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Editorial
Christoph Paulus
Betrachtet man die aktuelle soziale und politische Lage in Deutschland, so kann man zu dem Schluss kommen, dass unsere Gesellschaft mehr und mehr unter Gewalt zu leiden hat. Ăber lange Jahre hinweg sind die akuten GewaltvorfĂ€lle kontinuierlich zurĂŒckgegangen, was als Folge des verstĂ€rkten Einsatzes von Anti-Gewalt-MaĂnahmen in Schulen zu sehen war. Fuchs et al. (2005) stellten im Vergleich der Jahre 1994, 1999 und 2004 fest, dass die Schulgewalt bei allen Verhaltensindizes (physische, verbale, psychische Gewalt sowie Gewalt gegen Sachen) rĂŒcklĂ€ufig war. So haben sich im Jahr 2014 insgesamt ca. 1,02 Mio. meldepflichtige SchĂŒlerunfĂ€lle ereignet, wovon 7,87% gewaltbedingt waren. GegenĂŒber 2009 entspricht dies einem RĂŒckgang von 2,36%. Allerdings ist hierbei schon ein leichter Anstieg in Höhe von 8,25% im Vergleich zum Jahr 2013 zu sehen.
Es scheint aber seit dem Jahr 2014 wieder einen Anstieg in den Fallzahlen zu geben. Dass dieser Eindruck nicht ganz von der Hand zu weisen ist bzw. durch vermehrte Aufmerksamkeit seitens der Medien zu erklÀren ist, belegen unter anderem die folgenden Zitate:
»Rund 2.000 GewaltvorfĂ€lle haben Berliner Schulen im ersten Halbjahr gemeldet â in einigen Kategorien bereits mehr als im ganzen Vorjahr. Schulsenatorin Scheeres (SPD) nimmt auch die Erwachsenen in die Pflicht. Die Berliner Schulen haben im ersten Schulhalbjahr insgesamt rund 2.000 FĂ€lle von Gewalt gemeldet. Das geht aus den Zahlen der Bildungsverwaltung hervor, die dem rbb vorliegen. Mehr als die HĂ€lfte der VorfĂ€lle sind Beleidigungen, Drohungen und TĂ€tlichkeiten. 50 Mal brachten SchĂŒler Waffen in die Schule mit, ein Dutzend Mal setzten sie sie ein. Rund 400 Mal gab es schwere körperliche Gewalt. AuĂerdem kam es unter anderem zu Mobbing, Drohungen und Beleidigungen, auch gegenĂŒber Lehrern.«1
Die Zahl der gemeldeten Gewalttaten an Berliner Schulen ist laut einem Zeitungsbericht deutlich gestiegen. Die Senatsverwaltung fĂŒr Bildung habe im vergangenen Schuljahr 3225 FĂ€lle gezĂ€hlt, berichtet die »Berliner Morgenpost« (Sonntagausgabe) unter Berufung auf eine Senatssprecherin. Das seien rund 30 Prozent mehr als im Schuljahr 2014/2015.2
»Die These, die Zahlen seien zwar rĂŒcklĂ€ufig, im Gegenzug sei es aber zu einer âșneuenâč QualitĂ€t gekommen, also zu einer zunehmenden Brutalisierung, stĂŒtzt sich auf persönliche EindrĂŒcke von sachbearbeitenden Beamten. Statistisch kann diese These weder durch Hellfeld- noch durch Dunkelfelddaten bestĂ€tigt werden. Dem Eindruck entspricht, dass auch aus Schulen von einer Zunahme von Gewalt berichtet wird. Die Daten der Unfallversicherer zeigen aber, dass in den vergangenen 20 Jahren sowohl die RaufunfĂ€lle als auch die schweren, mit Bruchverletzungen verbundenen RaufunfĂ€lle insgesamt deutlich abgenommen haben, und zwar in allen Schularten.«3
Das BKA stellt in einer Studie zu Gewalt an Schulen fest, dass »66 Prozent der Befragten in den vergangenen sechs Monaten zumindest einmal MitschĂŒler geschlagen hatten, 13 Prozent gaben ein Raub- oder Erpressungsdelikt zu, acht Prozent hatten bereits einmal mit Messer oder Pistole gedroht«.4
2015 wurden insgesamt 1.621 Kinder Opfer eines Raubes oder einer rĂ€uberischen Erpressung. Der Anteil der Jungen ĂŒberwiegt dabei mit 78,5 Prozent gegenĂŒber 21,5 Prozent MĂ€dchen. Bei den 4.756 jugendlichen Opfern stehen 3.971 mĂ€nnliche Opfer 785 weiblichen gegenĂŒber.5 An gleicher Stelle gibt die Polizei an, dass die Zahl tatverdĂ€chtiger Jugendlicher (von 14 bis unter 18 Jahre) zwischen 2014 und 2015 um 14,5 Prozent gestiegen sei.
