I DISZIPLIN
1 PERSPEKTIVEN AUF „SCHWERE UND MEHRFACHE BEHINDERUNG“
1.1 Bezeichnungen und Begriffssetzungen
Die Vorstellungen über das, was „Behinderung“ oder „schwere Behinderung“ ausmacht, lassen sich niemals isoliert als Phänomen eines Subjektes betrachten, sondern sind ausschließlich im Kontext gesellschaftlich-sozialer Bedingungen und Entwicklungen zu verstehen. Was gesellschaftlich unter „schwerer oder mehrfacher Behinderung“ verstanden wird trägt dabei immer historisch entstandene, gesellschaftlich geprägte und individuell-biografische Wissenselemente. In einer typisierten und kategorisierten Form werden die individuellen Bilder und Vorstellungen zu Bezeichnungen für einen bestimmten Personenkreis. Diese Bezeichnungen können jedoch den so benannten Personen niemals gerecht werden. Sie sind Konstruktionen und Vorstellungen über andere Menschen, die durch unterschiedliche Einstellungen, Perspektiven und Sichtweisen bestimmt sind.
Aus Praxis und Theorie existiert seit den 1970er Jahren eine gewachsene Anzahl an Beschreibungsversuchen und Begriffen der Personengruppe, um „eine besondere, durch die Schwere der Schädigung und Beeinträchtigung definierte Bedürfnislage zu kennzeichnen und daraus den Anspruch auf besondere Leistungen abzuleiten“ (Schmuhl 2007, S. 36). Dabei werden folgende Begriffe synonym oder mit unterschiedlichen Akzentuierungen genutzt: „Menschen mit schwersten Behinderungen“ (Fornefeld 2000; Klauß 1999), „Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen“ (Fröhlich 2007b; Feuser et al. 2001), „Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen“ oder „Menschen mit schwerer geistiger Behinderung“ (Klauß und Lamers 2003a; Breitinger 1998; Speck 2003). Darüber hinaus gibt es Bezeichnungen, die diesen Personen einen „allumfassenden Hilfebedarf“ (Burkhart 2004, S. 28), einen „intensiven Förderbedarf“ (Speck 2012) oder einen „hohen Unterstützungsbedarf“ attestieren (vgl. Schlichting, 2013, S. 15).
Diese Bezeichnungen fokussieren den so beschriebenen Menschen und seine individuelle Situation. Sie sind „Eigenschaftsbeschreibungen“ (Fornefeld 2008a, S. 51) von Personen und ihrer angenommenen individuellen Problemlagen hinsichtlich ihrer physischen, kommunikativen oder sozialen Realität und sich daraus ergebender Unterstützungsbedarfe.
Grundsätzlich gilt dabei festzustellen, dass die Kriterien, nach denen Personen als schwer und/oder mehrfachbehindert bezeichnet werden, immer unzulänglich sind. Sie sind Teil einer fiktiven Realität und suggerieren eine scheinbare Gewissheit darüber, was den so bezeichneten Personenkreis ausmacht und charakterisiert. Bereits Bach (1991, S. 3) macht deutlich, dass in Bezug auf den Begriff der schweren Behinderung vor allem die Vielfalt der Aspekte auffällt, „die er in sich zu vereinigen vermag, d. h. die Fülle unterschiedlichster und z. T. gegensätzlicher Einfälle, Vorstellungen und Handlungsimpulse, die das Wort ‚Schwerste Behinderung‘ auszulösen angetan ist“. Fröhlich verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass das Attribut „schwerbehindert“ oder „schwerstbehindert“ weniger auf den Personenkreis selbst verweist, sondern vielmehr die Perspektive des Betrachters beschreibt: einer Pädagogik, die den Umgang mit dem Personenkreis als „schwierig“ erlebt (Fröhlich 2007b, S. 222). Der Versuch, den Begriff der schweren Behinderung zu definieren, scheitert insofern auch „bereits an der Uneindeutigkeit des Begriffs ‚Behinderung‘ selbst, von dem die ‚Schwerstbehinderung‘ als Superlativ abgeleitet ist“ (Fornefeld 1998, S. 49). Lamers (2000, S. 188) und Fornefeld (1998, S. 36) verweisen in Bezug auf den häufig verwendeten Superlativ „schwerst“ auf Schröder (1979), der darin lediglich eine formal-quantitative Klassifikation sieht, die keinen oder nur geringen inhaltlich-qualitativen Aussagewert besitzt.
