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Theorie der praktischen Pädagogik
Grundlagen erzieherischen Sehens, Denkens und Handelns
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Theorie der praktischen Pädagogik
Grundlagen erzieherischen Sehens, Denkens und Handelns
About this book
Pädagogik gibt es als wissenschaftliche Disziplin und als professionelle Berufspraxis. Die Bedeutung der Pädagogik als Profession hängt allerdings davon ab, inwieweit es gelingt, den genuin pädagogischen Wissensbestand für die erzieherische Praxis fruchtbar zu machen. Das pädagogische Sehen, Denken und Handeln, das sich kategorial von der medizinischen, soziologischen oder psychologischen Sichtweise unterscheidet, ist grundlegend auf ein pädagogisches Verständnis des Menschen angewiesen. Das Buch entfaltet eine Theorie der praktischen Pädagogik, die Aufschluss über die Eigenheiten der erzieherischen Praxis und Orientierung für den handelnden Erzieher gibt.
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Information
1
Einführung
Stephan Ellinger und Oliver Hechler
Die »Pädagogik ist die Wissenschaft, deren der Erzieher für sich bedarf« (Herbart 1964, 22). So führt Johann Friedrich Herbart 1806 in seine Abhandlung über »Allgemeine Pädagogik, aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet« ein. So knapp diese Feststellung daherkommt und so trivial sie sich liest – das, was Herbart als Forderung 1806 formulierte, ist bis heute weithin Forderung geblieben. Einer Forderung, der es zu entsprechen gilt, wenn man es mit der Pädagogik als Disziplin und dem berufsmäßigen Erziehen als professionelle Praxis ernst meint. Denn trotz der mehr als 2000 Jahre umfassenden Geschichte der theoretischen Pädagogik (Benner/Oelkers 2004) scheint es noch immer schwierig, einen Kanon pädagogischen Wissens zu formulieren, an dem sich sowohl der wissenschaftlich tätige als auch der interventionspraktische Pädagoge orientieren kann. Und das, obwohl bis heute eine mittlerweile unüberschaubare Menge an pädagogischer Fachliteratur zum Thema zusammengetragen wurde. Aus aktueller Sicht soll auf einige Veröffentlichungen hingewiesen werden, die den Einstieg in die theoretische Pädagogik gut ermöglichen, so dass von dort aus die Geschichte der pädagogischen Theorie erkundet werden kann.
Zunächst sind hier das »Pädagogische Wissen« (Kade et al. 2011) und die »Grundbegriffe der Pädagogik« (Dörpinghaus/Uphoff 2011) zu nennen. Beide Werke wenden sich den Grundbegriffen der theoretischen Pädagogik bzw. der Erziehungswissenschaft zu und entfalten diese sowohl in theoriegeschichtlicher Hinsicht als auch mit Hinblick auf aktuelle Gültigkeit. Neben den Ausführungen zu den Grundbegriffen der Pädagogik lassen sich noch Werke ausmachen, die zum einen bedeutende Pädagogen in den Mittelpunkt ihres Interesses stellen. Gemeint sind hier die personalen Klassiker der Pädagogik, wie sie zum Beispiel von Tenorth (2003a; b) vorgestellt werden. Zum anderen aber lassen sich auch zentrale Werke der pädagogischen Theoriebildung ausmachen, in die zum Beispiel Prange (2008; 2009), Böhm et al. (2009) und Saalfrank/Zierer (2010) einführen. Schließlich widmen sich noch zahlreiche Untersuchungen der Geschichte der Pädagogik. Hier sollen beispielhaft Reble (1995) und Böhm (2004) genannt werden. Für die theoretische Pädagogik haben darüber hinaus noch die Allgemeine Pädagogik (vgl. Benner 1996), die Allgemeine Didaktik (vgl. Sünkel 2002) und die Pädagogische Anthropologie (vgl. Zirfas 2007) einen bedeutenden Stellenwert. Abschließend kann auch auf die große Zahl von Hand- und Wörterbüchern, Lexika und erziehungswissenschaftlichen Einführungsbänden hingewiesen werden. Beispielhaft sollen hier nur das dreibändige »Handbuch der Erziehungswissenschaft« (Mertens et al. 2007), das »Historische Wörterbuch der Pädagogik« (Benner/Oelkers 2004) und das »Wörterbuch der Pädagogik« (Böhm 2005) genannt sein. Im Blick auf aktuelle Entwicklungen im Bereich der theoretischen Pädagogik kann beispielhaft Wolfgang Sünkel angeführt werden. Sünkel (2011) hat mit seiner Untersuchung zum »Erziehungsbegriff und Erziehungsverhältnis« eine allgemeine Theorie der Erziehung entworfen, die er leider aufgrund seines überraschenden Todes nicht mehr zu Ende führen konnte. Für Papenkort (2011) nimmt das Werk von Sünkel »in jeglicher Hinsicht eine Ausnahmestellung ein. Wenn ein Leser willens ist, den hohen Grad an Abstraktion, der mit einer ›allgemeinen Theorie‹ einher geht, zu dulden, vielleicht sogar, weil er das Konkretisierungspotential erahnt, zu begrüßen, wird er vielleicht mit zwei Eindrücken belohnt, die das Buch beim Rezensenten hinterlassen haben: Hier wird Wahrheit gesprochen, und die Form ihrer Darstellung ist von schlichter Schönheit geprägt« (Papenkort 2011, 8 ff).
