1 Annäherung: Zum Konzept einer Klinischen Heilpädagogik
1.1 Der Begriff
Heilpädagogisches Arbeiten bewegt sich auf einem Kontinuum zwischen Inklusionspädagogik und Klinischer Heilpädagogik. Das Hauptziel jedoch ist immer die Gewährleistung und Sicherung von Partizipation und Teilhabe am Leben in einer Gesellschaft. Unter inklusionspädagogischen Gesichtspunkten ist heilpädagogisches Handeln „im Wesentlichen eine verberuflichte Form der natürlichen familialen bzw. durch das Individuum selbst durchzuführenden Versorgung, Pflege, Begleitung und Unterstützung bei Entwicklung sowie Lebensführung bei Personen, die hinsichtlich ihrer Funktionsfähigkeit und Aktivitäten (bio-psychischer Aspekt: Körperlichkeit) sowie des Einbezogenseins in Lebenssituationen (sozialer Aspekt: Partizipation [Teilhabe]) durch eine Schädigung/Behinderung beeinträchtigt sind“ (Greving & Ondracek, 2009, 25). Unter der Perspektive einer Klinischen Heilpädagogik geht es nicht vorwiegend um Alltagshandeln im Sinne von Lebensbewältigung und Lebensgestaltung, sondern es werden spezifische personale und soziale Risikofaktoren bei Menschen mit einer Schädigung oder Behinderung in den Blick genommen, um psychische oder körperliche Störungen vorzubeugen bzw. zu behandeln. Klinische Heilpädagogik als Teildisziplin der Heilpädagogik befasst sich somit mit den heilpädagogischen Aspekten von somatischen und psychischen Störungen im biopsychosozialen Kontext.
Der Begriff Klinische Heilpädagogik wird in der einschlägigen Literatur nicht oder nur wenig verwendet. Er ist nicht sehr geläufig. In der Schweiz bezeichnet er den außerschulischen Bereich der Heilpädagogik, insbesondere die Arbeit mit verhaltensauffälligen und behinderten Kindern. Die Gründe für die spärliche Verwendung des Begriffes mögen in dem Wort „klinisch“ und die damit verbundene Assoziation mit der Medizin sein.
Das Wort Klinik bezieht sich im deutschsprachigen Raum auf stationäre Einrichtungen der medizinischen Gesundheitsversorgung. Im angelsächsischen Raum bedeutet er auch eine ambulante Einrichtung zur Diagnostik und Therapie von Störungen und Krankheiten.
Ursprünglich aus dem griechischen abgeleitet (kline = Lager, Bett), bedeutet der Begriff die Behandlung von Kranken, wobei die Behandlung mehr umfasst als Therapie. Meist wird das Wort klinisch auch benutzt, um die Arbeit mit einem Einzelfall zu bezeichnen, d.h. er bezieht sich hierbei nicht so sehr auf den Ort als auf die Rahmenbedingungen. Klinische Gegenstandsbereiche stehen daher im Zusammenhang einer Behandlung, d. h. betreffen behandlungswürdige Personen oder biopsychosoziale Prozesse, die einer Behandlung bedürfen.
Früher wurden beispielsweise auch Behinderungen als Leiden oder gar als eine Krankheit betrachtet. Heute versteht man sie als eine besondere Form des menschlichen Seins, die keiner Behandlung, sondern einer Unterstützung und Begleitung bedürfen, um am gesellschaftlichen Leben im umfänglichen Maße teilhaben zu können. Es ist jedoch belegt, dass Menschen mit einer Behinderung speziellen Risikofaktoren ausgesetzt sind, die zu Störungen im biopsychosozialen Kontext führen können. Solche Störungen zu vermeiden, zu lindern oder zu behandeln ist Gegenstand und Aufgabe einer Klinischen Heilpädagogik und hat nur wenig mit dem medizinischen Paradigma gemein, zumal dessen Menschenbildannahme eine völlig andere ist. Geht es ja nicht um eine Heilung einer Krankheit oder um die Reparatur einer Funktionsuntüchtigkeit, sondern um die Bereitstellung spezialisierter heilpädagogischer Angebote zur Verbesserung der Chancen gesellschaftlicher Teilhabe. Was für jeden nicht behinderten Menschen selbstverständlich ist, nämlich bei drohenden oder bereits vorhandenen Störungen Hilfe aufsuchen zu können, dies sollte auch für Menschen mit einer Behinderung gewährleistet sein.
