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Jungen und Gesundheit
Ein interdisziplinĂ€res Handbuch fĂŒr Medizin, Psychologie und PĂ€dagogik
This book is available to read until 5th December, 2025
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Jungen und Gesundheit
Ein interdisziplinĂ€res Handbuch fĂŒr Medizin, Psychologie und PĂ€dagogik
About this book
Die gesundheitliche Lage von Jungen ist in vielen Bereichen prekĂ€r. Gleichwohl wird diese Tatsache kaum reflektiert oder fachlich berĂŒcksichtigt. Erstmalig wird nun ein umfassender Ăberblick ĂŒber Themen der Jungengesundheit aus den drei relevanten Perspektiven - medizinisch, psychisch und sozial - gegeben.Das Buch vermittelt das breite Themenspektrum der Jungengesundheit fundiert und ermöglicht es Fachleuten aus verschiedenen Berufsgruppen, sich damit auch fachĂŒbergreifend befassen zu können. Es gibt AnstöĂe, den Umgang mit der Thematik Jungengesundheit zu qualifizieren, um Jungen eine angemessene Versorgung zu bieten.
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Information
1 Jungengesundheit im epidemiologischen Zusammenhang
1.1 Die Gesundheit von Jungen und mĂ€nnlichen Jugendlichen in historischer Perspektive (1780â1980)
Martin Dinges
1 Epidemiologie
In dem hier gegebenen knappen Rahmen können nur wenige Aspekte des Themas dargestellt werden. Dabei kommen vorrangig Gesundheitsressourcen in den Blick, die anhand von Gesundheitsempfehlungen dargestellt werden. Passend zum Schwerpunkt des Bandes werden dann das VerhĂ€ltnis zum eigenen Körper und PrĂ€gungen des Inanspruchnahmeverhaltens analysiert1. Dabei können die besonderen Problemlagen von Jungen nicht vertieft werden, die durch Armut, IllegitimitĂ€t, Kindesaussetzung, als Ziehkind, nach Kindesmisshandlung, oder fĂŒr behinderte Kinder, als Psychiatrieinsassen â immerhin fast 10 % Kinder und Jugendliche im 19. Jh. (Nissen 2005, S. 124) â, in der JugendfĂŒrsorge oder bei anderen Anstaltsinsassen entstanden. Ebenso wurde die Kriegspsychiatrie, die ja oft noch sehr junge MĂ€nner betraf, ausgeklammert. Die genannten Problemlagen sind aber hĂ€ufig gesundheitlich sehr belastend und wĂŒrden besonders hinsichtlich ihrer geschlechterspezifischen AusprĂ€gung grundlegender Forschung bedĂŒrfen. Dies gilt auch fĂŒr spezifische Belastungen durch die Entdeckung der eigenen HomosexualitĂ€t.
2 Gesundheitsdiskurse und -empfehlungen
Erst seit Kurzem gelten Jungen innerhalb des Gesundheitsdiskurses als Problemgruppe. Das war frĂŒher ganz anders: Jungen galten generell eher als stark und gesund â MĂ€dchen als schwach oder gar krĂ€nklich. Die AufklĂ€rungsanthropologie hatte solche GegensĂ€tze zwischen Mann und Frau sehr akzentuiert und biologisch fundiert, indem sie den Frauen eine gröĂere NaturnĂ€he, AbhĂ€ngigkeit vom Körper, damit aber auch SchwĂ€che, den MĂ€nnern dagegen eine gröĂere Vernunftbegabung zuschrieb. WĂ€hrend des 19. Jahrhunderts arbeiteten die Mediziner dieses Bild weiter aus und erweiterten es um 1900 noch um passende psychische Komponenten. Allerdings gehörte zum Bild des Mannes als negativer Zug auch, dass er triebbedingt unbeherrscht sei und sich deshalb disziplinieren mĂŒsse (Kucklick 2008, S. 35â133). Zum Mann zu werden bedeutete eine doppelte Entwicklungsaufgabe, nĂ€mlich der zugeschriebenen Körperlichkeit und VernĂŒnftigkeit gerecht zu werden.
