1 Einleitung: Philosophische Aspekte der Heil- und Sonderpädagogik
»Aufmerksammachen ist die Formel für das, was wesentlich philosophisch – aber auch in anderen deskriptiven Disziplinen – geleistet werden kann.
Es wird nichts gelehrt, nichts zu lernen aufgegeben, nichts eingeführt und niemand angeführt, nichts versprochen und erst recht nichts verheißen, weder Hoffnung erweckt noch Furcht eingejagt. Statt dessen dies: Es wird aufmerksam gemacht auf das, wovon die Vermutung besteht, es sei bis dahin nicht oder nicht deutlich genug gesehen worden«
(Blumenberg 2007, 183).
Einführende Überlegungen
Ein Buch über philosophische Aspekte der Heil- und Sonderpädagogik – muss das sein? Es ist naheliegend, dass praktisch tätige Pädagoginnen und Pädagogen, die sich jeden Tag mit ganz handfesten und unmittelbar zu lösenden Problemen konfrontiert sehen, ein solches Buch für viel zu theoretisch und daher nicht praxisrelevant halten. Richtig daran ist sicherlich, dass es nachfolgend tatsächlich nicht darum geht, eine philosophische Hausapotheke für pädagogische Problemsituationen zusammenzustellen oder aus der Philosophie heraus pädagogisches Handwerkszeug für die Alltagspraxis bereitzustellen. Und doch: Dieses Buch ist dem Versuch gewidmet, zu zeigen, dass die Philosophie nicht nur für die Fundierung der Heil- und Sonderpädagogik als Wissenschaft unverzichtbar ist. Vielmehr soll auch deutlich werden, dass philosophisches Denken in diesem Feld durchaus auch von Bedeutung für eine fundierte und reflektierte Klärung von Fragen ist, die die Praxis selbst aufwirft.
Ohne Zweifel kann man insbesondere die akademische Philosophie als hochspezialisierten, hermetisch abgeriegelten und um sich selbst kreisenden Expertendiskurs ansehen, der sich unendlich weit von der Lebenspraxis und der konkreten Selbst- und Welterfahrung der Menschen entfernt hat. Auch wenn man diese Kritik in ihrer Undifferenziertheit nicht teilt, ist klar, dass Philosophie zu betreiben stets bedeutet, einen Akt der Dezentrierung oder Distanzierung zu vollziehen und eine Beobachterposition einzunehmen (vgl. Sloterdijk 2010). Und doch gilt für die Philosophie auch, was Viktor von Weizsäcker bereits 1946 über die Lebenswissenschaften geschrieben hatte: »Um Lebendes zu erforschen, muss man sich am Leben beteiligen. […] Leben finden wir als Lebende vor; es entsteht nicht, sondern es ist schon da, es fängt nicht an, denn es hat schon längst angefangen. […] die Wissenschaft hat mit dem Erwachen des Fragens mitten im Leben angefangen« (Weizsäcker 1986, V).
Die vielleicht fundamentalste philosophische Frage, die mitten im Leben und mit Blick auf das Leben aufgeworfen wird, ist die Warum-Frage. Warum-Fragen haben, wie Spaemann betont, etwas Kindliches, aber sie sind auch dringlich. »Philosophieren heißt: Legitimationsfragen, Warumfragen stellen, sei es an das Universum, sei es an menschliches Handeln, sei es an soziale Systeme« (Spaemann 2008, 16). Philosophie ist nicht darauf angelegt, Wissen zu erzeugen, das unsere Fähigkeiten erhöht oder verfeinert, in die Wirklichkeit einzugreifen und sie nach unseren Zwecken zu gestalten oder zu nutzen. Ein solches Wissen ist in erster Linie zweckrational auf das ›Wie‹ ausgerichtet – wie ein Problem zu lösen ist oder wie Ziele erreicht werden können. Die Philosophie hingegen ist das Beharren auf der Frage, warum – also: mit welchen Gründen – wir bestimmte Ziele verfolgen und bestimmte Zwecke bevorzugen. Die Philosophie ist aber auch, wie Blumenberg (2007) sagt, ein Versuch, die Aufmerksamkeit zu schärfen und in einem ›geistigen‹ Sinn klarer zu sehen. Das Stellen von Fragen und die Schärfung von Aufmerksamkeit sind jedoch nicht reiner Selbstzweck. Vielmehr können sie hilfreich sein, in häufig unübersichtlichem Gelände und angesichts von Fragen, von denen viele nicht abschließend zu beantworten sind, die Orientierung zu erleichtern.