Nicht dabei berĂŒcksichtigt sind die FĂ€lle extremer Gewalt wie z. B. AmoklĂ€ufe oder sog. school-shootings. Obwohl diese im Vergleich mit anderen Taten recht selten sind (ca. 4â5 pro Jahr weltweit), stehen sie aufgrund ihrer groĂen BrutalitĂ€t und Unvorhersehbarkeit immer im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Und gerade am Beispiel von AmoklĂ€ufen zeigt sich der vermeintliche Zusammenhang zwischen Amok, Gewalt und den Medien.
In der Forsa-Umfrage nach dem Amoklauf von Emsdetten gaben 72% der befragten Personen an, dass sie sog. »Killerspiele« fĂŒr die zunehmende Gewalt an Schulen mitverantwortlich machten (
Abb. 1.1). Ăhnliche Ergebnisse gab es auf die Fragen, ob die Waffengesetze verschĂ€rft werden sollten (72% Zustimmung) und ob
Abb. 1.1: Sind Killerspiele fĂŒr die zunehmende Gewalt an Schulen verantwortlich?
gewaltverherrlichende Spiele verboten werden mĂŒssten (69% Zustimmung).6 In der »naiven« Ăffentlichkeit (und auch in der Politik) wird also ein sehr starker Zusammenhang zwischen Medien und Gewalt gesehen. In der Wissenschaft wird die Beziehung zwischen diesen beiden Komponenten allerdings weitaus differenzierter betrachtet. Es gibt nicht den direkten, universellen und unmittelbaren Einfluss von Mediengewalt auf AmoklĂ€ufe oder andere Gewalttaten, vielmehr muss es bestimmte UmstĂ€nde geben, die zusammentreffen mĂŒssen, um relevant zu werden. Genau diese ZusammenhĂ€nge werden im Beitrag »Gewalt, Amok und die Medien« nĂ€her beleuchtet. Dort wird ausgefĂŒhrt, dass Gewaltmedien, insbesondere Gewaltspiele, eine katalytische Wirkung auf bereits vorhandene aggressive Persönlichkeiten haben können, wobei das auch stark von der Dauer und IntensitĂ€t des Medienkonsums abhĂ€ngt. Hierbei ist auch relevant, wie gut Medienkompetenz in der Erziehung vermittelt wird. Schon seit lĂ€ngerem bemerken Lehrer, dass Defizite, die in der familiĂ€ren Erziehung zu finden sind, in der Schule aufgearbeitet und ausgeglichen werden mĂŒssten. In einer Umfrage des Instituts Allensbach von 2017 glaubten 65% der Befragten ab 16 Jahren, dass die Familie nicht mehr genĂŒgend Einfluss auf die Kinder hat. Wer also soll den Einfluss haben? Die Schule besitzt nach dieser Umfrage nur noch 5% Einfluss, so dass eine groĂe Rolle den Medien (56%) bzw. der Peergroup (44%) zukommt.
Wir möchten uns deshalb in diesem Band mit genau diesen Themen und Personengruppen etwas nÀher befassen.