Den Jungen legte man dazu nahe, ihre FĂ€higkeiten durch viel Bewegung zu entwickeln. Man empfahl ihnen seit 1800 LeibesĂŒbungen und spĂ€ter die ErtĂŒchtigung durch den Sport. So heiĂt es in einem Gesundheitsratgeber 1892: »Die nĂŒtzlichste Körperbewegung ist das Schwimmen, und darum sollte, wo es möglich ist, jeder gesunde Knabe zum Erlernen des Schwimmens veranlasst werden.« Ganz selbstverstĂ€ndlich ist hier nicht von MĂ€dchen die Rede (Sepp 1892, S. 11). Der Bedarf des Staates und der Wirtschaft stand im Vordergrund dieses Diskurses. Die Jungen sollten leistungsfĂ€hige Soldaten, allenfalls auch krĂ€ftige Arbeiter werden (Frevert 1996, S. 147â154).
Immerhin kamen dabei besondere GesundheitsgefĂ€hrdungen in den Blick: Jungen galten als waghalsig. Schon 1792 meinte der Autor eines mehrbĂ€ndigen Buches zur »medicinischen Policey«, des VorlĂ€ufers der Sozialhygiene, Johann Peter Frank (1745â1821), Jungen wĂŒrden von BrĂŒcken in zu flaches GewĂ€sser springen, beim Schwimmen ertrinken, zu brutal fechten, von der Baumschaukel fallen oder sich beim Klettern verletzen (Frank 1784, S. 627f., 661, 672). Er meinte also, die »kleinen WagehĂ€lse« spielten insgesamt zu risikoreich. Damit zeigt sich bereits eine gewisse ZwiespĂ€ltigkeit, mit der ĂŒber Jungen geredet wurde: Einerseits sollten sie sich viel bewegen und dadurch ertĂŒchtigen, andererseits warnte man sie aber auch stets vor Gefahren und vor ihrer Neigung zum Leichtsinn. Zu erlernen hatten sie also die Balance zwischen Mut und Ăbermut. Individuelle Gesundheit stand jedenfalls nicht im Vordergrund der Ăberlegungen. Nach der Jahrhundertwende wanderten in der Jugendbewegung dann fast ausschlieĂlich Jungen durch die WĂ€lder, in der bĂŒndischen Jugend verstĂ€rkte sich dieser Zusammenhang von KörperertĂŒchtigung und MĂ€nnerbund weiter (Speitkamp 1998, S. 145, 185).
Den MĂ€dchen traute man weniger zu: Ărzte betonten immer wieder, dass junge Frauen durch die Menstruation regelmĂ€Ăig geschwĂ€cht seien. Ihnen empfahl man allenfalls SpaziergĂ€nge. Erst ab ca. 1900 wurden auch ihnen einige LeibesĂŒbungen und leichtere, in der Zwischenkriegszeit dann weitere, Sportarten empfohlen. Die Nationalsozialisten setzten gezielt auf die ErtĂŒchtigung mit dem Ziel, die Gesundheit der spĂ€teren MĂŒtter zu fördern, die krĂ€ftige Kinder fĂŒr einen starken »Volkskörper« gewĂ€hrleisten sollten. Insgesamt ist das ein natalistischer Diskurs, der seit ca. 1800 im Staatsinteresse die GebĂ€rfĂ€higkeit der Frauen einseitig in den Vordergrund rĂŒckte. Bei den Jungen erreichte die geforderte Bereitschaft zum Soldatischen ebenfalls in der NS-Zeit den Höhepunkt (Werner 2008).
Diesem Ziel entsprach ein Leitbild von MĂ€nnlichkeit, das schon bei Jungen eine vorrangige Festlegung auf HĂ€rte gegenĂŒber sich selbst und anderen verlangte. Das AusmaĂ an notwendiger »AbhĂ€rtung« von Kindern wurde zwar auch kritisch diskutiert, in einer Ă€rztlichen Schrift von 1903 aber selbstverstĂ€ndlich fast ausschlieĂlich mit dem Blick auf Jungen thematisiert (Hecker 1903, S. 8, 20â27; vgl. Rutschky 1988, S. 260). Bezeichnenderweise drĂ€ngten im Zeitalter des Nationalismus besonders die VĂ€ter auf AbhĂ€rtung, spĂ€ter imitierten die JĂŒngeren dieses Modell (Reulecke 2001). SchmerzverdrĂ€ngung, Distanz zum eigenen Körper, Abwehr von SchwĂ€che, die als weiblich galt, gehörten zu diesem Syndrom. Traurigkeit oder schlechte Stimmungen sollten nicht artikuliert werden â ein Junge sollte funktionieren. AuĂerdem beobachten Forscher in der Gegenwart, dass in Erziehung und Alltag von Jungen ein höheres MaĂ an Toleranz gegenĂŒber widerfahrener Gewalt als selbstverstĂ€ndlich vorausgesetzt wird (Jungnitz et al. 2007, S. 4, 64).
