1 Einleitung
1.1 Problemstellung
Universitäten sind Teil des Bildungsmarktes, der sich durch einen weltweit stetig schärfer werdenden Wettbewerb auszeichnet1. Getrieben wird dieser Wettbewerb u. a. durch die zunehmende Vergleichbarkeit der Abschlüsse im europäischen Raum im Gefolge der sog. „Bologna-Deklaration“ von 19992 und die wachsende Mobilität der Studierenden und Lehrenden. Weiterhin tragen der schleichende Rückzug des Staates aus der Finanzierung der staatlichen Universitäten und der damit verbundene Wettbwerb um knappere (zunehmend auch private) Ressourcen ebenfalls zum Erstarken der Konkurrenz zwischen Universitäten bei. Insbesondere staatliche Universitäten, die sich meist als Folge ungesteuerter Entwicklung (und in Zeiten stetig wachsender staatlicher Zuwendungen) faktisch sehr breit aufgestellt haben3, sind von diesem Wettbewerb betroffen. „Eine zukunftsfähige Universität benötigt eine Vorstellung über die eigene Identität“4 – nicht zuletzt, um (schmerzhafte) Entscheidungen5 über Prioritäten hinsichtlich der eigenen Profilbildung zu treffen und knapper werdende Ressourcen effizienter nutzen zu können. Gleichzeitig ist nicht klar, worin eine erfolgversprechende Positionierung für die einzelne Universität bestehen kann.
Unternehmen reagieren in Situationen hohen Handlungsdrucks (induziert z. B. durch Änderungen der Rahmenbedingungen6) mit Initiativen, die Orientierung (neu) schaffen sollen und auf Veränderungen abzielen7, z. B. in Form von strategischer Repositionierung. Die zugrundeliegende ontologische Annahme ist, dass die Realität nicht in stabilen Zuständen verharrt, sondern durch individuelle Handlungen und Strukturen der Organisation (die sich zusätzlich wechselseitig beeinflussen) permanenter Veränderung unterliegt8. Durch Strategieentwicklung wird Orientierung (neu) geschaffen9: „to set direction, focus effort, define the organization, provide consistency“10. Ziel ist, durch die Strategie den Erfolg des Unternehmens zu erhöhen (z. B. gemessen in einer Unternehmenswertsteigerung durch bessere Verzinsung des Eigenkapitals).
Strategieprozesse an Universitäten zielen in Zeiten hoher Unsicherheit ebenfalls darauf ab, diese Organisationen erfolgreicher zu machen. Jedoch geht es nicht um eine höhere Eigenkapitalverzinsung, sondern um abstraktere Ziele. Bedeutende Augaben einer staatlichen Universität sind die Pflege und Entwicklung der Wissenschaten und Künste durch Forschung, Lehre und Studium11. Entsprechend kann sich Strategieentwicklung, abhängig von der Universität und dem spezifischen Umfeld, auf „potentially […] anything“12 in diesen drei Bereichen beziehen: Auf inhaltliche oder methodische Schwerpunkte, um eine langfristig bessere Wettbewerbsposition, sei es im Markt für Professoren13, Nachwuchswissenschaftler, Studierende, Mitarbeiter der Verwaltung, Sponsoren oder Mäzene, zu erreichen. Beispielsweise wird dies durch die Setzung regionaler Schwerpunkte oder die Vereinbarung von Kooperationen mit anderen nationalen und internationalen Hochschulen oder Institutionen erreicht.
Staatliche Universitäten sind aufgrund ihres breiten Spektrums, ihres „universalen“ Auftrags, der sich in Fakultäten und Instituten manifestiert, sowie aufgrund der Professoren, die Freiheit von Forschung und Lehre genießen, fundamental dezentral strukturierte Organisationen. Auch für diese Art von Organisationen kann die Entwicklung einer Strategie relevant sein, die übergreifende Themen (über Institute und Fakultäten hinaus auf gesamtuniversitärer Ebene) in den Mittelpunkt stellt14. Durch die bewusste Gestaltung einer Fakultäten-übergreifenden Strategie wird ex ante Einigkeit darüber geschaffen, wie Ressourcen verteilt werden sollen, welche strategischen Schwerpunkte es gibt. Darüber hinaus wird die effiziente und effektive Nutzung des aufgebauten Wissens und der entwickelten Fähigkeiten15 durch Übertragung auf andere interne Bereiche möglich. Ein Beispiel dafür ist die Übertragung erfolgreich erprobter Konzepte auf unterschiedliche Fakultäten oder auf unterschiedliche Märkte (z. B. des in Bachelorstudiengängen entwickelten Wissens über stark nachgefragte Schwerpunkte auf Master- oder Ph.D.-Studiengänge).
