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Diversity
Transkulturelle Kompetenz in klinischen und sozialen Arbeitsfeldern
This book is available to read until 5th December, 2025
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Diversity
Transkulturelle Kompetenz in klinischen und sozialen Arbeitsfeldern
About this book
Die steigende Vielfalt in der Gesellschaft durch individuelle Unterschiede - Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Religion, soziales Milieu, sexuelle Orientierung und Behinderung - gehört mittlerweile zum Alltag im Gesundheits- und Sozialwesen. Diversity, der kompetente Umgang mit Vielfalt, bietet neue Handlungsperspektiven. Praxisbezogen und wissenschaftlich fundiert wird dieses Konzept auf den klinischen und sozialen Berufsalltag übertragen: Managing Diversity berührt Fragen des Profits und der Ethik gleichermaßen und bietet eine professionelle Reaktion auf die veränderte Realität unserer Einwanderungsgesellschaft.
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Information
III Diversity in klinischen Handlungsfeldern
1 Diversity-Kompetenz bei der ärztlichen Untersuchung: Von Symptomen zur Diagnose
Ljiljana Joksimovic
1.1 Zusammenfassung
Das Ziel dieses Artikels ist es, zu zeigen, wie die üblichen Methoden des ärztlichen Patientengesprächs und der Erhebung der Symptome um die Diversity-Perspektive ergänzt werden können und wie darüber ein besserer Zugang zu verschiedenen Patientengruppen und deren Erkrankungen möglich wird.
Die Leser sollen einen Einblick darin bekommen, für welche speziellen Erkrankungen die Beachtung von Diversity-Dimensionen während der Untersuchungsgespräche von besonderer Bedeutung sind. Inhaltliche Schwerpunkte des Artikels liegen auf der Beschreibung der notwendigen Kommunikations- und Basisfertigkeiten im transkulturellen Kontext.
1.2 Einleitung: Definitionsversuch der ärztlichen Diversity-Kompetenz
Wenn Ärzte an Krankheiten denken, dann denken sie i. d. R. an Organschädigungen, Infektionen, hormonelle Veränderungen etc. Die naturwissenschaftliche Krankheitslehre, die auf das Konzept der Zellularpathologie von Virchow im 19. Jahrhundert beruht, erklärt jedoch nur ca. zwei Drittel der Krankheiten, für ein Drittel der Krankheiten fehlen die wissenschaftlichen Nachweise für das Zutreffen dieses Konzepts (Ehrmann et al., 2006). Wenn Ärzte (wahrscheinlich ausgenommen Psychiater und ärztliche Psychotherapeuten) an ein Arzt-Patient-Gespräch denken, denken sie i. d. R. an ein Gespräch, in dem primär die körperliche Symptomatik des Patienten erhoben wird und eine somatische Diagnose gestellt wird. Das verschafft in vielen Fällen dem Arzt und dem Patienten eine rasche Orientierung, was in der akuten Abklärung körperlicher Beschwerden und in Notfallsituationen von vorrangiger Bedeutung ist. Das erforderliche Basiswissen und die Fertigkeiten hierfür werden im Medizinstudium explizit vermittelt, basierend v. a. auf den Erkenntnissen der modernen Biowissenschaften. Diese Fähigkeiten des Arztes gekoppelt mit der Erfahrung (z. B. Häufigkeit der Begegnung mit bestimmten Erkrankungen) haben einen zentralen Stellenwert für die Beurteilung der ärztlichen Kompetenz in der somatischen Medizin.