1.2 Spurensuche
Während für die Soziale Arbeit in den letzten zehn Jahren viele Publikationen zur Klinischen Sozialarbeit auf den Markt kamen (Dörr, 2002; Gahleitner, 2008; Geißler-Piltz et al., 2005; Ortmann, 2008; Pauls, 2004; Schaub, 2008), gibt es für das Konzept einer Klinischen Heilpädagogik, wie bereits erwähnt, nur ganz Spärliches, obschon die Heilpädagogik im Gegensatz zur Sozialen Arbeit über eine lange klinische Tradition verfügt. Schon immer arbeiteten Heilpädagogen in ausgewiesenen klinischen Aufgabenfeldern unter entsprechenden Rahmenbedingungen.
Nachfolgende Spurensuche könnte man den Titel „Von einer angewandten Kinder- und Jugendpsychiatrie zu einer Klinischen Heilpädagogik“ geben. Ein erster Artikel zur klinischen Betrachtungsweise der Heilpädagogik stammt von dem bekannten Psychiater August Homburger aus dem Jahr 1927. Eine weitere Veröffentlichung aus dem Jahr 1973 mit dem Titel „Klinische Heilpädagogik“ (Koch, 1973) umschreibt diese mehr oder weniger als heilpädagogische Arbeit im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich, sozusagen als „angewandte Kinder- und Jugendpsychiatrie“.
Im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie waren die „heilenden Erzieher“ oftmals Ärzte mit heilpädagogischer Erfahrung, die sich Kindern mit Behinderungen bzw. psychischen Auffälligkeiten annahmen. Der Kinder- und Jugendpsychiater Hans Stutte (1957) bemerkt, „die Heilpädagogik ist angewandte Kinderpsychiatrie, bedeutet: von biologisch und psychologischer Einheit durchdrungene Pädagogik für behinderte und psychisch auffällige Kinder“ (zitiert nach Nissen, 2005, 106). Immer wieder wurde betont, dass es nicht um Heilung im eigentlichen Sinne gehen kann, sondern Heilpädagogik eine besondere Form der Pädagogik darstellt.
Der österreichische Kinderarzt Hans Asperger sah das heilpädagogische Arbeitsfeld wesentlich umfassender. Für ihn integrierte die Heilpädagogik pädiatrische, psychologische, pädagogische und soziale Gesichtspunkte. Sie wirkt somit grenzüberschreitend und ist als therapeutische Disziplin (Hervorhebung durch die Verfasserin) mehr als angewandte Kinder- und Jugendpsychiatrie (vgl. Nissen, 2005, 465). Heilpädagogik und Kinderpsychiatrie waren für ihn fast synonyme Begriffe. Es ist interessant, dass 1940 in Wien die Deutsche Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik gegründet wurde, Vorläuferin einschlägiger Berufsverbände.
Wurde die Heilpädagogik im Kontext der Kinder- und Jugendpsychiatrie als therapeutische Disziplin verstanden, ist sie für den Schweizer Pädagogen Paul Moor „Pädagogik und nichts anderes“ (zitiert nach Kobi, 1983, 84). Immer wieder sorgte der Begriff „Heil“ für Diskussionen um die Abgrenzung von Pädagogik und Therapie. Kobi (1983) beklagt einen inflationären und unscharfen Gebrauch von Therapie. In der Heilpädagogik gehe es gerade nicht um gesund machen, sondern um Erziehung entwicklungsauffälliger Kinder und deren Lebensumfeld. Therapie rechtfertige sich nur in einem klinischen Zusammenhang.
Dennoch klassifiziert auch Kobi (1983) neben einer behindertenorientierten Heilpädagogik weitere Aufgabefelder und Funktionsbereiche und benutzt explizit den Begriff der Klinischen Heilpädagogik: „Heilpädagogische Erfassung und Diagnostik, Heilpädagogische Information und Beratung, Heilpädagogische Früh- und Vorschulerziehung, Sonderschulpädagogik, Klinische Heilpädagogik (Hervorhebung durch die Verfasserin), Heimpädagogik, usw.“ (Kobi, 1983, 123).