In einem ersten Themenblock geht es um Fragen der Entstehung von Gewalt und deren PrĂ€ventionsmöglichkeiten im Rahmen der Schule. Hierzu beschreibt Christoph Paulus zunĂ€chst das sog. »General Aggression Model«, in dem die mögliche Wirkung des dauerhaften Medienkonsums auf die Persönlichkeit eines Menschen theoretisch erlĂ€utert wird und die ZusammenhĂ€nge zu AmoklĂ€ufen aufgefĂŒhrt werden. Danach befasst sich der gleiche Autor im darauffolgenden Kapitel konkret mit den PhĂ€nomenen Mobbing und Amok und deren vermeintlichem Zusammenhang. Anhand von empirischen Daten wird gezeigt werden, dass es keinen direkten Einfluss von Mobbing auf Amok gibt und woher diese Fehlannahme kommt. Dabei werden die beiden PhĂ€nomene Mobbing und Amok kurz beschrieben und dabei die Unterschiede herausgearbeitet. Es werden kurz Interventionsmöglichkeiten angedeutet werden, um damit auf die folgenden BeitrĂ€ge ĂŒberzuleiten.
Wenn schwere Krisen wie z. B. Amokdrohungen in Schulen entstehen, kommt immer auch die Polizei ins Spiel. Aus deren Sicht beschreibt Michael Rupp die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Schule und wie funktionierende Netzwerke aufgebaut werden können. Dabei werden u. a. die Aufgaben der Polizei nach der PDV 100 beschrieben, Aufbau und Pflege von Netzwerken (Schule, Schoolworker, schulpsychologischer Dienst, Jugendamt, Polizei) geschildert, die Problematik Informations- und Datenschutz konkretisiert sowie die Mitwirkung an der Aus- und Fortbildung von LehrkrÀften (z. B. Teilnahme an pÀdagogischen Tagen zum Thema Amok oder Mobbing) aus eigener Erfahrung erlÀutert.
In Abgrenzung zu anderen PrĂ€ventionsprogrammen wird im Beitrag von Nora Fiedler, Friederike Sommer, Vincenz Leuschner und Herbert Scheithauer ĂŒber das Programm NETWASS (Network against school-shootings) keine direkte Beurteilung der GefĂ€hrlichkeit einer Person mittels einfacher RisikoeinschĂ€tzungen vorgenommen. Vielmehr werden betroffene Personen, wie das pĂ€dagogische Schulpersonal, befĂ€higt, im Rahmen des installierten KrisenprĂ€ventionsteams einen systematischen und interaktiven Prozess zu gestalten, in dem Kinder und Jugendliche in Krisensituationen frĂŒhzeitig identifiziert und breit gefĂ€cherte Informationen zu ihnen eingeholt werden. Im Vordergrund steht somit ein Ansatz, bei dem das soziale Netzwerksystem befĂ€higt wird, möglichst frĂŒhzeitig erste Anzeichen bei SchĂŒlern zu erkennen, die auf psychosoziale Notlagen hindeuten können. Auf diese Weise sollen langfristig SchĂŒler und Schulpersonal vor schwerer zielgerichteter Schulgewalt geschĂŒtzt werden. Durch die indizierte Verbesserung des Umgangs mit ersten Hinweisen auf fehlangepasste Entwicklungstendenzen und Bedrohungen soll zudem die objektive und subjektive Sicherheitslage an deutschen Schulen verbessert werden, so dass Schule als sicherer Ort erlebt und gelebt werden kann.