Beginnt man, nach philosophischen Aspekten der Heil- und Sonderpädagogik zu suchen, tut sich ein außerordentlich weites, komplexes und vielschichtiges Feld auf. Dieses Buch ist ein Versuch, dieses Feld zumindest in groben Zügen zu umreißen und die dabei auftauchenden zentralen Fragen und Probleme herauszuarbeiten. Dabei wird eine doppelte Perspektive eingenommen: Einerseits wird der Frage nachgegangen, in welcher Hinsicht und in Bezug auf welche Problemstellungen die Philosophie mit Blick auf die Heil- und Sonderpädagogik und das Thema ›Behinderung‹ von Bedeutung ist. In dieser Hinsicht geht es um die Frage, in welchen Zusammenhängen, auf welche Weise und mit welchen Intentionen die Heil- und Sonderpädagogik auf philosophisches Gedankengut zurückgreift. Andererseits soll aber auch diskutiert werden, inwiefern Menschen mit Behinderungen eine Herausforderung für die Philosophie in dem Sinn darstellen, dass sie sie dazu zwingen, bestimmte altehrwürdige Fragen neu zu stellen und tradierte (Vor-)Urteile zu überdenken. In diesem Zusammenhang stellt sich dann die Frage, welchen Beitrag die Heil- und Sonderpädagogik zu diesem veränderten oder neuen Denken leisten kann.
In der Erziehungswissenschaft gibt es eine lange Tradition, pädagogische Grundfragen unter Rückgriff auf philosophisches Gedankengut zu diskutieren. Am deutlichsten wird dies in der Erziehungsphilosophie, der pädagogischen Anthropologie und der pädagogischen Ethik. Die enge Verbindung zur Philosophie kommt darin zum Ausdruck, dass sich Philosophen wie Kant, Fichte, Herbart oder Bollnow ausführlich mit pädagogischen Fragen befasst haben bzw. zugleich Pädagogen waren. In der Heil- und Sonderpädagogik, die ohnehin erst Mitte des 19. Jh. entstanden ist, ist diese Tradition viel weniger ausgeprägt.
Die zweite Blickrichtung, also die Frage nach den Gesichtspunkten, die die Heil- und Sonderpädagogik mit ihrem zentralen Thema ›Behinderung‹ in die Philosophie einbringen kann, steht noch ganz am Anfang. Die heute bereits vorliegenden Anregungen, das philosophische Denken über Behinderung einer kritischen Revision zu unterziehen und neue Wege einzuschlagen, stammen daher auch nicht aus der Heil- und Sonderpädagogik, sondern sind von den Behindertenbewegungen in verschiedenen Ländern und den Disability Studies ausgegangen (vgl. Wasserman 2001, Carlson 2010).
Ein bemerkenswerter Versuch, diese zweite Perspektive einzunehmen, war die Tagung »Cognitive Disability – A Challenge to Moral Philosophy«, die vom 18. bis 20. September 2008 in New York stattgefunden hat (vgl. Kittay & Carlson 2010). Die amerikanische Philosophie-Professorin Eva Feder Kittay, zugleich Mutter einer erwachsenen Tochter mit einer schweren geistigen Behinderung, wies bei ihrer Eröffnung der Tagung auf einen paradoxen Befund hin: Durch intellektuelle Beeinträchtigungen (»cognitive disabilities«) aufgeworfene Fragen sind in den Wissenschaften und in der Philosophie seit den Anfängen immer wieder berührt worden, jedoch bis in die Gegenwart nicht ernsthaft reflektiert worden. Insofern handelt es sich um ein ausgeblendetes Thema. Menschen mit Behinderungen wurden entweder durch die Philosophie ignoriert, mit Vorurteilen betrachtet oder theoriestrategisch als ›Negativfolie‹ benutzt, um spezifische Charakteristika beispielsweise ›des Menschen‹, ›der Vernunft‹ oder ›der Person‹ herauszuarbeiten. Rein quantitativ hat sich dies erst im Kontext mit den Kontroversen über Probleme der sog. Bioethik geändert, in denen beispielsweise die Frage nach dem moralischen Status von Menschen mit einer geistigen Behinderung und ihrem Lebensrecht diskutiert wird. Die Beiträge der erwähnten Tagung griffen den Impuls einer kritischen Auseinandersetzung des bisherigen wissenschaftlichen und philosophischen Denkens über geistige Behinderung auf und stellten sich der Frage, was es für die Philosophie bedeutet, sich ernsthaft der Thematik anzunehmen. Wie beschreiben und deuten Philosophen Behinderungen? Wie wirken sich philosophische Überlegungen auf den gesellschaftlichen Diskurs über Behinderung und den gesellschaftlichen Umgang mit behinderten Menschen aus? Reproduziert und verfestigt der philosophische Diskurs bestimmte Stereotypien der Wahrnehmung von Behinderung? Gibt es Formen des Denkens über Behinderung, die die Philosophie legitimiert, und solche, die sie verwirft? Wie trägt sie dazu bei, Unterschiede zwischen Selbem und Anderem bzw. Vertrautem und Fremdem zu markieren und behinderte Menschen als negativ abweichende, vielleicht sogar aus dem Bereich eines menschlichen ›Wir‹ herausfallende Andere und Fremde zu kennzeichnen? Welches Bild entwirft sie in Bezug auf die Möglichkeiten zu einem guten und gelingenden Leben von Menschen mit Behinderungen? Was sagt sie über Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen und über die Bedeutung von deren Existenz für die Gesellschaft als ganzer? Allgemein gesagt: Wie trägt sie dazu bei, Wissen über Behinderung zu produzieren und zu verändern? Trägt sie zu einem Umdenken bei, oder ist sie an Ausgrenzung und Unterdrückung beteiligt?
