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Kunst- und Ausdruckstherapien
Ein Handbuch für die psychiatrische und psychosoziale Praxis
This book is available to read until 5th December, 2025
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Kunst- und Ausdruckstherapien
Ein Handbuch für die psychiatrische und psychosoziale Praxis
About this book
Dieses Handbuch bietet einen systematischen Überblick über den aktuellen Kenntnisstand und die Effekte der Musik-, Bewegungs-, Tanz-, Kunst-, Mal-, Gestaltungs-, Ergo-, Biblio- und Poesietherapie in der klinischen Psychiatrie und psychosozialen Gesundheitsförderung. Der Schwerpunkt liegt auf der Evidenzbasierung von Einzel- oder Gruppenbehandlungen in der Gesundheitsversorgung. Künstlerische, kreative und ausdruckstherapeutische Therapieverfahren werden anhand von Beispielen vermittelt, die zugleich die gelungene Verbindung von Wissenschaft, Theorie und Praxis veranschaulichen. Ansprechendes Bild- und Darstellungsmaterial rundet den Band ab.
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Information
Teil C: Verfahren und Methoden in Theorie und Praxis psychiatrischer Versorgung
11 Musiktherapie
11.1 Ton um Ton ... Einblicke in die Musiktherapie
Sandra Lutz Hochreutener
Kapitelübersicht
1 Einleitung
2 Musiktherapie – ein psychodynamisch orientiertes Behandlungsverfahren
3 Musik in der Musiktherapie
4 Musik als vertiefendes Medium für Wahrnehmung, Ausdruck, Kommunikation und Verhalten
5 Interventionspraxis im Hinblick auf individuelle Zielsetzungen
5.1 Setting
5.2 Musiktherapeutische Vorgehensweisen
5.3 Methoden
Zusammenfassung
Musiktherapie ist ein psychodynamisch- und ressourcenorientiertes Behandlungsverfahren, das in verschiedensten klinischen Praxisfeldern eingesetzt wird. Sie verwendet Musik als vertiefendes Medium für Wahrnehmung, Ausdruck, Kommunikation und Verhalten. Als zentraler Wirkfaktor gilt eine hinreichend tragfähige und entwicklungsförderliche Therapeut-Patient-Beziehung. Auf dieser Basis kommen spezifische musiktherapeutische Methoden – je nach therapeutischer Notwendigkeit in erlebnis-, konflikt-, übungs- oder werkzentrierter Interventionsmodalität – zum Tragen.
1 Einleitung
Musik berührt – sie löst unmittelbar Resonanz aus und erreicht den Menschen in seiner Ganzheit unabhängig von Begabung, Alter, gesellschaftlichem und kulturellem Hintergrund.
Musik bewegt – sie versetzt Körper, Seele und Geist in Schwingung, sie bringt den Menschen zum Tanzen, löst Gefühle aus und vermag Wandlungsprozesse anzuregen. Musik verbindet – sie ermöglicht auf vielfältige Weise Kontakt und Gemeinschaft, auch dann, wenn die Sprache fehlt, einseitig entwickelt oder eingeschränkt ist.
Musiktherapie ist eine moderne Therapieform mit uralten Wurzeln: Der Einsatz von Musik als heilendem Medium wird kulturübergreifend in allen Epochen beschrieben. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts hat sie sich kontinuierlich zu einem breit erforschten Therapieverfahren entwickelt, welches bei Menschen aller Altersgruppen in unterschiedlichen klinischen Bereichen wie der Psychiatrie, der inneren Medizin, der Onkologie und Rehabilitation sowie in der Heilpädagogik und der primären Prävention eingesetzt wird (Smejsters 1996, Portmann et al. 2006). In ihren Grundlagen bezieht sie sich auf Erkenntnistheorien und wissenschaftliche Forschungen aus der Musikpsychologie (Gembris 1991, De La Motte-Haber 2000), der Entwicklungspsychologie (Stern 2010), der Bindungsforschung (Bowlby 2001, Brisch 2010) und der Neurowissenschaften (Spitzer 2002, Hüther 2004) sowie je nach Hintergrund des Therapeuten aus diversen Psychotherapierichtungen.
In den folgenden Ausführungen werden Aspekte, die das Wesen der Musiktherapie ausmachen, anhand einer Definition sukzessive – kapitelweise nach den kursiv gedruckten Begrifflichkeiten – aufgeschlüsselt und erläutert: Musiktherapie ist ein psychodynamisch orientiertes Behandlungsverfahren, bei dem Musik im therapeutischen Prozess als vertiefendes Medium für Wahrnehmung, Ausdruck, Kommunikation und Verhalten verwendet wird, um individuelle Zielsetzungen zu erreichen.