Die Abklärung krankheitsrelevanter psychosozialer Probleme erfordert allerdings eine patientenzentrierte Gesprächsführung. Es geht dabei um die Ergänzung der körperorientierten Sichtweise um die biopsychosozialen Aspekte im Sinne einer ganzheitlichen Medizin und auf der Basis der Erkenntnisse der psychosomatischen und psychotherapeutischen Medizin, der medizinischen Psychologie und der medizinischen Soziologie. Diese Sichtweise ist wesentlich für die Diagnostik und Therapie der erwähnten ein Drittel aller Krankheiten und sie setzt die sozialen und kommunikativen Kompetenzen des Arztes voraus. Diese Kompetenzen zählen zu den Grundlagen des ärztlichen Handelns in den Fächern Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Psychiatrie, gewinnen aber zunehmend mehr an Bedeutung in der somatischen Medizin, da gezeigt werden konnte, dass sie die Compliance der Patienten und die Qualität medizinischer, diagnostischer und Behandlungsmaßnahmen erhöhen (Hampton et al., 1975; Maguire et al., 2002).
Diversity-Kompetenz kann als eine Erweiterung der ärztlichen Kompetenz verstanden werden, die dem Untersucher ermöglicht, die Auswirkungen von Diversity-Dimensionen (wie Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderungen und Fähigkeiten, Religion, soziokultureller Hintergrund und Hautfarbe) auf das ärztliche Handeln, ganz unabhängig davon, welche Fachgebiete der Medizin betroffen sind, zu reflektieren und professionell, d. h. patientengerecht anzuwenden. Dabei werden die Erkenntnisse von Kulturwissenschaften und der Ethik in der Medizin, sowie gesellschaftliche und historische Kontexte in der Kommunikation mit dem Patienten bewusst berücksichtigt. Diese kulturwissenschaftlichen Inhalte sind derzeit in noch marginalerer Form als Sozialwissenschaften in der Medizin als Wissenssystem repräsentiert (Siegrist, 1995).
Der Diversity-Ansatz selbst findet in der Medizin bisher kaum eine Beachtung. Dabei könnte dieser Ansatz bei der Verwirklichung der wichtigsten Herausforderung des Arztberufes, nämlich sich im ärztlichen Handeln von ausschließlich professionellen Motiven leiten zu lassen, extrem hilfreich sein. Ein Widerspruch in der medizinischen Ausbildung, der bis heute aufrechterhalten wird, ist die Annahme, dass die erforderliche ärztliche Neutralität selbstverständlich möglich sei und nicht gelehrt werden brauche. Eine versuchte Erklärung, wie es dazu gekommen ist, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Klar scheint aber zu sein, dass dieser Zustand viele Ärzte verständlicherweise dazu verleitet, daran zu glauben, dass ihr ärztliches Handeln und die Medizin selbst selbstverständlich professionell neutral seien (Berger, 2008; Beagan, 2009). Dabei wird übersehen, dass die Medizin ihre eigene Kultur hat, mit eigenen Werten, Normen und eigener Sprache, die das ärztliche Handeln direkt beeinflussen (DelVecchio, 2003).
Auch wenn die Forderung nach der Diversity-Kompetenz des Arztes als ein weiterer idealtypischer und utopischer Anspruch an den „Mensch Arzt“ aufgefasst werden kann, darf nicht übersehen werden, dass die sachgerechte Diagnose und Therapie einer Reihe von Erkrankungen genau ein Untersuchungsgespräch notwendig macht, welches die Erfassung der biologischen, psychologischen, sozialen und Diversity-Aspekte des Krankseins enthält.
1.3 Bei welchen Krankheiten ist die Relevanz von Diversity besonders deutlich?
Ein Beispiel dafür stellen chronische Erkrankungen dar. Sie sind in der Europäischen Region der Weltgesundheitsorganisation (europäische Staaten, Nachfolgestaaten der UdSSR, Türkei, Israel) für 86 % der Todesfälle und 77 % der Krankheitslast verantwortlich (Sonnenmoser, 2009). Zu den bislang untersuchten häufigsten chronischen Erkrankungen zählen u. a. Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen, chronische Schmerzzustände und Diabetes mellitus.
