Ulf Christian Ewert und Stephan Selzer
Netzwerkorganisation im Fernhandel des Mittelalters:
Wettbewerbsvorteil oder Wachstumshemmnis?
Fernhandel; Hanse; Netzwerkorganisation; Kontingenzansatz; PfadabhÀngigkeit
Zusammenfassung
Der spĂ€tmittelalterliche Fernhandel hansischer Kaufleute ist ein eindrĂŒckliches Beispiel fĂŒr eine Netzwerkorganisation. Denn diese Kaufleute handelten kaum formalisiert auf Gegenseitigkeit; ihre GeschĂ€fte grĂŒndeten in Vertrauen und Reputation. Auf diese Weise gelang es, Informations-, Transaktions- und Organisationskosten zu senken und profitabel Waren im Nord- und Ostseeraum zu tauschen. Der wachsende Wohlstand der FernhĂ€ndler korrespondiert dabei mit einem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung ihrer HeimatstĂ€dte, wobei die Netzwerkorganisation als Zusammenschluss kleiner, wirtschaftlich selbstĂ€ndiger, aber nicht sonderlich kapitalstarker Unternehmungen eine relativ ausgeglichene Verteilung des Einkommens innerhalb der stĂ€dtischen Oberschichten bewirkte. Im spĂ€teren 15. Jahrhundert zeigten sich die SchwĂ€chen der Netzwerkorganisation. Zu den nachteiligen Wirkungen gehörte, dass Handelsverbote das Netzwerk zunehmend rigider nach auĂen abschlossen, der Kapitalmarkt infolge des Handels auf Gegenseitigkeit unterentwickelt blieb und Transaktionskosten auch fĂŒr Konkurrenten gesenkt wurden. In der Folge waren die Hansekaufleute nicht nur einem starken Konkurrenzdruck im Hanseraum ausgesetzt, sondern sie verloren auch den Anschluss an die internationalen Handelsströme in der transatlantischen Neuorientierung im frĂŒhen 16. Jahrhundert.
Abstract
The commercial exchange between the merchants of the Hanseatic League in the late Middle Ages can be described in terms of network organisation. By forming trade networks and employing a pattern of reciprocal exchange that was based on trust and a multilateral reputation mechanism, Hanseatic merchants were able to reduce information, transaction and organisation costs within their trading system. In this paper, also growth and welfare effects of this organisational pattern are analysed. At the beginning, during the 13thâ14th centuries, the network organisation enabled Hanseatic merchants to reach and to dominate markets in the Baltic and it also allowed for sustained growth rates, a fairly high degree of welfare and smoothly sketched income distributions within Hanseatic towns. Nevertheless, organisational developments that could have allowed for an adaptation to changing market conditions were not introduced. Instead, due to network organisation capital markets in the Baltic remained underdeveloped and trade with non-Hanseatic merchants was severely undermined. As a consequence, in the late 15th and early 16th centuries the organisational scheme of the network, which once promoted growth and welfare, had slowly turned into a hindrance to the Hanseatic merchantsâ competitiveness in the international long-distance trade in the Baltic and beyond.
InhaltsĂŒbersicht
1 Einleitung
2 Netzwerkorganisation im Handel des Mittelalters: Hansische Unternehmen als Beispiel
2.1 Hansische Kaufleute im nordeuropÀischen Handel
2.2 Entwicklungslinien und Probleme des Fernhandels im Mittelalter
2.3 Netzwerke im Fernhandel des Mittelalters
2.4 Die Handelsnetzwerke der Hansekaufleute im spÀten Mittelalter
2.5 Hansischer Handel als Netzwerkorganisation
3 Wohlfahrts- und Wachstumseffekte der hansischen Netzwerkorganisation
3.1 Kontext und Wirkungen der Netzwerkorganisation
3.2 EffektivitÀt und ProfitabilitÀt des Hansehandels
3.3 Volkswirtschaftliches Wachstum und kollektive Wohlfahrt
3.4 Einkommensverteilung in den HansestÀdten
3.5 Umfang des Hansehandels
4 Die Entwicklung der Netzwerkorganisation im Hansehandel
4.1 PfadabhÀngigkeiten und Entwicklungsphasen der hansischen Netzwerkorganisation
4.2 In der Organisationsform der Netzwerkunternehmung angelegte Wachstumsgrenzen
4.3 Aufgrund des Erfolgs der Netzwerkorganisation versÀumte Anpassungsleistungen
4.4 Probleme der Abstimmung zwischen Struktur und Koordination
4.5 Wirkungen infolge der VerÀnderung der Rahmenbedingungen des Hansehandels
5 Fazit
1 Einleitung
Welche ökonomischen Erfolge konnten FernhÀndler des Mittelalters mit einer Netzwerkorganisation erzielen? Unter welchen Rahmenbedingungen verschaffte diese Organisationsform dauerhafte Wettbewerbsvorteile, und konnte sie umgekehrt auch zu einem Wachstumshemmnis werden? Diesen Fragen soll im Folgenden am Beispiel der Fernhandelsnetzwerke hansischer Kaufleute nachgegangen werden (Selzer/Ewert 2001; Ewert/Selzer 2008).