2 Musiktherapie – ein psychodynamisch orientiertes Behandlungsverfahren
Im Zentrum der Musiktherapie steht die Psychodynamik des Patienten, sein So-Sein und So-Handeln, seine Stärken und seine Schwierigkeiten. Ausgangspunkt ist die aktuelle Befindlichkeit, wobei biografische Themen ebenso mit einbezogen werden wie Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte. Das therapeutische Vorgehen ist prozess- und ressourcenorientiert, es richtet sich unter Einbezug der individuellen Potentiale nach der therapeutischen Notwendigkeit im Hier und Jetzt.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die therapeutische Beziehung mit ihren verschiedenen Dynamiken. Der Therapeut stellt sich dem Patienten als ein Du zur Verfügung, mit dem er sich auseinandersetzen und neue Beziehungserfahrungen machen kann. Den wechselseitigen Resonanzprozessen (Gindl 2002) kommt eine wichtige Bedeutung zu, auch das Übertragungs-/Gegenübertragungsgeschehen wird beachtet und als wichtiger Wirkfaktor einbezogen (Frohne Hagemann 2001, Lutz Hochreutener 2009).
Voraussetzung seitens des Therapeuten sind diagnostisches und methodologisches Fachwissen, Bereitschaft zur Selbstreflexion sowie die Fähigkeit, mit sich selbst im Kontakt zu sein und die eigenen Erlebnisweisen und Grenzen zu kennen. Ebenso wichtig ist im humanistischen Sinn auch eine innere Haltung, die von Basisvariablen wie Interesse, Wertschätzung, Echtheit, Empathie, Geduld, Flexibilität, Humor und Gelassenheit geprägt ist. Erst so entsteht eine Safe-Place-Atmosphäre, in welcher sich der Patient sicher fühlt und seine schwierigen und verletzlichen Seiten zeigen kann (Katz-Bernstein 1996, Hegi-Portmann et al 2006, Lutz Hochreutener 2009).
3 Musik in der Musiktherapie
In der Musiktherapie wird der Begriff »Musik« weit gefasst. Sie unterliegt keinen ästhetischen Bewertungskategorien wie »richtig« und »falsch«. Ton um Ton entwickelt sie sich, einem improvisatorischen Duktus folgend, aus dem Hier und Jetzt. Der Patient braucht keine musikalische Vorbildung, um sich einzulassen. Jegliche akustische Äußerung, ob stimmlich oder instrumental, laut oder leise, konsonant oder dissonant, strukturiert oder chaotisch wird wertschätzend einbezogen. Selbst feste Formen von komponierter Musik oder von Liedern dürfen gesprengt und modifiziert werden. Nur so können verschiedenste Seelenbewegungen und Beziehungsqualitäten ausgedrückt und gewandelt werden.
Für diesen musikalischen Ausdruck steht eine breite Palette von Musikinstrumenten zur Verfügung, die ein möglichst großes Klang- und Erfahrungsspektrum eröffnen, den spielerisch musikalischen Ausdruck auf verschiedenen Ebenen anregen und symbolische Bedeutungen übernehmen. Wenn möglich wird auch die Stimme einbezogen, welche die unmittelbarste leibseelische Ausdrucksmöglichkeit des Menschen ist (Rittner 2006, Maurer-Joss 2011).
4 Musik als vertiefendes Medium für Wahrnehmung, Ausdruck, Kommunikation und Verhalten
Die Musik mit ihren Komponenten Klang, Rhythmus, Melodie, Dynamik und Form (Hegi und Rüdisüli 2011) übernimmt im therapeutischen Prozess je nach Entwicklungsalter, Thematik und Befindlichkeit des Patienten verschiedene Funktionen, welche die Bereiche Wahrnehmung, Ausdruck, Kommunikation und Verhalten ansprechen (Frohne-Hagemann und Pless-Adamczyk 2005, Lutz Hochreutener 2009).
- Wahrnehmung: Die Musik wirkt als Stimulus. Sie beruhigt, aktiviert, entspannt, strukturiert, intensiviert, gibt Halt und hilft, Erfahrungen zu integrieren. Durch die Berührung der verschiedenen Materialien der Instrumente wie dem kühlen Metall des Gongs, den gespannten Saiten, den haarigen Fellen der Trommeln oder dem Holz der Klangkörper sowie durch das Spüren ihrer Vibrationen wird die Selbstwahrnehmung angeregt. Bei den Spielbewegungen kann mit der eigenen Kraft experimentiert werden. Im Entdecken der eigenen Stimme werden Innen- und Außenraum erfahrbar. Auch auf der seelischen Ebene findet Berührung statt. Klänge können Erinnerungen wecken und den Menschen mit verschütteten Gefühlen in Kontakt bringen, sodass er neue oder verlorene Aspekte seiner selbst wahrnehmen kann.