Der Überblick zu den aktuellen Werken zur theoretischen Pädagogik bleibt unvollständig, und auch in theoriegeschichtlicher Hinsicht werden viele »große« Namen und Werke der Pädagogik nicht genannt. Dies ist an dieser Stelle aus zwei Gründen nicht weiter problematisch. Zum einen sollte die Darstellung zunächst einmal nur den pädagogischen Horizont skizzieren, vor dem sich dieses Buch verorten lässt. Damit ist der Zweck der Darstellung erfüllt. Zum anderen geht es in den folgenden Ausführungen gar nicht um eine weitere Allgemeine Pädagogik oder um ein weiteres enzyklopädisches Werk zur theoretischen Pädagogik, sondern vielmehr um einen Tatbestand, den Kühnel 1920 mit Blick auf die pädagogische Theorie und erzieherische Praxis folgendermaßen umreißt: »Genau in dem Maße, wie die Wissenschaft der Medizin – in Verbindung mit der Praxis – den Arzt ›macht‹, so ›macht‹ die theoretische Pädagogik – in Verbindung mit der Praxis – den Erzieher« (Kühnel 1920, 21). Die folgenden Überlegungen haben dasjenige pädagogische Wissen zum Gegenstand, das dazu taugt, den vielbeschworenen pädagogischen Blick zu begründen und damit für den interventionspraktisch tätigen, also den pädagogisch sehenden, denkenden und handelnden Erzieher die so notwendige und unhintergehbare pädagogische Orientierungs- und Begründungsfolie bereitzustellen. Auf diesem Wege soll erhellt werden, welches pädagogische Wissen und korrespondierend dann auch welches erzieherische Können zur verkörperlichten Handlungsfähigkeit des Erziehers führen, die es ihm ermöglicht, den Anforderungen der erzieherischen Praxis gerecht werden zu können. Der pädagogische Blick des Erziehers, folgt man sinngemäß Corvisart (1808), »der so oft über die umgängliche Gelehrsamkeit und die solideste Ausbildung den Sieg davon trägt, ist nur das Resultat des häufigen, methodischen und richtigen Gebrauchs der Sinne. Hier ist die Quelle jener Leichtigkeit in der Anwendung, jener Geschicklichkeit in der Darstellung und jener Sicherheit im Urteil, die so rasch sein kann, dass alle Akte gleichzeitig zu sein scheinen und zu Recht in dem Ausdruck ›Takt‹ zusammengefasst werden« (zit nach Foucault 2005, 135). Und Herbart bringt den angedeuteten Sachverhalt bereits im Jahre 1802 auf den Punkt, indem er feststellt: »Nun schiebt sich aber bei jedem noch so guten Theoretiker, wenn er seine Theorie ausübt […], zwischen die Theorie und Praxis ganz unwillkürlich ein Mittelglied ein, ein gewisser Takt [kursiv im Original] nämlich, eine schnelle Beurteilung und Entscheidung, die nicht wie der Schlendrian, ewig gleichförmig verfährt, aber auch nicht, wie eine vollkommen durchgeführte Theorie wenigstens sein sollte, sich rühmen darf, bei strenger Konsequenz und in völliger Besonnenheit an die Regel, zugleich die wahre Forderung des individuellen Falls ganz und gar zu treffen« (Herbart 1802, 44). Tenorth (1986, 295) beschreibt den Takt im Sinne Corvisarts und Herbarts prägnant als das zentrale Symbol dafür, in Situationen der Ungewissheit und ohne eindeutige Antworten durch die Wissenschaft als Pädagoge handlungsfähig zu bleiben. Der Takt setzt also an den Stellen ein, »welche