FĂŒr das hansische Beispiel eine nachgeordnete Rolle spielt dabei das terminologische Problem, ob vernetztes ökonomisches Handeln im Mittelalter eher im soziologischen Sinne als ein auf Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen basierendes Personennetzwerk (Trezzini 1998) oder besser als Netzwerkunternehmung im betriebswirtschaftlichen Sinne zu klassifizieren ist. Denn das Fernhandelsnetzwerk eines Hansekaufmanns entsprach beidem. Es ermöglichte ĂŒber persönlichen Kontakt den Austausch von Informationen und Ressourcen jenseits bestehender Hierarchien und formal definierter Vertragsbeziehungen. Zugleich war es auch eine fallweise, freiwillige und hierarchielose Kooperation wirtschaftlich und juristisch selbstĂ€ndiger Unternehmungen.
Im zweiten Abschnitt werden, teilweise anschlieĂend an frĂŒhere Publikationen der Autoren, zunĂ€chst Struktur und Funktionsweise dieses hansischen Fernhandelssystems erlĂ€utert. Neu wird in einem dritten Abschnitt dargestellt, welche Erfolgswirkungen die Netzwerkorganisation fĂŒr das einzelne hansische Unternehmen, aber auch fĂŒr die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und das Wachstum im Hanseraum hatte. Dies ist mit Blick auf die organisationstheoretische Literatur insofern von Bedeutung, als die dort behaupteten positiven Wirkungen der Netzwerkstruktur sich hier an einem mittelalterlichen Fall ĂŒberprĂŒfen lassen. SchlieĂlich wird im vierten Abschnitt, die bisherige Perspektive ebenfalls erweiternd und ergĂ€nzend, die Entwicklung der hansischen Netzwerkorganisation in Phasen betrachtet. So ist genauer zu erkennen, wie die Wahl des Modells der Netzwerkorganisation einerseits den anfĂ€nglichen Erfolg der Hanse im nordeuropĂ€ischen Fernhandel begrĂŒndete, aber andererseits das Festhalten der Hansekaufleute an diesem Modell im 15./16. Jahrhundert zum Verlust ihrer Marktdominanz im Ostseeraum beitrug.
NatĂŒrlich ist die Betriebswirtschaftslehre besonders daran interessiert, Faktoren der EffektivitĂ€t und Effizienz spezifischer Organisationsformen zu isolieren. Daher stellt sich dieses mittelalterliche Beispiel â mehr also noch als durch seine Struktur selbst â dadurch fĂŒr die Netzwerkforschung als besonders attraktiv dar, dass es durch seine jahrhundertelange Existenz ermöglicht, die ökonomischen Wirkungen ĂŒber einen sehr langen Zeitraum und im Vergleich zu anderen Organisationsformen zu untersuchen. Deshalb verstehen sich die folgenden AusfĂŒhrungen nicht ausschlieĂlich als eine theoriegeleitete historische ErklĂ€rung der Funktionsweise des hansischen Handels im spĂ€ten Mittelalter, sondern möchten auĂerdem auch die empirische Forschung zu Netzwerkorganisationen unterstĂŒtzen.
2 Netzwerkorganisation im Handel des Mittelalters: Hansische Unternehmen als Beispiel
2.1 Hansische Kaufleute im nordeuropÀischen Handel
In die Phase des von Robert S. Lopez als »Kommerzielle Revolution des Mittelalters« bezeichneten Wiederauflebens und Ausbaus ĂŒberregionaler Handelsbeziehungen im hohen Mittelalter (Lopez 1971) fĂ€llt der Aufstieg der hansischen Unternehmen als beherrschende Handelsmacht im Nord- und Ostseeraum. Gerade in dieser Region sind die ProduktivitĂ€tsfortschritte in der Landwirtschaft in einer allgemeinen klimatischen WĂ€rmephase (Le Roy Ladurie 2004, S. 17 ff.), das dadurch initiierte Bevölkerungswachstum, die starke Ausweitung der Wirtschafts- und SiedlungsflĂ€chen und eine StĂ€dtegrĂŒndungswelle unĂŒbersehbar (Hammel-Kiesow 2000).