Eine weitere Möglichkeit fĂŒr Schule und Lehrer, sich den genannten Herausforderungen zu stellen, ist die Ausbildung von Krisenteams, wie sie im Beitrag von Nadine Nagel und GĂŒnter Dörr beschrieben wird. Zur PrĂ€vention und BewĂ€ltigung von Krisensituationen wird in den NotfallplĂ€nen fĂŒr saarlĂ€ndische Schulen die Etablierung schuleigener Krisenteams empfohlen. Diese Empfehlung knĂŒpft an entsprechende Fortbildungsangebote fĂŒr das pĂ€dagogische Personal an: Benötigt wird mehr Handlungssicherheit im Erkennen und BewĂ€ltigen von krisenhaften Situationen oder im Umgang mit bedrohlichen Verhaltensweisen. Ziele dieser Qualifizierung sind die Etablierung des Krisenteams in die schuleigenen Strukturen, die Förderung der Handlungskompetenz im Umgang mit schulischen Krisen sowie die BĂŒndelung psychologischer, pĂ€dagogischer und polizeilicher Kompetenzen in einem Netzwerkansatz.
Zum Abschluss des ersten Themenblockes stellt Uwe Henrichs in seinem Beitrag dar, wie der Alltag in Erweiterten Realschulen im Saarland aus der Sicht eines schoolworkers aussieht. Probleme schulischer, persönlicher oder familiĂ€rer Art, psychosoziale Probleme, Schulverweigerung, Inklusion, der Ăbergang SchuleâBeruf sowie Gewalt. In unterschiedlicher Gewichtung tendieren diese dazu, einen Schultag zu dominieren, wenn konsequente Reaktionen darauf ausbleiben. FĂŒr die Schulsozialarbeit nimmt der »Klassiker« Gewalt einen besonders hohen Stellenwert ein, da er ca. 50% ihrer Arbeit ausfĂŒllt, und welch ein Lehrer bekommt die beruflichen Belastungen durch dieses Thema nicht zu spĂŒren? Gefragt sind Methoden/Möglichkeiten, was man gegen Gewalt in Schulen unternehmen und wer etwas tun kann. Die Dynamik gesellschaftlicher VerĂ€nderungen im sozialen, technologischen und politischen Bereich erfasst nach wie vor besonders den schulischen Alltag. In der Alltagspraxis sind Lehrer und Schulsozialarbeiter betroffen, den Herausforderungen adĂ€quat und nachhaltig zu begegnen. Im Beitrag werden abschlieĂend niederschwellig in der Schule umsetzbare Sozialtrainings zur GewaltprĂ€vention vorgestellt.
Wie bereits gezeigt, haben die Medien einen sehr starken Anteil an der Entwicklung der Jugendlichen, weshalb wir uns im zweiten Themenblock dem Aspekt der Medienwirkung verstĂ€rkt widmen möchten. Wie genau gewalthaltige Medieninhalte auf Jugendliche wirken, beschreibt Karin Bickelmann in ihrem Beitrag. Die Auswahl von Medieninhalten hat immer etwas mit der eigenen Sozialisation und dem individuellen Umfeld zu tun. Wenn mir Gewalt aus meinem nahen Umfeld vertraut ist und/oder sie nicht reglementiert wird, wĂ€hle ich entsprechende Medieninhalte aus, die mit meinem Umfeld korrespondieren. Diese vermeintliche RealitĂ€tsĂŒbertragung fĂŒhrt zur BestĂ€tigung einer »gewaltzentrierten« Selbst- und UmfeldeinschĂ€tzung. Gewalthaltige Medieninhalte fĂŒhren zusĂ€tzlich neue Muster vor, die insbesondere von entsprechend prĂ€disponierten/sozialisierten Heranwachsenden adaptiert und nachgeahmt werden. Die mit AusĂŒbung von Gewalt oft einhergehende oder daraus folgende Isolation fĂŒhrt wiederum zur gesteigerten Zuwendung zu Medien â natĂŒrlich mit gewalthaltigen Inhalten. Es entsteht eine »Spirale«, die aber an vielen Stellen von auĂen (eher nicht von innen) z. B. von pĂ€d. FachkrĂ€ften auf unterschiedliche Art durchbrochen werden kann.
Den Abschluss dieses Bandes bildet der Beitrag von Constanze Reder, sie beleuchtet die Frage »Was tun Nutzer mit Medien, wie funktionieren Handlungspraktiken? Gibt es ein kollektives Medienhandeln?« Viele GewalttÀt...