die Theorie leer ließ«, und wird auf diese Weise »der unmittelbare Regent der Praxis« (Herbart 1802, 44). Damit bezeichnet »der Takt« das Repertoire und die Verfügbarkeit von berufsrollenbezogenen Routinen und berufsfeldspezifischen Deutungsmustern. Jakob Muth hat schließlich das Unterfangen gewagt, dem Wesen des skizzierten Takts etwas genauer nachzuspüren. Taktvolles Handeln der erzieherischen Persönlichkeit äußert sich Muth zufolge als die Fähigkeit zur Situationssicherheit, als dramaturgische Fähigkeit, als improvisatorische Gabe und als Wagnis zu freien Handlungsformen. Ein »taktvoller« Erzieher ist damit in der Lage, eine gelassene Haltung einzunehmen, die ihn für Unvorhergesehenes offen hält (Muth 1967, 77). Den vier skizzierten Fähigkeiten, die die Elemente des pädagogischen Taktes im Sinne Muths ausmachen, sind darüber hinaus weitere vier elementare Grundannahmen eingeschrieben. Muth (ebd.) benennt hier zunächst die Verbindlichkeit der Sprache. Das heißt, der Erzieher muss sprachlich so gebildet sein, dass er die Themen der Erziehung angemessen zur Sprache bringen kann – also in einer Weise, dass ihn der Zögling zum einen auch versteht und zum anderen seine Aufmerksamkeit sowohl auf den Erzieher als auch auf das von ihm Gezeigte richtet. Dann verweist Muth (ebd.) auf die Bedeutung der Natürlichkeit des Handelns des Erziehers. Auf der einen Seite muss es dem Erzieher möglich sein, sein erzieherisches Handeln im Sinne einer »Seins-Autorität« (Fromm 1976) zu verwirklichen und nicht im Sinne einer »Habens-Autorität« (ebd.) künstlich zu kultivieren: »Der springende Punkt ist, ob man Autorität hat oder ob man eine Autorität ist« (Fromm 1976, 298). Auf der anderen Seite ergibt sich die Notwendigkeit, ein erzieherisches Handeln zu realisieren, das die (Lern-)Themen angemessen erschließt »und sie nicht durch sich selbst oder durch gekünstelte methodische Spitzfindigkeiten verstellt und um ihr Wesen bringt« (Muth 1967, 41). Schließlich geht es um die Vermeidung von Kränkungen im erzieherischen Verhältnis. Im allgemein-menschlichen Umgang zeichnet sich der Taktvolle dadurch aus, dass er andere Menschen nicht verletzt, kränkt, demütigt, entwertet usw. Der Erzieher hat sich ebenfalls nach dieser Maxime zu richten, und es gelingt ihm am besten dadurch, dass er sich die Asymmetrie der erzieherischen Situation vergegenwärtigt und sich mehr an der Erziehungsbedürftigkeit des Zöglings orientiert als an seinem Veränderungspotential. Abschließend kommt der Wahrung der im pädagogischen Bezug notwendigen optimalen Distanz größte Bedeutung zu. Es ist hier nicht von maximaler, allerdings auch nicht von minimaler Distanz die Rede. Distanz dient der eigenen Selbstvergewisserung des Erziehers mit Hinblick auf seine Rolle. So sehr dieser mit dem Zögling die gleiche Ebene, die gleiche Sprache, »den gleichen Herzschlag finden soll« (Muth 1967, 58), nie darf er im erzieherischen Handeln völlig gleich werden. Die Vermeidung eines Distanzverlustes und die Aufrechterhaltung einer Differenz ermöglichen erst einen erzieherisch initiierten, angeleiteten oder begleiteten Lernprozess auf Seiten des Zöglings.