Kittay und Carlson (2010) verweisen auf einschlägige Textpassagen in Platons »Staat«, John Lockes »Zwei Abhandlungen über die Regierung« und Immanuel Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, die deutlich machen, dass ›geistige Behinderung‹ immer wieder in klassischen Schriften auftaucht, dabei jedoch meistens auf hochproblematische Weise thematisiert wird. Es gibt aber auch zahlreiche andere Beispiele, von denen hier nur drei genannt werden sollen. Ein historisch langlebiges Denkmuster findet sich in der pseudoaristotelischen Schrift »Physiognomica«, einer Schrift zur Physiognomie. Darin wird die Auffassung vertreten, es gebe Korrespondenzen zwischen physischer Erscheinung und leiblichem Ausdruck einerseits und Charakter, Persönlichkeitstyp, Intelligenz usw. andererseits. Weil sich dieses in jenem widerspiegle, könne, so die Annahme, vom Äußeren auf das Innere geschlossen werden. So werde beispielsweise die Dummheit eines Menschen in Gestalt großer Kinnbacken, einer fleischigen Stirn und stumpfer Augen physisch sichtbar (vgl. Degkwitz 1988, 52). Ein anderes Beispiel ist der römische Philosoph Seneca, ein bekannter Anhänger der Idee, behinderte Neugeborene zu töten. »Tollwütige Hunde schlagen wir nieder, einen widerspenstigen und unbezwingbaren Stier töten wir, und krankes Vieh, daß es nicht die Herde anstecke, schlachten wir; Mißgeburten löschen wir aus, Kinder auch, wenn sie schwächlich und mißgestaltet geboren worden sind, ertränken wir; und nicht Zorn, sondern Vernunft ist es, vom Gesunden Untaugliches zu sondern« (Seneca, zit. nach Mürner 1996, 45). Das dritte Beispiel ist eine Passage aus einer Schrift von Montaigne, der darin erklärt, weshalb geistige Behinderung in der Geschichte der Philosophie und der Humanwissenschaften bis heute nur auf geringes Interesse gestoßen ist: »Lahme taugen nicht zu den Übungen des Körpers, und zu den Übungen des Geistes keine lahmen Seelen: die niederen und gemeinen sind der Philosophie unwürdig« (zit. nach Mürner 2003, 39).
Das überwiegend negative, Menschen mit Behinderungen eine marginale Position zuweisende bzw. sie aus der moralischen Gemeinschaft ausschließende Denken setzt sich insbesondere in der angewandten Ethik bis in die Gegenwart fort (vgl. Dederich & Schnell 2011). So schreibt etwa Schramme:
»Die Philosophie hat es mit dem Menschen zu tun. Leider vergessen Philosophen häufig, dass nicht alle Menschen gleich sind. In ihrer Suche nach ewigen Wahrheiten vermeiden sie bisweilen das Ungewöhnliche, Besondere und von der Norm Abweichende. […] Insofern finden sich Menschen mit Behinderungen in philosophischen Überlegungen selten; zu ungewöhnlich scheint ihre Existenz dem generalisierenden Blick« (Schramme 2011, 25).