In aktuellen Veröffentlichungen wird deshalb nicht auf den Personenkreis und seine Merkmale geschaut, sondern vielmehr das vielschichtige Verhältnis von individueller Lebens- und sozial-gesellschaftlicher Situation und die besondere randständige sozial-gesellschaftliche Position fokussiert. Fornefeld spricht in diesem Zusammenhang von „Menschen mit Komplexer Behinderung“ (Fornefeld 2008b), um die – in Bezug auf den Personenkreis – festgestellte Exklusionsgefahr und die „systembedingten Kontextfaktoren“ (Fornefeld 2008b, S. 51) besonders hervorzuheben. Im Sinne eines „verstehenden Zugangs“ zum Phänomen Behinderung wird „Komplexe Behinderung“ als „Attribut der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung“ gesetzt. Fornefeld fokussiert in einer anthropologisch-phänomenologischen Betrachtung die Lebenswirklichkeit der so bezeichneten Personengruppe, in der sich sowohl das Phänomen Behinderung als auch die Deutung und Wertung dieses Phänomens miteinander verschränken. Menschen mit Komplexer Behinderung sind von Exklusion „durch das Hilfesystem selbst“ (Fornefeld 2008b, S. 77) betroffen (vgl. Kap. 3.1).
Schuppener (2011) spricht in einer etwas anderen Konnotation von „intensiven Behinderungserfahrungen“, die sich „in Form eines hohen Risikos des Erlebens von Stigmatisierung und Exklusion“ ausdrücken, denen der so bezeichnete Personenkreis ausgesetzt ist. In einer konsequent kompetenzorientierten Sichtweise wird beschrieben, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die als schwer und mehrfachbehindert gelten, in besonderer Weise genötigt sind, umfassende Kompensationsleistungen zu vollbringen, um die eigene Existenz zu sichern und Isolation zu kompensieren (Schuppener 2011, S. 301).
„Der Begriff intensiver Behinderungserfahrungen steht grundsätzlich für subjektive Erfahrungen von Barrieren im Sinne eines ‚behindert werdens‘ durch Normvorstellungen und normative Handlungsbedingungen“. (Schuppener 2011, S. 301) Intensive Behinderungserfahrungen sind grundsätzlich als „Lebensbewältigungskompetenz“ (ebd.) anzusehen.
Generell ist darauf zu verweisen, dass die Deutungshoheit über das, was „Behinderung“ oder „Schwere und mehrfache Behinderung“ ausmacht nicht bei den betroffenen Personen selbst liegt. Ihre Kategorisierung, die Zuschreibung von psychisch-sozialen Bedingungen ihres Seins erfolgen ausschließlich aus der Perspektive der jeweiligen Betrachter. Verschiedene Autoren (Greving 2002, S. 101ff.; Dederich 2007; Schmuhl 2007) verweisen deshalb in Anlehnung an Bourdieu darauf, dass die Definitionsmacht ganz und gar bei denen liegt, die im sozialen Feld über die Möglichkeiten und die Macht verfügen. Ihre Sprache und die gesetzten Begrifflichkeiten sind immer auch Ausdruck von Interessen und Motiven verschiedener Akteure im sozialen Feld. Der Staat mit seinen Gesetzgebungen, die verschiedenen Verbände oder Professionen und Institutionen, sie alle verbreiten spezifische Begriffe, um eigene Interessen zu wahren, mit allen Konsequenzen für die betroffenen Personen (Schmuhl 2007, S. 24).
Diese ungleichen Machtverhältnisse lassen Menschen mit Behinderung zum Objekt derjenigen werden, die Behinderung konstruieren und weisen den Menschen selbst in eine Position der Ohnmacht (Greving 2002, S. 101ff.; Jantzen 2007, S. 91; Ziemen 2002b). Die Verwendung von Begrifflichkeiten entscheidet insofern immer auch über soziale Inklusion oder Exklusion (Schmuhl 2007, S. 24).
Für Menschen, denen die Attribute „schwer oder mehrfach-behindert“ zugewiesen werden, hat dies in der Regel negative Konsequenzen. Zum einen bedeutet es eine Exklusion aus vielen verschiedenen gesellschaftlichen Bezügen, die im Kontext eines fortschreitenden Abbaus sozialer Sicherungssysteme aktuell zunimmt (Fornefeld 2008c; Schmuhl 2007). Zum anderen kann diese Bezeichnung existentielle Bedeutung bekommen, insofern sie das Recht auf Leben tangiert. Im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge sind beispielsweise pränataldiagnostische Untersuchungen inzwischen zur Routine geworden. Eine diagnostizierte „schwere Behinderung“ führt hier in der überwiegenden Zahl der Fälle zu einem Schwangerschaftsabbruch (Heinen und Lamers 2001). Dennoch gilt es darauf zu verweisen, dass sozialstaatliche Rechte und Leistungen an Bezeichnungen und Diagnosen gekoppelt sind. Diese Koppelung – auch als Ressourcen-Etikettierungsdilemma bezeichnet – führt dazu, dass das Attribut „schwer“ oder „schwerstbehindert“ aktuell noch dazu beitragen kann, „die Menschen- und Bürgerrechte der so Bezeichneten zu stärken“ (Schmuhl 2007, S. 36) und „daraus den Anspruch auf besondere Leistungen“ des Sozialstaates abzuleiten (ebd.).