Aus diesen Erläuterungen lässt sich nun gut ableiten, auf welche Art Wissen dieses Buch abhebt. Es geht ihm weder um ein ausschließlich theoretisches Wissen noch um die ausschließliche Explikation erzieherischen Könnens, sondern vielmehr um die Formulierung einer pädagogischen Fachkunde, die letztendlich zwischen Theorie und Praxis, zwischen Disziplin und Profession angesiedelt ist. In einem erweiterten Sinne könnte man also sagen, es geht um die Formulierung einer Theorie der praktischen Pädagogik. Im engeren Verständnis zielen die Ausführungen auf die praxisrelevante Aufbereitung pädagogischer Wissensbestände, um einen genuin pädagogischen Zugang zum Gegenstand der erzieherischen Bemühungen zu ermöglichen. Auf diesem Wege, so ist zu hoffen, wird zweierlei geleistet. Zum einen kann so die spezifische Expertise der theoretischen Pädagogik und des berufsmäßigen Erziehers erarbeitet werden. Es geht dabei um das Spezifikum, das die theoretische und praktische Pädagogik von der Psychologie, der Soziologie, der Biologie und neuerdings auch von den Neurowissenschaften unterscheidet. Der immer wieder hervorgebrachten Annahme, die Pädagogik sei eine angewandte Wissenschaft – und das meint häufig letzten Endes gar keine Wissenschaft, sondern eine Disziplin, welche die Theorien und Methoden von so genannten Grundlagenwissenschaften für praktische Zwecke der Erzieher verwendet (Uexküll/Wesiak 1998, 2) –, kann so begründet entgegen getreten werden. Zum anderen soll es dem professionellen Pädagogen in einem ersten Schritt ermöglicht werden, die Lebensprobleme der Menschen, zu denen er in einem professionellen erzieherischen Verhältnis steht, als Lernprobleme zu konzeptualisieren. Vom Säugling bis zum alten Menschen ist es unhintergehbar das menschliche Lernen mit all seinen Schwierigkeiten, auf das es die Pädagogik und die Erziehung abgesehen haben. In einem zweiten Schritt geht es dann darum, gewissermaßen in differentialdiagnostischer und differentialindikativer pädagogischer Absicht, diese Probleme des Lernens auf ihr Wesen hin zu befragen, um Erkenntnis darüber zu erlangen, welcher Lernbedarf dem Lernproblem zu Grunde liegt. Es soll also ein höchst praxisrelevantes pädagogisches Wissen darüber generiert werden, was der Mensch im Angesicht der Anforderungen seiner Lebenspraxis und vor dem Hintergrund seines Lebenslaufs bisher gelernt hat, was bislang noch nicht gelernt wurde, aber nötig wäre oder was noch in Zukunft gelernt werden soll, jetzt aber noch nicht gekonnt, gewusst und gewollt sein muss. Erst vor dem Hintergrund dieser pädagogischen Einschätzung kann dann begründet entschieden werden, welches Erziehungsmittel im Sinne einer Lernhilfe dem Lernbedarf, der zu einem Lernproblem geführt hat, angemessen gerecht wird. Dasjenige pädagogische Bemühen, das hier vorläufig pädagogische Diagnostik und pädagogische Indikation genannt wird, hat Werner Loch (1979) folgendermaßen beschrieben: »Das pädagogische Verstehen ist durch die Absicht bestimmt, die Erziehung, die ein Individuum benötigt, aus dem Kontext seines Lebenslaufs und der sich darin zeigenden Entwicklungstendenzen des jeweiligen Lebensalters zu ermitteln und in ein ›Curriculum‹ umzusetzen, bei dessen lernendem ›Durchlaufen‹ das zu erziehende Individuum eine Gegenwart erfährt, die es im Blick auf seine Vergangenheit und im Blick auf seine Zukunft als zweckmäßig zu verstehen und als befriedigend zu verstehen vermag« (Loch 1979, 144). Wie aus dem bisher Ausgeführten deutlich wird, ist das menschliche Lernen der zentrale Bezugspunkt erzieherischer Bemühungen. Ob diese nun von einem Lernproblem ihren Ausgang nehmen und dann Lernhilfe durch Erziehung oder Förderung geleistet wird, ob Lernprobleme überhaupt erst aufgrund von pädagogisch begründeten Anforderungen an den zu erziehenden Menschen entstehen, oder ob schließlich die Erziehung das Lernen des Menschen ganz unspektakulär begleitet, ist für das hier in Angriff zu nehmende Unterfangen zunächst von nachgeordneter Bedeutung, denn für alle drei Modi gilt: Um solche pädagogische Differentialdiagnostik vornehmen zu können, bedarf es eines entwicklungspädagogischen Denkansatzes, der Aufschluss über das Lernen des Menschen in seiner jeweiligen Lebensspanne sucht.