Diese Erkrankungen sind ungleich verteilt: Eine Reihe von internationalen Untersuchungen weisen darauf hin, dass beispielsweise Migranten eine besonders vulnerable Bevölkerungsgruppe im Hinblick auf chronische Erkrankungen darstellen (Carbalo, 2008; Rafnsson & Bhopal, 2009). So zeigte die Datenanalyse des General Health Survey aus 2004 in Amsterdam die höchste Prävalenz für Diabetes für marokkanische (8,0 %) und türkische (5,6 %) Migranten im Vergleich zu Niederländern (3,1 %) auf (Ujcic-Vortmann, 2009). Die Unterschiede zwischen Marokkanern und Einheimischen blieben signifikant auch nach der Adjustierung für multiple Risikofaktoren. Nur ein Teil der Unterschiede kann durch unterschiedliche Lebensstile erklärt werden. Auch waren beide Migrantengruppen bei Beginn der Erkrankung um 10–20 Jahre jünger als die Einheimischen. Die Prävalenz psychischer Störungen bei ausgewählten Migrantengruppen mit Diabetes scheint ebenso erhöht zu sein (Blazera et al., 2002; Fischer et al., 2001).
Inzwischen gelten die psychosozialen Faktoren als selbstständige Risikofaktoren für die Auslösung, Entwicklung und Verschlechterung der chronischen Krankheiten. Die Notwendigkeit einer Berücksichtigung individueller Unterschiedlichkeiten im Gesundheitswesen aufgrund von Alter, Geschlecht, Milieuzugehörigkeit oder Migration bei chronischen Erkrankungen gelten mittlerweile fast als unumstritten (Nolte & McKee, 2008), nun sind die Gesundheitssysteme nicht ausreichend darauf eingestellt, ganz abgesehen davon, dass sie nach wie vor primär auf Akutversorgung ausgerichtet sind (Nolte, Knai & McKee, 2008).
Allein das Akzeptieren einer chronischen Krankheit ist für Patienten eine sehr schwierige psychische Aufgabe, bei der Betroffene und nicht selten auch ihre Angehörigen mit Depression, Aggression, Ängsten, Schuldgefühlen oder Hypochondrie reagieren können (Uexküll, 1990). Die kulturellen Faktoren spielen hierfür eine wichtige Rolle (Heuer & Lausch, 2006). Deshalb bekommt allein ein angemessenes Mitteilen der Diagnose, auch unter Diversity–Aspekten, eine erhebliche Bedeutung zu, wenn es darum geht, die langfristige konstruktive Zusammenarbeit mit dem Patienten und seiner Umgebung zu sichern.
Wie bekannt, erfordert die Behandlung von chronischen Erkrankungen i. d. R. eine Verhaltensänderung. Menschen mit komorbiden psychischen Erkrankungen gelingt es in einem deutlich geringeren Ausmaß, ihr Krankheitsverhalten an die Behandlungsnotwendigkeit anzupassen, als Patienten ohne psychosoziale Symptomatik (Lustman et al., 2000). So setzen beispielsweise depressive Menschen mit Diabetes die therapeutischen Empfehlungen in geringerem Umfang um, nehmen orale Antidiabetika deutlich unregelmäßiger ein und ignorieren häufiger die Ernährungsempfehlungen als Menschen mit Diabetes ohne depressive Symptome (Ciechanowski et al., 2000; Katon, 2009). (Auch unser Herr M. scheint nicht von der Notwendigkeit der medikamentösen Behandlung seiner Erkrankung überzeugt zu sein, und „vergisst“ sie auf die Geschäftsreisreise mitzunehmen.)
Die ausschließliche symptomorientierte Untersuchung und die mangelnde Identifikation der psychosozialen Belastungen führen zur Chronifizierung der Symptomatik und zum Fortbestehen der finanziellen Belastungen und der Defizite im Versorgungssystem. (Exemplarisch dafür seien die wiederholten Krankenhausaufenthalte des Patienten Herrn M. aus Kap. 2.4 genannt.). Vermutlich liegen die Kosten für diese Patienten um ein Vielfaches höher als bei Durchschnittspatienten.
Um hilfreiche Behandlung für diese Patientengruppen anbieten zu können, brauchen Praktiker ein Verständnis darüber, wie sich beispielsweise kulturelle Prägungen auf Gesundheit und gesundheitsrelevantes Verhalten auswirken (Patel et al., 2010).