- Ausdruck: Die Musik ist Medium für schöpferischen Ausdruck. Sie schafft einen Raum, um Inneres auszudrücken, und hilft, den Ausdruck im Fluss zu halten bis hin zur Katharsis. Im Spiel mit den Instrumenten und der Stimme können Befindlichkeiten, innere Bilder und Geschichten sowie Erfahrungen jenseits von Worten ausgedrückt, gestaltet, verarbeitet und gewandelt werden. Das Hässliche, Schwierige, Verletzte und Verletzende findet ebenso Raum wie das Lust- und Kraftvolle, das Sehnsüchtige und Zärtliche. Das Instrument und die erforderlichen Spielbewegungen respektive die Auseinandersetzung mit dem Atemfluss beim Singen bieten dabei eine Halt gebende Verankerung im Hier und Jetzt.
- Kommunikation: Die Musik ist Medium für Kommunikation und Beziehungsgestaltung. Sie ist für den Patienten ein vielfältiges, die Sprache ergänzendes oder sogar ersetzendes Medium, um sich mit dem Gegenüber auseinanderzusetzen, sich zu messen, abzugrenzen, zu verschmelzen oder partnerschaftlich im Dialog zu sein. Auch Themen, die aus dem vorsprachlichen Bereich stammen oder jenseits von Sprache liegen, können so mitgeteilt werden. Für den Therapeuten ist sie einerseits diagnostische Hilfe, um den Patienten zu verstehen. Andererseits bietet sie ihm vielfältige Möglichkeiten, unmittelbar und differenziert Resonanz zu geben – gerade auch dort, wo die Sprache fehlt wie im Bereich der Neonatologie, bei Behinderungen, schweren psychiatrischen Erkrankungen, nach Schädel-Hirn-Verletzungen, Schlaganfällen, in der Sterbebegleitung oder bei Menschen aus andern Kulturkreisen.
- Verhalten: Im musikalischen Ausdruck und Interagieren wird der Patient mit eigenen Verhaltensweisen konfrontiert. Die eine wählt immer die zart klingende Kinderharfe und ärgert sich heimlich darüber, dass sie überspielt wird – genau so, wie ihre Meinung im Freundeskreis ungehört verhallt. Der andere muss mit der Trommel immer den Rhythmus angeben, laut und zwingend. Er ist enttäuscht, wenn er damit Widerstand weckt – so geht es ihm auch in seiner Familie, wenn er die heranwachsenden Kinder zwingt, seine Vorstellungen umzusetzen und sie sich von ihm distanzieren. Im geschützten, spielerisch musikalischen Rahmen fällt es leichter, solche Erfahrungen anzunehmen, zu reflektieren und probehandelnd das Verhaltensrepertoire zu erweitern.
5 Interventionspraxis im Hinblick auf individuelle Zielsetzungen
In der Musiktherapie werden innerhalb der vorhandenen Möglichkeiten des Menschen folgende humanistisch begründete Allgemeinziele angestrebt:
- Selbst-Erfahrung als bio-psycho-soziospirituelle Einheit/Ganzheit
- Entwicklung einer Balance von Autonomie und sozialer Interdependenz
- Entfaltung der schöpferischen Fähigkeiten
- Ziel- und Sinnfindung (Hegi-Portmann et al 2006)
Im Rahmen dieser großen Ziele werden je nach Störung, Krankheit, Behinderung und Thematik des Patienten individuelle Zielsetzungen fokussiert. Das bedingt innerhalb des weiter oben beschriebenen prozessorientierten Ansatzes eine differenzierte, indikations- und diagnosespezifische Interventionspraxis, welche in einem individuell angepassten Setting zur Anwendung kommt.
Im Folgenden wird Einblick in verschiedene Aspekte des musiktherapeutischen Settings und der musiktherapeutischen Interventionspraxis gegeben, insbesondere der verschiedenen Methoden.
5.1 Setting
Musiktherapie wird sowohl stationär im klinischen Rahmen als auch ambulant in Tageskliniken und Ambulatorien oder in der freien Praxis angeboten. Es besteht die Möglichkeit, im Einzel- oder Gruppensetting zu arbeiten. Während in der Einzeltherapie biografische Erfahrungen und dyadische Beziehungsthemen vertieft bearbeitet werden können, bietet die Gruppentherapie ein weites Feld, um probehandelnd soziale Kompetenzen zu erweitern.
Je nach zu bearbeitender Thematik und klinischen oder finanziellen Gegebenheiten werden Kurz-, Mittel- und Langzeitbehandlungen durchgeführt. Die Therapiefrequenz wird ebenfalls individuell angepasst.
5.2 Musiktherapeutische Vorgehensweisen
Vom Interventionsmodus her, kommen aktives und rezeptives Vorgehen zur Anwendung:
- Aktives Vorgehen: Hier wird der Patient musikalisch selbst tätig. Er spielt auf den Instrumenten, singt und bewegt sich. Der Therapeut hö...
Table of contents
- Verzeichnis der Herausgeber und Autoren
- Vorwort
- Einleitung
- Teil A: Überblick
- Teil B: Grundlagen
- Teil C: Verfahren und Methoden in Theorie und Praxis psychiatrischer Versorgung
- Teil D: Ausblick
- Anhang: Ausbildungsinstitute für Kunst- und Ausdruckstherapien