Somit ist nun der Gegenstand der weiteren Ausführungen benannt und hergeleitet. Es geht um die Formulierung einer praktischen Pädagogik, in deren Mittelpunkt eine genuin pädagogische Entwicklungslehre steht. Der maßgebliche Bezugspunkt einer solchen Entwicklungslehre ist aus pädagogischer Sicht, wie bereits verdeutlicht, das lebensalterspezifische Lernen des Menschen. Erst durch die lernende Aneignung von Fertigkeiten, von Wissensbeständen und von Willenseinstellungen gelingt es dem Menschen, sukzessive sein Leben, so weit es möglich ist, in personaler Selbstbestimmung zu gestalten. Diese Lernaufgaben in den unterschiedlichen Lebensaltern entstammen verschiedenen Themenfeldern aus den Bereichen des Könnens, Wissens und werden erzieherisch angestoßen, angeleitet und begleitet. Um Irritationen entgegen zu wirken, muss an dieser Stelle deutlich festgehalten werden: Personale Selbstbestimmung meint nicht das Gegenteil von ich-bezogener Selbstverwirklichung, sondern bezieht sich basal auf den anthropologischen Tatbestand des personalen und sozialen Wesens des Menschen. Aber es ist gerade diese Personalität und Sozialität, die sich zum einen nicht von selbst ergibt. Vielmehr muss sich der Mensch unterschiedliche Themen aus den Bereichen des Könnens, Wissens und des Wollens lernend aneignen, um seine Personalität und Sozialität auszubilden. Dieser Entwicklungsprozess vom Menschen zur Person einschließlich ihrer konstitutiven Sozialität kann als Personagenese, oder mit Winfried Böhm gesprochen, als Personwerdung des Menschen bezeichnet werden (vgl. Böhm 2011). Hierfür ist Erziehung unverzichtbar. An dieser Stelle kann auch deutlich gemacht werden, was Erziehung von Sozialisation unterscheidet. Selbstverständlich lernt der Mensch nicht nur aufgrund erzieherischer Einwirkungen, sondern auch und in nicht zu geringem Maße durch die sozialisatorischen Einflüsse, die seine Lebenswelt bereithält und die überhaupt nicht, sieht man mal vom Rousseauschen Erziehungsroman Emile (Rousseau 1919) ab, ausgeblendet werden können. In pädagogischer Sicht könnte Sozialisation so als funktionale Erziehung bezeichnet werden. Die Personagenese vollzieht sich in einem zunächst asymmetrischen erzieherischen Verhältnis zwischen mindestens zwei beteiligten Individuen. Beim einen, dem Zögling oder dem Schüler, geht es um eine Entwicklung vom (noch) Nicht-Können zum Können, vom (noch) Nicht-Wissen zum Wissen und von (noch) Nicht-Wollen zum Wollen. Der andere, der Erzieher oder der Lehrer, kennt die Themen, verfügt über die Fertigkeiten und/oder weiß um die Willenseinstellungen, die er vermitteln möchte. In diesem Sinne ist das erzieherische Verhältnis, zumindest bis zu dem Punkt, an dem es in ein erzieherisches Selbstverhältnis übergeht, eine »Du-Beziehung des Schülers und Zö...
Table of contents
- Deckblatt
- Titelseite
- Impressum
- Inhaltsverzeichnis
- 1 Einführung
- 2 Pädagogisches Wissen
- 3 Pädagogisches Sehen, Denken und Handeln
- 4 Pädagogisches Ethos
- 5 Ausblick: Pädagogik zwischen Selbstbewahrung und Entwicklung