Chronische körperliche Erkrankungen werden voraussichtlich weltweit weiter zunehmen (Stegmann et al., 2009). Durch die veränderte gesellschaftliche Realität infolge von demographischem Wandel, Mobilität und zunehmender Migration, wird sich Diversität der gesundheits- und krankheitsrelevanten Verhaltensweisen und Einstellungen, mit denen Ärzte in der Begegnung mit ihren Patienten konfrontiert werden, erhöhen. Dies birgt in sich die Gefahr, dass sich in der Arzt-Patient-Beziehung insbesondere unter dem Druck von Belastungen Schwierigkeiten entfalten, die Konsequenzen für das ärztliche Handeln haben können. Aufgrund von diversen Störungen der Arzt-Patient-Beziehung sowie falscher Erwartungen kommt es nicht selten zu Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen. Die Beziehung ist dabei von irrationalen Phänomenen geprägt (wie im Beispiel, der Patient ist schwierig, weil er muslimisch ist), die für die Betroffenen unbemerkt auftreten. Sie können sie jedoch erkennen, wenn sie besonders darauf achten. Die Beschäftigung mit diesen Aspekten ist wesentliche Voraussetzung auch für die Verringerung der sozialen Ungleichheiten in der Gesundheit.
In der Praxis werden diese Aspekte jedoch eher vernachlässigt, im Extremfall verleiten sie zum Verlassen der professionellen Rahmen bis hin zu Abgabe der Verantwortung. Ein Beispiel aus einem fachärztlichen Bericht (Daten verändert und anonymisiert):
Die Behandlung von Patient X.Y. wird niedergelegt. Ich bitte um Verständnis. Beurteilung: Ihr Patient erscheint nicht zur indizierten und mit ihm vor einer Woche vorbesprochenen Herzkatheteruntersuchung (Herzbeschwerden, Risikofaktoren: Insulinpflichtiger Diabetes mellitus, Übergewicht). Nein, er hat es auch nicht nötig, die Untersuchung abzusagen. Ich telefonierte ihm hinterher: Befindet sich doch aktuell in Griechenland und genießt die Sonne.
Auch wenn der Ärger seitens des Arztes über den nicht abgesagten Termin und dem damit verbundenen Praxisaufwand verständlich und nachvollziehbar ist, stellt sich die Frage, ob sie im ärztlichen Bericht, mit latent oder offen entwertenden Formulierungen über Patienten, einen adäquaten professionellen Ausdruck findet. Die empirischen Untersuchungen liefern Hinweise über die signifikanten Zusammenhänge zwischen der Art, über die Patienten zu sprechen und der Qualität des Kontakts zum Patienten (Blank et al., 1986, zit. nach Wöller & Kruse, 2005). Wöller und Kruse (2005) gehen davon aus, dass Unterstellungen (z. B. die Ziele der Therapie zu untergraben) und latent entwertende Äußerungen über Patienten (z. B. der Patient will nur versorgt werden) in der Psychotherapie einen empathisch-verstehenden und ressourcenorientierten Zugang zum Patienten behindern.
Unter den chronischen Erkrankungen sind chronische Schmerzen ohne nachweisbare organische Ursache in den allgemeinmedizinischen/hausärztlichen Praxen der häufigste Anlass für die Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe. Untersuchungen in den USA haben ergeben, dass über 50 % der ambulanten Kontakte, d. h. 400 Millionen pro Jahr, durch chronische Schmerzen bedingt sind. Die Behandlung chronischer S...
Table of contents
- Deckblatt
- Titelseite
- Impressum
- Inhaltsverzeichnis
- Geleitwort
- Vorwort der Herausgeberinnen
- I Einführung: Warum „Diversity“ in sozialen und Heilberufen?
- II Grundlagen von transkultureller Öffnung und Diversity
- III Diversity in klinischen Handlungsfeldern
- IV Diversity in sozialen Handlungsfeldern
- Anhang