Jedoch sind, wie bereits angedeutet wurde, auch Ansätze des Umdenkens festzustellen. Diese lassen sich ebenfalls im Kontext der Behandlung ethischer Problemstellungen beobachten. Neben dem erwähnten Band von Kittay und Carlson (2010) sind beispielsweise ein Sammelband von Kristiansen, Vehmas und Shakespeare (2009), Martha Nussbaums »Frontiers of Justice« (2007), das Buch »Assistierte Freiheit« (2011a) von Sigrid Graumann, verschiedene Beiträge von Eva Kittay (2005a, 2005b) sowie zahlreiche Publikationen aus dem Umfeld des Instituts »Mensch, Ethik und Wissenschaft« (z. B. Graumann u. a. 2004) zu nennen. Ebenfalls erwähnenswert ist Peter Sloterdijks Schrift »Du musst dein Leben ändern« (2009), die sich in einigen Passagen als Versuch versteht, die Bedeutung des Themas Behinderung für die Philosophie neu auszuloten. Allerdings drängt sich bei der Lektüre der Eindruck auf, dass die Figur des ›Krüppels‹ in diesem Buch vor allem eine theoriestrategische Funktion hat, d. h. eine bestimmte anthropologische These untermauern und bildgewaltig illustrieren soll.
Wasserman zufolge wird das Thema Behinderung vor allem deshalb zu einem Thema für die Philosophie, weil es in Hinblick auf einige wichtige Probleme grundlegende Fragen aufwirft. Diese betreffen die Bedeutung von körperlichen und mentalen Unterschieden zwischen Menschen hinsichtlich ihrer Handlungsfähigkeit, ihres Wohlergehens und ihrer individuellen und sozialen Identität. Des Weiteren zwingt das Thema zu einer vertieften Klärung von Gerechtigkeitsfragen sowie zu einem Umdenken hinsichtlich der Gestaltung der physischen und sozialen Umwelt (vgl. Wasserman 2001, 219). In Hinblick auf geistige Behinderung ist die Philosophin Carlson der Überzeugung, »that the philosophical questions that emerge in connection with intellectual disability are matters that not only are worthy of scholarly interest but speak to the deepest problems of exclusion, oppression, and dehumanization« (Carlson 2010, 3).
Es gibt also, so kann man resümieren, einerseits durchaus problematische Traditionen in der Philosophie, über Behinderung nachzudenken, die nicht ohne Auswirkungen auf die Diskurse in der Heil- und Sonderpädagogik geblieben sind. Andererseits zeichnet sich derzeit vor allem im englischsprachigen Raum die Entwicklung ab, in der akademischen Philosophie auf eine veränderte Weise über das Thema Behinderung nachzudenken, die auch für die Heil- und Sonderpädagogik wichtig ist.
Bevor ich ausführlicher auf die Bedeutung der Philosophie für die Heil- und Sonderpädagogik eingehe, soll jedoch eine kurze Erläuterung zum Begriff der Philosophie folgen.
Was ist Philosophie?
Da sich die Philosophie aus ihrer Perspektive letztlich mit allem und jedem befassen kann, das Ganze der Philosophie in zahlreiche Teildisziplinen und Spezialdiskurse aufgefächert ist, es eine Pluralität und kaum entwirrbare Vielstimmigkeit von Orientierungen, Zugängen und Methoden gibt und sich philosophische Denksysteme im Laufe der Jahrhunderte teilweise stark verändert haben, ist es kaum möglich, zugleich bündig und umfassend zu sagen, was Philosophie ist. Insofern wäre es in der Tat vermessen, in einigen wenigen Absätzen eine kohärente und konsensfähige Definition und Aufgabenbeschreibung der Philosophie zu liefern. Stattdessen möchte ich mich darauf beschränken, einige wenige, m. E. allerdings zentrale Auffassungen davon zu umreißen, worum es in der Philosophie im Kern geht.
