaus können variable kleinere äußerliche oder organische Anomalien auftreten, es ergibt sich jedoch kein einheitliches, erkennbares Bild. Die Mikrodeletion 16p11.2 wird auch bei gesunden Personen beobachtet (»verminderte Penetranz«) (Miller et al., 2009).
Die Mikroduplikation 16p11.2 des gleichen Bereichs geht mit einem noch variableren Bild einher und wird im Zusammenhang mit Entwicklungsverzögerungen und -störungen, Autismus-Spektrum-Störungen und Schizophrenien, aber auch bei gesunden Personen beobachtet. Der BMI ist eher niedrig, und es besteht eine Neigung zu Untergewicht. Aufgrund der verminderten Penetranz ist die Mikroduplikation 16p11.2 häufiger von einem gesunden Elternteil vererbt (Miller et al., 2009).
13.3 Monogene Ursachen
Neben chromosomalen Veränderungen sind eine häufige Ursache für Entwicklungsstörungen monogene Veränderungen, d. h. (Punkt)mutationen innerhalb eines einzelnen Gens. Derzeit sind bereits über 1.000 Gene bekannt, in denen eine Mutation zu kognitiven Störungen führen kann (http://sysid.cmbi.umcn.nl/). Viele einzelne Gene, in denen Mutation zu ähnlichen klinischen Erscheinungsbildern führen, lassen sich in molekularen Netzwerken, Komplexen oder Signalwegen zusammenschließen (Kochinke et al., 2016).
13.3.1 Autosomal dominante Neumutationen
In den westlichen Industrienationen treten psychomotorische Entwicklungsstörungen am häufigsten sporadisch aufgrund von Neumutationen auf. Solche Veränderungen können derzeit bei ü...