Die Spurensuche endet in neuerer Zeit mit einer Veröffentlichung einer Dozentin der Universität Fribourg in der Schweiz. Jeltsch-Schudel (2004) gab ihrer Arbeit den sehr treffenden Titel: „Klinische Heilpädagogik: unüblich als Begriff, vernachlässigt als Bereich, herausfordernd als Aufgabe.“ Wie bereits erwähnt, wird in der Schweiz dieser Begriff als Synonym für den gesamten außerschulischen Bereich der Heilpädagogik verwendet. Die Gedanken zu diesem Thema in der Arbeit von Jeltsch-Schudel beschreiben im Wesentlichen die Grundzüge der Schweizer Ausbildung. Dennoch ist der Titel auch für vorliegende Arbeit überaus zutreffend: Klinische Heilpädagogik ist ein unüblicher Begriff, eine vernachlässigter Bereich und eine herausfordernde Aufgabe.
1.3 Abriss der Arbeitsfelder, Zielgruppen und Methoden
Die Gegenstandsbereiche jeder klinischer Arbeit stehen immer im Zusammenhang mit zielorientierter Entwicklungs- und Gesundheitsförderung durch ein bestimmtes methodisches Vorgehen wie Diagnostik, Beratung, Förderung und Therapie und betreffen Menschen jeglichen Alters mit körperlichen, psychischen oder sozialen Beeinträchtigungen.
In Bezug auf die Arbeitsfelder heißt dies für eine Klinische Heilpädagogik:
Die Arbeit in ambulanten, teilstationären und stationären Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, in der Prävention und Rehabilitation. Dazu gehören Beratungsstellen, Frühförderstellen, Sozialpädiatrische Zentren, Kinder- und Jugendpsychiatrische Praxen, Kliniken der Familienrehabilitation und dergleichen mehr.
In Bezug auf die Klientel heißt das für eine Klinische Heilpädagogik:
Die Beschäftigung mit den heilpädagogischen Aspekten von Menschen in erschwerten Lebenslagen mit Entwicklungsgefährdungen und -störungen, psychischen Problemen, chronischen Krankheiten oder Funktionsbeeinträchtigungen wie beispielsweise der Sprache und der Motorik, die eine Integration gefährden könnten.
In Bezug auf die Methoden heißt das für eine Klinische Heilpädagogik:
Die Anwendung Heilpädagogische Diagnostik, Heilpädagogische Entwicklungsförderung, Heilpädagogische Spieltherapie, Heilpädagogische Kunsttherapie, Methoden der Unterstützten Kommunikation, aber auch andere Formen der Intervention wie beispielsweise edukative Methoden bei chronischen Erkrankungen oder besonderes Krisenmanagement bei Kindern mit Traumafolgen entstanden durch häusliche Gewalt. Eine zukünftig zunehmend wichtige Aufgabe einer Klinischen Heilpädagogik wird es sein, bereits bestehende psychotherapeutische Ansätze bei Menschen mit einer geistigen Behinderung, die zusätzlich psychische Probleme entwickelt haben, weiter zu entwickeln.
Es ist interessant, dass gerade die Heilpädagogik über einen reichen eigenen Methodenkanon verfügt und nicht nur auf die Anleihe von Nachbardisziplinen angewiesen ist. So kann Theunissen (2005) eine ganze Reihe pädagogisch-therapeutischer Handlungskonzepte auflisten und diskutieren: Basale Kommunikation, Basale Stimulation, Snoezelen, Psychomotorik/Motopädagogik, Heilpädagogische Rhythmik, Pränatalraum-Musiktherapie, Psychomotorische Therapie (nach Aucouturier), Erlebnispädagogik, Problemlösende Alltagsgeschehnisse (nach Affolter), Sensorische Integration, Wahrnehmungsförderung (nach Frostig), Selbstsicherheitstraining, Soziales Lernen, Problemlösungstraining, Mediation, Gentle Teaching, Pädagogische Kunsttherapie, Validation, Unterstützte Kommunikation, TEACCH-Konzept, Neuropsychologisch orientierte Lernförderung und Therapie, „Verhaltensphänotypisch“ orientierte Förderung und Lebenshilfe.