In der Beschäftigung mit dem Personenkreis, der als schwer und mehrfachbehindert bezeichneten Menschen, gilt es, diese Zusammenhänge und Widersprüche aufzudecken und jede begriffliche Annäherung und jeden Definitionsversuch in die Relativität sozial-gesellschaftlicher Konstruktion und sozialpolitischer Verhältnisse zu stellen und die damit verbundenen Machtverhältnisse zu reflektieren. Aufgrund der beschriebenen Relativität kann und darf es eine allgemeine Definition nicht geben. Die so bezeichneten Personen wären allein durch den Versuch einer solch gültigen allgemeinen Bestimmung in unzulänglicher Weise anthropologisch reduziert. Insofern können die folgenden Beschreibungen nur einen Überblick über historische und aktuelle Sichtweisen und Annäherungsversuche geben, wobei zu betonen gilt, dass alle diese Versuche letztlich unzulänglich bleiben (vgl. Klauß 2011b, S. 12).
1.2 Historische Sichtweisen auf den Personenkreis
Verschiedene Imaginationen vom Mensch-Sein in den unterschiedlichen historischen Epochen haben unterschiedliche Bilder von „Behinderung“ entworfen, die mit je spezifischen Begrifflichkeiten belegt sind. Diese Bilder verweisen auf die jeweiligen gesellschaftlich-sozialen Bedingungen, in denen sie entstanden. Sie sind eng verwoben mit der Entwicklung der Heil- und Sonderpädagogik als Profession und Disziplin und damit verbundenen Prozessen der Kategorisierung und Institutionalisierung (siehe Kap. 2.3). Ohne diesen Kontext lassen sich Sichtweisen auf den Personenkreis und auf ihn bezogene Begriffe nur fragmentarisch darstellen. Unter Beachtung dieser Einschränkung werden in diesem Kapitel dennoch in einem kurzen Abriss die historischen Sichtweisen fokussiert, um zu verdeutlichen, mit welchen Attributen dieser Personenkreis in verschiedenen Epochen belegt wird und welche gravierenden Folgen dies für die betroffenen Menschen hat.
Historisch betrachtet lassen sich erste Bilder von Behinderung bis in die Antike zurückverfolgen. Sie sind geprägt von magischen, mythologischen Vorstellungen. Das Verhalten von Menschen mit kognitiven und/oder körperlichen Beeinträchtigungen erklärt man sich mit dem Einfluss von Dämonen oder Geistern, die von diesen Menschen Besitz ergriffen haben. Obwohl keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen, ist davon auszugehen, dass Menschen, die heute als schwer- oder mehrfachbehindert bezeichnet werden, in diesen Epochen allein aus medizinischen Gründen kaum Überlebenschancen haben. Die Mortalität erhöht sich in vielen Kulturen durch eine systematische Aussetzungs- und Tötungspraxis des Personenkreises. Belegt ist diese Praxis beispielweise bei Römern, Griechen und Germanen (Fornefeld 2009, S. 30).
Mittelalterliche Vorstellungen sind gleichsam von mythologischen Vorstellungen geprägt und zunehmend verbunden und durchmischt von christlichen Deutungsversuchen. Das Schicksal und die Bestimmung des Menschen werden in die Hand Gottes gelegt. Als Folge dualistischer Vorstellungen von Gut und Böse, personifiziert in der Gestalt von Gott und Teufel, wird Behinderung als Strafe Gottes identifiziert. Personen, die als behindert erkannt werden, gelten als vom Bösen besessen. Oft werden sie als Kinder des Satans, als „Wechselbälger“ bezeichnet. Diese Vorstellungen sind durchaus auch in folgenden Epochen handlungsleitend. So wird noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts Behinderung in einigen protestantischen Strömungen als Folge eines Glaubensverfalls gedeutet und unter dem Paradigma der Selbstverschuldung als Strafe Gottes bewertet (Moser und Horster 2012, S. 14).