Der Onaniediskurs behinderte lange ein positives VerhĂ€ltnis zum eigenen Körper (Eder 2002, S. 91 ff.). Seit dem 17. Jahrhundert blĂ€uten Kleriker, Ărzte und PĂ€dagogen den Jungen in einer Vielfalt von Schriften und Predigten ein, dass die Selbstbefriedigung eine höchst gesundheitsschĂ€dliche Praxis sei: Sie schwĂ€che die örtliche Muskulatur, verbrauche die Kraft des mĂ€nnlichen Samens, den man sich als eine begrenzte QuantitĂ€t vorstellte, ruiniere die Nerven, zerstöre das RĂŒckenmark und generell die körperliche Leistungs- und spĂ€tere ZeugungsfĂ€higkeit. Masturbation sei deshalb auch moralisch höchst verwerflich (Kucklick 2008, S. 288 ff.). Mit unterschiedlichen Akzentsetzungen wurde dieser medizinische Unsinn bis in die 1950er Jahre verbreitet und machte vielen Jungen und mĂ€nnlichen Jugendlichen erhebliche Schwierigkeiten, wie wir anhand von Selbstzeugnissen seit dem 18. Jahrhundert beobachten können (Piller 2007, S. 190f.). Ărzte empfahlen hĂ€ufig, als Lösung des Problems eine Ehe einzugehen (Dinges 2002, S. 117; Schönenberger 1907, S. 21). So hieĂ es 1907: Junge MĂ€nner erholen sich bei sonst verstĂ€ndiger Lebensweise in der Ehe meist rasch« â gemeint war von Scham, Reue und NervenzerrĂŒttung.
Parallel zur wachsenden Körperfeindlichkeit wĂ€hrend des 19. Jahrhunderts sollte der Bordellbesuch immer hĂ€ufiger als Initiation in das Geschlechtsleben dienen. Wurde das vom Vater organisiert, konnte es als Enteignung einer eigenstĂ€ndigen SexualitĂ€t empfunden werden, in der Peergroup allerdings als kollektive StĂ€rkung von MĂ€nnlichkeit. Geschlechtskrankheiten waren jedenfalls besonders im 19. und in der ersten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts ein viel diskutiertes Gesundheitsproblem. Etwa 5 % der Rekruten in PreuĂen und Bayern waren in den 1860er Jahren betroffen, bis 1900 sank der Anteil auf 2 % â wegen SoldkĂŒrzungen und stĂ€rkerer Disziplinierung (Sauerteig 1999, S. 75â80). Bei der Kaiserlichen Marine gingen in den 1870er Jahren durch energische MaĂnahmen gegen Hafenbordelle die Geschlechtskrankheiten auf 12 % aller KrankheitsfĂ€lle zurĂŒck. (Bennink 2008, S. 42).
Die Kontrolle der Einberufenen bzgl. Geschlechtskrankheiten im Rahmen der sog. »Schwengelparade« dĂŒrften manche jungen MĂ€nner als belastend empfunden haben (JĂŒtte 1998, S. 24â26). In der Gesamtbevölkerung waren um 1900 MĂ€nner dreimal so hĂ€ufig von Geschlechtskrankheiten betroffen wie Frauen, 1919 nur noch doppelt so hĂ€ufig. WĂ€hrend der Weimarer Zeit gingen diese Erkrankungen weiter zurĂŒck. Trotzdem diskutierte man weiter ĂŒber Ehegesundheitszeugnisse, die auch SPD und Zentrum befĂŒrworteten, aber nicht durchsetzen konnten. Diese wurden erst 1935 durch die Nationalsozialisten verbindlich vorgeschrieben und betrafen neben den Geschlechtskrankheiten nun auch Erb- und Geisteskrankheiten. In den Folgejahren wurde etwa jedem 25. Paar die Eheeignung abgesprochen, allerdings mehr Frauen als MĂ€nnern (bis 1943: 43 000 : 34 000) (Sauerteig 1999, S. 379). Geschlechtskrankheiten im Jugendalter verlieren bis in die 1980er Jahre weiter an Bedeutung (Biener 1991, S. 109f.).