Der Begriff der Hanse bezeichnet in seiner Grundbedeutung »Scharr« eine Genossenschaft Fernhandel treibender Kaufleute (Hammel-Kiesow 2000, S. 18). Seit dem 12. Jahrhundert hatten niederdeutsche Kaufleute umfangreiche Handelsprivilegien in London, BrĂŒgge, Bergen und Novgorod erhalten und waren damit in der Lage, ihre Konkurrenten im Transferhandel zwischen den HandelsplĂ€tzen und bei der Versorgung des Hanseraums zu verdrĂ€ngen. Wolltuche gingen dabei aus den Textilzentren Nordwesteuropas in den Osten, Getreide, Holz, Wachs und Felle wurden aus dem Osten nach Westen gesandt, wĂ€hrend Heringe und Stockfisch aus dem Norden geliefert wurden (Hammel-Kiesow 2000, S. 27 ff.).
2.2 Entwicklungslinien und Probleme des Fernhandels im Mittelalter
Im Zuge des Aufschwungs der Fernhandelsbeziehungen wĂ€hrend des Hochmittelalters kam es zu zwei Strukturverschiebungen, die den Fernhandel in Europa dauerhaft verĂ€nderten. Einerseits verwandelten sich seit dem 13. Jahrhundert viele der zunĂ€chst nur temporĂ€r abgehaltenen Messen und JahrmĂ€rkte, auf denen lokale Schutzherren die Sicherheit der Kaufleute und ihrer GeschĂ€fte garantierten (Milgrom et al. 1990; Munro 2001), in permanente MĂ€rkte. Dort, wo dies nicht geschah, ĂŒbernahmen HandelsstĂ€dte die vormals von den ĂŒberregionalen Messen ausgeĂŒbte Funktion einer Drehscheibe des Fernhandels. Andererseits begleiteten spĂ€testens seit eben dieser Zeit viele Kaufleute ihre Waren nicht mehr zu den AbsatzmĂ€rkten. Die alte Form des Karawanenhandels wurde zunehmend durch ein Muster des Fernhandels abgelöst, bei dem die HĂ€ndler von ihren HeimatstĂ€dten aus, in denen sich ihre Kontore befanden, Waren dirigierten, die sie mit Hilfe von Spediteuren versandten oder empfingen und durch Handelsagenten auf entfernten MĂ€rkten ankaufen oder verkaufen lieĂen.
Dieser Strukturwandel stellte Douglass C. North zufolge die FernhĂ€ndler des Mittelalters vor gravierende Probleme, fĂŒr die sie wirksame und kostengĂŒnstige Lösungen finden mussten (North 1991, S. 99 f.). Immer war es wichtig gewesen, an entfernten MĂ€rkten Handelsprivilegien durch den lokalen HerrschaftstrĂ€ger zu erlangen und diese ihm gegenĂŒber auch dauerhaft durchsetzen zu können. Waren die Kaufleute nun aber in der Regel nicht mehr persönlich vor Ort anwesend, sondern wurden durch Beauftragte vertreten, stellte sich dieses Problem noch dringlicher. AuĂerdem bedeutete die Vertretung bei Ankauf und VerĂ€uĂerung von Waren auf fremden MĂ€rkten, dass Informationen zwischen Kaufmann und Beauftragten ausgetauscht sowie die GeschĂ€ftsleistungen des Beauftragten durch den Kaufmann beurteilt werden mussten. Ebenso warf der Transport der Waren durch Dritte die Frage nach Haftung bei BeschĂ€digung oder gar Verlust auf. Alle Fernhandelssysteme des Mittelalters mussten daher Lösungen fĂŒr diese grundsĂ€tzlichen Probleme des Fernhandels bereitstellen.