Allgemein entwickelt sich jedoch bereits mit der Epoche der Aufklärung im ausgehenden 18. Jahrhundert eine andere Perspektive auf Behinderung. Die beginnende Bestimmung des Menschen als autonomes Individuum, die Forderung nach einer Befreiung aus der Unmündigkeit und der Glaube an die Vernunft als Motor dieser Emanzipation, führt zu einer Identifizierung von Phänomenen, die heute als „behindert“ zusammengefasst werden (Moser und Horster 2012, S. 13; Greving 2002, S. 101; Störmer 2007, S. 288). In den Idealen der Aufklärung scheint erstmalig in der Historie eine Differenzierung von Vernunft und Unvernunft, von Mündigkeit und Unmündigkeit auf, in deren Folge Menschen überhaupt erst als behindert wahrgenommen werden. Historisch betrachtet liegt in der Epoche der Aufklärung auch die Geburtsstunde der Heilpädagogik (vgl. Möckel 2007).
Diese Entwicklung geht einher mit dem aufkeimenden Gedanken einer Allgemeinen Bildung für alle Menschen als Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit1. Erziehungs- und Bildungsprozesse werden als grundlegend erkannt, um das Ideal eines vernünftigen, autonom handelnden Menschen zu verwirklichen. Mit der Betonung dieser grundsätzlichen Bildungsnotwendigkeit kommt es unweigerlich zur Frage nach der Bildungsfähigkeit. Das Postulat einer Allgemeinen Bildung als Mittel zur Befreiung aus unmündigen Abhängigkeitsverhältnissen identifiziert einen Personenkreis, der diesen aufkommenden Anforderungen nicht zu genügen scheint. Die Einlösung des Rechts auf Bildung für alle führt auf der Kehrseite paradoxerweise zu einer Bestimmung derer, die als nicht bildungsfähig gelten. Erst in der Epoche der Aufklärung keimt durch deren Ideale eine Kategorisierung zwischen „bildungsfähig“ und „bildungsunfähig“ auf (vgl. Kap. 2.1). Sie betrifft vor allem Menschen, die als „Blödsinnige“, „Schwachsinnige“, „Stumpfsinnige“ oder „Kretine“2 bezeichnet werden. Diese Begriffe kennzeichnen in synonymer Weise sowohl Menschen, die heute als geistig behindert, als auch diejenigen, die als schwer behindert bezeichnet werden. Dennoch entwickelt sich im 18. und 19. Jahrhundert eine ungleiche Perspektive auf diese beiden Personengruppen. Während in Bezug auf Menschen mit geistiger Behinderung erste – wenn auch vereinzelte – Versuche der Erziehung und Bildung entstehen – beispielweise in den Erziehungsbemühungen von Guggenbühl, Georgens und Deinhardt oder Séguin (vgl. Lindmeier und Lindmeier 2002) – bleiben Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung von dieser Entwicklung ausgeschlossen3. Ihnen wird Bildungs- und Entwicklungsfähigkeit umfassend abgesprochen. Die Trennlinie zwischen „bildungsfähig“ und „bildungsunfähig“ verläuft in der Folge nicht nur zwischen „blödsinnigen“ und „vernunftbegabten“ Menschen, vielmehr wird eine zweite Grenzmarkierung eingeführt, die die „Blödsinnigen“ und „Cretinen“ nochmals in „bildungsfähig“ und „bildungsunfähig“ unterteilt (Mühl 1991; Störmer 2007, S. 289). Johann Jacob Helferich, ein Taubstummenlehrer, der im 19. Jahrhundert in der neu gegründeten Anstalt Mariaberg tätig ist, erkennt beispielsweise „mannigfaltigste Grade und Abstufungen“ im „geistigen Haushalt der Cretinen“ (Helferich 1847, zit. nach Lindmeier und Lindmeier 2002, S. 29). Er differenziert zwischen „dem kaum menschlich gestalteten Kinde, in welchem das Psychische in seiner Anlage erloschen scheint und das dem Selbsterhaltungstriebe nicht einmal entsprechen kann“, und jenem Kind, welches fähig ist, „sich zur bürgerlichen Brauchbarkeit, zur geistigen Freiheit“ zu erheben (ebd.). Als Fazit dieser Unterscheidung folgert er: „Wir beschäftigen uns nur mit den letzteren, als solchen, die wirklich bildungsfähig sind“ (ebd.). Als Anhaltspunkt und leitendes Kriterium für „Bildungsfähigkeit“ macht Helferich insbesondere die Fähigkeit zur Sprache aus (ebd.).
Dem Personenkreis, der weiterhin als „bildungsunfähig“ gilt, wird anthropologisch lediglich noch eine Randstellung zugewiesen. Ihm werden menschliche Eigenschaften weitestgehend abgesprochen. Kennzeichnend ist eine Darstellung als Wesen, „deren Dasein und Lebensäußerungen ohne Zweck und ohne Zusammenhang mit bestimmten Anfo...