Positive Impulse fĂŒr ein gesundheitsförderliches Verhalten bieten allenfalls eine Reihe von Regeln: ErnĂ€hrungsempfehlungen sind zwar oft geschlechterneutral formuliert, beziehen sich aber implizit doch auf mĂ€nnliche Jugendliche. In der Tradition solcher Werke seit der Antike orientieren sie darauf, MaĂ zu halten: »Der JĂŒngling weiĂ es nicht, wie sehr er sich durch Ausschweifungen mancherlei Art â durch einen Trunk in die [sic!] Hitze, durch UnmĂ€Ăigkeit im SpeisegenuĂ, verdirbt. Noch widerstehen seine muntern KrĂ€fte ...« (Struve 1804, S. 49). Es wird also auf die langfristigen Folgen hingewiesen. Studierende werden besonders ermahnt, das rechte MaĂ zwischen »Speisegenuss« und Bewegung zu finden: »Wer sich fleiĂig Bewegung macht, kann reichlichere Mahlzeiten halten und verdauet besser« (Struve 1804, S. 44). Besonders um 1900 hĂ€ufen sich ErnĂ€hrungsempfehlungen, die aber geschlechterunspezifisch sind, auch wenn eine sehr fleischhaltige Nahrung als jungengerecht und »mĂ€nnlich« gilt, wĂ€hrend die MĂ€dchen besonders seit den 1920er Jahren mit Schlankheitsappellen traktiert werden (Wirz 1993, S. 21 f.). Auch deshalb bleibt die Anorexie bis in die 1980er Jahre fast ausschlieĂlich eine Krankheit weiblicher Jugendlicher (Habermas 1990, S. 15, 23â30, 201, 206â210).
Hinsichtlich der Sauberkeit finden sich im medizinischen Schrifttum keine Hinweise, dass man Jungen fĂŒr problematischer hielt als MĂ€dchen. Empfehlungen zur Mundreinigung werden ebenfalls geschlechterneutral formuliert (Sepp 1892, S. 9, Struve 1804, S. 106). Ăhnlich heiĂt es: »Die Ohren werden rein gehalten« (Struve 1804, S. 115). Erst beim Blick auf die Adressaten der Schrift â »gebildete JĂŒnglinge« (und Lehrer) â wird klar, dass die mĂ€nnliche Jugend gemeint ist. Andere Empfehlungen betreffen die Kleidung. Sie soll sauber, dem Klima angepasst und locker sein, auĂerdem gewechselt werden, damit keine Hautkrankheiten entstehen können bzw. AusdĂŒnstungen nicht behindert werden (Struve 1804, S. 108). Der reinliche Körper wird als Ausdruck der Sittlichkeit der Person gedeutet (ebd., S. 112). Ansonsten wird auch 1852 weiter das »FuĂreisen« als AbhĂ€rtung empfohlen (Rutschky 1988, S. 287). Vom Rauchen rĂ€t Struve bei jungen Leuten ab, da diese Angewohnheit dem Körper SĂ€fte entziehe, die er zum Wachsen brauche (Struve 1804, S. 151). Weiterhin gibt er RatschlĂ€ge, wie man Ansteckungen vermeiden kann (ebd., S. 160). Bis auf die Bezugnahme auf das Rauchen und die Studenten könnte das alles aber genau so auch in einer Schrift fĂŒr junge Frauen stehen. TatsĂ€chlich geschlechterspezifische Hygieneempfehlungen sind also eher selten.