Diese Liste ist längst nicht vollständig und ließe sich mit weiteren Ansätzen ergänzen. Deutlich wird jedoch dabei, dass im heilpädagogischen Kontext Therapie immer auch Entwicklungsförderung in einem übertragenen und umfassenden Sinne meint.
Die besondere Herausforderung, die sich methodisch auch in der Heilpädagogik stellt, ist ja gerade die Komplexität bestimmter Problemlagen und das vielschichtige oder multimethodale Vorgehen, das nötig ist. Das erfordert aber auch eine interdisziplinäre Verankerung in Abhängigkeit von bestimmten Referenzwissenschaften.
1.4 Referenzdisziplinen
Grundlegende Referenzwissenschaften der Heilpädagogik sind Anthropologie und Ethik, Philosophie, Psychologie, Soziologie, Pädagogik und Medizin.
Klinische Heilpädagogik als Teildisziplin der Heilpädagogik befasst sich mit den heilpädagogischen Aspekten von somatischen und psychischen Störungen im biopsychosozialen Kontext. Daher ist auch sie immer eingebettet in bestimmte Nachbardisziplinen und Referenzwissenschaften.
Medizin: Aufgaben der Klinischen Heilpädagogik in diesem Kontext beziehen sich auf Menschen mit neurologischen/neurophysiologischen Krankheiten und chronischen Erkrankungen unter besonderer Berücksichtigung der Lebenslage der Betroffenen.
Besondere medizinische Referenzdisziplinen: Pädiatrie, Neurologie, Psychiatrie, Verhaltensmedizin, Sozialmedizin
Psychologie: Aufgaben der Klinischen Heilpädagogik in diesem Kontext beziehen sich auf Menschen mit psychischen und psychosomatischen Störungen unter besonderer Berücksichtigung „des subjektiven Erlebensaspekt und der psychologische Zugang zum Menschen in beeinträchtigter Lebenslage“ als Gegenstand „Heilpädagogischer Psychologie“ (Greving. & Ondracek, 2009, 131).
Besondere psychologische Referenzdisziplinen: Klinische Psychologie, Rehabilitationspsychologie, Pädagogische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie, psychologische Diagnostik, Psychotherapiewissenschaften.
Pädagogik: Aufgaben der Klinischen Heilpädagogik in diesem Kontext beziehen sich auf Menschen, die in ihren Lern- und Bildungsprozessen sowie in ihrer dialogischen Lebensgestaltung beeinträchtigt sind.
Besondere pädagogische Referenzdisziplinen: Entwicklungsförderung, Unterstützte Kommunikation, Psychomotorik/Motologie, Sonderpädagogik, Traumapädagogik.
Soziologie: Aufgaben der Klinischen Heilpädagogik in diesem Kontext beziehen sich auf Menschen, die in ihren sozialen Beziehungen innerhalb der menschlichen Gesellschaft beeinträchtigt sind (z.B. Behinderung ist ein soziales Problem – vgl. labeling approach).
Besondere soziologische Referenzdisziplinen: Medizinische Soziologie (soziale Ursachen von Gesundheit und Krankheit), Soziologe der Behinderung (Cloerkes, 2007), Disability Studies – Behinderte Menschen sprechen von biographischen Erfahrungen mit anfänglichen politischen Zielsetzungen (Dederich, 2007).
Klinische Sozialarbeit: Aufgaben der Klinischen Heilpädagogik in diesem Kontext beziehen sich auf Menschen mit „psychosozialen Störungen und den sozialen Aspekten psychischer und somatischer Störungen/Krankheiten und Behinderungen“ (Pauls, 2004, 22) mit besonderer Berücksichtigung der Veränderung der Lebensbedingungen (Gahleitner, 2008).
Hat Moor (1960) die Heilpädagogik programmatisch als eine ausschließliche Pädagogik verstanden, so muss dies für die Klinische Heilpädagogik modifiziert ...