2.3 Netzwerke im Fernhandel des Mittelalters
Eine ebenso effektive wie effiziente Lösung war die Nutzung vorhandener oder neu zu knĂŒpfender sozialer Netzwerke zum Zwecke des Handels. Grundlegende Eigenschaften eines Handelsnetzwerkes der Vormoderne waren einerseits die AnknĂŒpfung persönlicher GeschĂ€ftsbeziehungen, ĂŒber die wiederum Kontakte zu Dritten hergestellt werden konnten, sowie andererseits die Bevorzugung der Handelsverbindungen mit Verwandten, Personen eines Kulturkreises oder Angehörigen derselben religiösen MinoritĂ€t. HierfĂŒr existieren aus dem Mittelalter eine Vielzahl von Beispielen, seien es die im KreditgeschĂ€ft aktiven Lombarden und Kawerschen oder die jĂŒdischen HĂ€ndler (Dirlmeier et al. 2003, S. 50 f. m.w.L.). Auch fĂŒr die FrĂŒhe Neuzeit sind die Beispiele zahlreich (Schulte-BeerbĂŒhl/Vögele 2004; McCabe et al. 2005). Blickt man zudem auf heute ĂŒbliche asiatische Muster fĂŒr GeschĂ€ftsverbindungen (Li 1998, S. 841), so festigt sich der am empirischen Material der Vormoderne gewonnene Eindruck, dass Vernetzung fast schon als eine Art »anthropologische Konstante« wirtschaftlichen Handelns zu begreifen ist.
Daraus allerdings zu schlieĂen, Vernetzung sei die einzige Möglichkeit gewesen, im Mittelalter Fernhandel zu betreiben, wĂ€re nicht zutreffend. In Form der italienischen Kompanien (Hunt 1994) und auch der oberdeutschen HandelshĂ€user traten im spĂ€ten Mittelalter verstĂ€rkt alternative Organisationsmuster auf. Der auf Dauer angelegte Zusammenschluss in Gesellschaften, die PrĂ€senz auf den MĂ€rkten mittels angestellter und weisungsgebundener Faktoren sowie das Streben nach vertikaler Integration waren Elemente, die bereits weit ĂŒber die Struktur der Vernetzung hinauswiesen (Stromer 1968; Lutz 1976; Riebartsch 1987; Hildebrandt 1996, 1997). Das Leitungspersonal solcher Firmen konnte dann zwar ebenfalls untereinander verwandt, bekannt oder in Trinkstuben oder Bruderschaften vergemeinschaftet sein (HĂ€berlein 1998). Doch handelte es sich dabei um die soziale und politische UnterfĂŒtterung oder Einbettung des GeschĂ€fts (Granovetter 1985), nicht um das Bauprinzip der Handelsfirma selbst.
Ein mittelalterliches Handelsnetzwerk, das in der institutionenökonomischen Literatur bereits ausfĂŒhrlich diskutiert worden ist, bildete dasjenige der jĂŒdischen HĂ€ndler im Mittelmeerraum des 10. bis 11. Jahrhunderts (Greif 1993). Diese sog. Maghribi Traders, die im 10. Jahrhundert aus dem Gebiet des Zweistromlandes nach Nordafrika eingewandert waren, handelten im westlichen Mittelmeer und entlang des sĂŒdlichen Mittelmeerraumes. Ihre Handelskontakte beschrĂ€nkten sich zumeist auf Angehörige des jĂŒdischen Glaubens, die sich gegenseitig als Handelsagenten an den HandelsplĂ€tzen im Mittelmeer einsetzten. Die kulturelle Geschlossenheit dieses Handelsnetzwerkes war offensichtlich der entscheidende Grund dafĂŒr, dass es den Kaufleuten der aufstrebenden italienischen SeestĂ€dte im 12. Jahrhundert gelang, diese jĂŒdischen HĂ€ndler schrittweise aus dem Handel im Mittelmeer hinauszudrĂ€ngen. Infolge dieser Konkurrenz wichen die Maghribi Traders in den arabischen Raum aus. Avner Greif etwa kann an diesem Beispiel demonstrieren, wie bedeutsam Vertrauen, gemeinsame Werte und Reputation fĂŒr das Funktionieren eines solchen Netzwerkes waren. Insbesondere der von ihm beschriebene und in einem spieltheoretischen Ansatz modellierte multilaterale Reputationsmechanismus kann als Paradebeispiel fĂŒr eine sich selbst unterstĂŒtzende institutionelle Regelung angesehen werden. Denn Fairness und Ehrlichkeit wurden durch den drohenden Reputationsverlust erzwungen, weil dieser bereits im Betrugsfalle gegenĂŒber einem einzigen NetzwerkhĂ€ndler mit dem Abbruch der GeschĂ€ftsverbindungen zu allen Teilnehmern einhergehen konnte.
2.4 Die Handelsnetzwerke der Hansekaufleute im spÀten Mittelalter
Hingegen sind die hansischen Kaufleute und ihre Unternehmen bislang von der institutionenökonomischen Literatur in Bezug auf ihre Vernetzung nicht untersucht worden. In der wirtschaftstheoretischen Literatur gelten sie m...