Allerdings fungierte das MilitĂ€r bereits im 18. Jh. als eine Art Schule der Reinlichkeit, was mit der praktischen Durchsetzung der allgemeinen Wehrpflicht vor 1900 immer bedeutsamer wird: Dort sollten die jungen MĂ€nner aus allen Schichten gewisse Standards von Sauberkeit erlernen. Diese bezogen sich vorwiegend auf das Ă€uĂere Erscheinungsbild, also die Kleidung (Uniform, AusrĂŒstung etc.) weniger auf den Körper selbst (Dinges 1996, S. 82â85). Die Uniform konnte und sollte auch die Frauen beeindrucken (Frevert 1996, S. 169 f.). WĂ€hrend des 19. Jahrhunderts dĂŒrfte die Musterung viele junge MĂ€nner erstmals mit einer vergleichenden Bewertung ihres Gesundheitszustandes konfrontiert haben. Dabei wurde immerhin ein Drittel bis 45 % der jungen MĂ€nner als untauglich ausgemustert (Kaup 1925, S. 62f., 64, 68). Manche mögen sich darĂŒber gefreut haben, fĂŒr andere war dieses Musterungsergebnis eine Infragestellung ihres Selbstkonzepts als Mann. Diese Selbstzweifel wegen attestierten KörpermĂ€ngeln scheinen im 19. Jh. zu wachsen (Schweig 2009, S. 72 f.). Im Ersten Weltkrieg lernten manche Soldaten dann Entlausungskampagnen kennen (ebd., S. 76).
FĂŒr die Gesundheitserziehung ist die Rolle der Familie viel wichtiger als das letztlich sehr eingeschrĂ€nkte institutionelle Angebot von Schule und MilitĂ€r. Im Vordergrund der bĂŒrgerlichen Medikalisierungskampagne stehen die MĂŒtter. Sie dĂŒrften von den Söhnen mehr mit der Aufgabe des Ratgebers in Gesundheitsangelegenheiten assoziiert worden sein als die VĂ€ter (Dinges 2004, S. 105â107). Allerdings spielten auch diese schon im 19. Jahrhundert eine gröĂere Rolle als es der bĂŒrgerliche Geschlechterdiskurs erwarten lieĂe. VĂ€ter beteiligen sich aktiv an der Kinderkrankenpflege und als Ratgeber (Schweig 2009, S. 49â54, 57f., 63â65, 68, Dinges 2010a). Von einer völligen »Feminisierung« des Themas Gesundheit kann also nicht die Rede sein.
Lange wurde bezeichnenderweise ein Thema gĂ€nzlich ausgespart: die psychischen Belastungen durch den Weltkrieg. Fliegeralarme, Ausbombungen, Evakuierung, Flucht, Vertreibung, Armut, langfristige Abwesenheit der VĂ€ter und anderer Bezugspersonen haben nach neueren Forschungsergebnissen langfristige psychische Folgen â bis in die dritte Generation (Franz et al. 2007, S. 216, 225). Es gab etwa 500 000 Kriegswaisen und ca. 20 Mio. Kriegshalbwaisen (Dörr 2007, Bd. 1, S. 443.). Insgesamt ist davon auszugehen, dass etwa ca. 25 % der nach 1929 bis 1948 Geborenen unter »lang anhaltenden« und ein knappes Viertel unter »dauerhaft beschĂ€digenden EinflĂŒssen« Kindheit und Jugend erlebten (Radebold 2005, 23). »30 % der Deutschen, die zwischen 1933 und 1945 geboren wurden, wuchsen kriegsbedingt ohne Vater auf« (Bode 2006, S. 53). FĂŒr die Geburtskohorte 1935 konnte exemplarisch gezeigt werden, dass die Vaterabwesenheit im weiteren Lebenslauf zu einer signifikant erhöhten AnfĂ€lligkeit fĂŒr psychogene Erkrankungen bis heute fĂŒhrt (Franz 2005, S. 53). FĂŒr die Nachkriegszeit lĂ€sst sich auĂerdem zeigen, dass die Jungen durch die Erfahrung der Ausbombung langfristig stĂ€rker traumatisiert waren als die MĂ€dchen (BrĂ€hler et al. 2005, S. 125). Auch wiesen Jungen nach den Ko...
Table of contents
- Deckblatt
- Titelseite
- Impressum
- Inhaltsverzeichnis
- Vorwort der Herausgeber
- 1 Jungengesundheit im epidemiologischen Zusammenhang
- 2 Körperliche und psychosoziale Entwicklung von Jungen
- 3 Jungenmedizin
- 4 Gesundheitsversorgung von Jungen
- 5 Mentale und psychische Jungengesundheit
- 6 Soziale Gesundheit
- 7 Gesundheitsbildung/-erziehung
- 8 Risikoverhalten
- 9 Aggression und Gewalt
- 10 Anhang
- Autoren und Autorinnen
- Stichwortverzeichnis