Im Wortsinn bedeutet Philosophie ›Liebe zur Weisheit‹. Eine der Wurzeln der Philosophie ist, so wird häufig gesagt, das Staunen (so bei Platon, Theaitetos 155d 2–5, oder bei Aristoteles, Metaphysik I 2, 982b, 10–18; vgl. Hersch 1989), beispielsweise das Staunen darüber, dass etwas ist und nicht etwa nichts ist. Vom Staunen ist es nicht weit zum Auftauchen von Warum-Fragen. Solche Warum-Fragen wiederum können entweder auf Ursachen oder Gründe abzielen oder nach dem Sinn von etwas fragen. Eine andere Wurzel der Philosophie ist das Streben nach Erkenntnis, nach ›wahrem‹ und unbezweifelbarem Wissen, etwa nach dem ›Wesen‹ und dem innersten oder letzten Zusammenhang aller Dinge. Nach Windelband (1980) ist Philosophie in der antiken platonisch-aristotelischen Schule »die methodische Arbeit des Denkens, durch welche das ›Seiende‹ erkannt werden soll« (ebd., 1). Als methodische Suche nach ›wahrem‹ Wissen steht die Philosophie auch für den Anspruch, die Menschen aus dem Dunkel der Höhle ihrer Vorurteile und ihres falschen Wissens herauszuführen. Dieses Motiv verbindet das platonische Höhlengleichnis mit einem Grundmotiv der Aufklärung. Ebenso wie die Idee der Befreiung wirkt die metaphorische Beschreibung der wahren Erkenntnis als Licht, das in die Dunkelheit der Welt getragen wird, im Begriff der Aufklärung (und noch deutlicher im englischen »enlightenment«) weiter: die Herausführung der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Einer heutigen Auffassung zufolge bezeichnet der Begriff der Philosophie »besondere Formen der Reflexion und der Wissensbildung in einem sowohl epistemischen, d. h. auf die Formen des Wissens bezogenen, als auch disziplinären, d. h. auf ein (tatsächliches oder als Idee festgehaltenes) System des Wissens (und der Wissenschaft) bezogenen Sinn« (Mittelstraß 1995, 131). Wiederum anders akzentuiert ist die Auffassung, die Philosophie sei eine Lehre von den ersten Gründen und Ursachen. Demnach betreibt sie »Prinzipienforschung« und versteht sich als »Lehre von den ersten Erklärungsgründen dessen, was ist« (Ferber 1998, 13 f.). Über die Frage aber, was das Prinzip – im Wortsinn: das Erste – sei, herrscht in der Philosophie, auch bezüglich ihrer Systematik, keineswegs Einigkeit: Ist es die Ontologie (wie Heidegger meint) oder die Ethik (wie Levinas, einer von Heideggers schärfsten Kritikern, zu zeigen versucht)?
Angesichts der Schwierigkeiten, mit denen sich die Suche nach unumstößlichen Wahrheiten oder nicht mehr hinterfragbaren Prinzipien konfrontiert sieht, und angesichts der immer wieder festgestellten Unhaltbarkeit von Gedankengebäuden, die Totalitätsansprüche erheben, kann man Philosophie bescheidener, aber auch mit deutlich kritischerem Akzent als »Reflexionsdisziplin« (Janich 1996, 11) verstehen. In diesem Sinne ist Philosophie eine auf Grundsätzliches bezogene »Kultur der Nachdenklichkeit« (Schnädelbach 2012, 7). Philosophieren ist ein »Innehalten und Sichbesinnen« (ebd.) mit dem Ziel, »Orientierung im Bereich der Grundsätze unseres Denkens, Erkennens und Handelns« (ebd.) zu gewinnen.
Die Philosophie ist aber nicht nur eine Suche nach Wahrheit und Erkenntnis (sowie deren Kritik), sondern spätestens seit Aristoteles auch ein Nachdenken über das gute, gelingende Leben und das menschliche Glück. Die Philosophie kann insofern (trotz der ihr häufig unterstellten Lebensferne) auch ›praktische Lebenshilfe‹ sein, als sie, gerade in Zeiten der Erosion oder des Verlustes tradierter, etwa religiöser Gewissheiten, Lehren der »rechten Lebensführung« oder »Lebenskunst« (Windelband 1980, 2) zu entwickeln sucht. Dabei werden die Fragen nach der Wahrheit, der Selbsterkenntnis des Menschen, nach dem Sinn des Seins und nach einem guten Leben oftmals in einen engen Zusammenhang gebracht.
Während, wie bereits erwähnt, die Wurzeln der Philosophie von manchen Philosophen im Staunen verortet werden und somit von Anfang an ein starkes kontemplatives Element im Spiel ist, werten andere das Auftauchen des Bedürfnisses nach Philosophie als Krisensymptom (vgl. Spaemann 2008, 14 f.). Philosophie wird nach dieser Auffassung dann wichtig, wenn bisherige selbstverständliche Grundlagen oder Grundannahmen fraglich werden.
Mit dem sich im 19. Jh. durchsetzenden Verständnis, Wissenschaft müsse empirisch fundiert sein, und der sich gleichzeitig verstärkenden Ablehnung spekulativen und metaphysischen Denkens kam es zu einer Legitimationskrise der Ph...