Was auch immer der inhaltliche Fokus ist, Strategieentwicklung – in gleich welcher Art von Organisation – ist mit Entscheidungen verbunden16. Als strategische Entscheidungen gelten nicht-repetitive, zumindest zu Beginn unstrukturierte Fragestellungen, durch die langfristig wichtige Weichen für die Organisation gestellt werden17, etwa aufgrund des damit verbundenen Ressourcen- oder strukturellen bzw. prozessualen Anpassungsbedarfs18.
In existierenden Organisationstheorien finden sich Ansätze, wie strategische Entscheidungen in Universitäten getroffen werden. Die Ansätze modellieren Universitäten und ihre Entscheidungsstrukturen als „loosely coupled systems“19, „organized anarchies“20 und „professional bureaucracies“21. Sie haben gemeinsam, dass sie Universitäten als Organisationen beschreiben, in denen analytisches, strategisch orientiertes, abgestimmtes Vorgehen unwahrscheinlich ist. Während es in Unternehmen grundsätzlich möglich sei (wenn auch vielleicht nicht sinnvoll), dass vom Management als oberster Hierarchieebene getroffene strategische Entscheidungen top-down umgesetzt werden, würden an Universitäten andere Spielregeln gelten22. Über diese (vagen) Ansätze hinaus ist das Feld, welche Aktivitätenmuster sich in Strategieprozessen an Universitäten beobachten lassen, wissenschaftlich kaum aufgearbeitet. Schon aus diesem Grund steht es im Zentrum der vorliegenden Arbeit. Es empfiehlt sich aufgrund des niedrigen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes und der geringen Theoriebildung in diesem Gebiet ein „grounded theory“ Ansatz: Dieses Vorgehen wird in der empirischen Sozialforschung für explorative Forschungsvorhaben genutzt. Im Rahmen von Fallstudien werden die Strategieprozesse von zwei Universitäten ausführlich und von unterschiedlichen Seiten beschrieben und beleuchtet. Grundlage der Fallstudien bilden dabei Dokumente sowie Interviews. Durch mehrfaches Kodieren dieser Datenquellen werden Muster in den Aktivitäten erkannt, analysiert und mit jedem weiteren Kodiervorgang präzisiert. Auf Basis dessen wird eine propositionale Theorie entwickelt, die durch weitere Forschung getestet und verfeinert werden kann.
1.2 Fragestellung der Arbeit
Ausgehend davon, dass es Universitäten gibt, die trotz der beschriebenen organisationalen Widrigkeiten systematische, die gesamte Universität betreffende (d. h. fakultätsübergreifende) Strategieprozesse durchgeführt haben (von der Identifikation einer Fragestellung bis zu einer Handlungsverpflichtung23 bzw. Handlung24), werden die Muster25 in und zwischen Strategieprozessen untersucht, die sich in den Aktivitätenfolgen erkennen lassen.
Dabei wird die Betrachtung wegen der drohenden Komplexität26 insbesondere in zweierlei Hinsicht eingegrenzt: auf die prozessuale Seite mit den Dimensionen Rationalität, Dezentralität und Politisierung sowie auf die Stakeholder Professoren und Universitätsleitung. Bezüglich der prozessualen Seite ist festzuhalten, dass zur Entwicklung sinnvoller Ergebnisse der Prozess eine ähnlich wichtige Rolle spielt wie die Qualität (oder Opportunität) der strategischen Inhalte. In dieser Arbeit steht der Prozess der Strategieentwicklung im Mittelpunkt, da die Inhalte im Wesentlichen von der Universität abhängen und somit eine höhere Varianz haben. Im Gegensatz dazu, so eine Prämisse der Arbeit, sind prozessuale Aspekte leichter verallgemeinerbar. Die Entscheidung zur Fokussierung von Professoren und Hochschulleitung ist auf ihre hervorgehobene Rolle unter den Stakeholdern27 einer Universität (Professoren, akademischer Mittelbau, (prospektive) Studierende, Verwaltung, externe Anspruchsgruppen etc.) zurückzuführen. Die Beteiligung der Gruppen der Professoren und der Universitätsleitung28 sind von entscheidender Bedeutung für einen erfolgreichen Strategieprozess an einer Universität. Den Professoren wird vom Staat Freiheit der Forschung und der Lehre29 garantiert, sie sind Hauptträger des Wissens an Universitäten. Dies macht ihren Beitrag unabdingbar für einen erfolgreichen Strategieprozess und damit für eine erfolgreiche strategische Positionierung der Universität. Das Rektorat hat als primus inter pares zwar eine herausgehobene Stellung, die ihre Einbindung in einen Strategieprozess erforderlich macht, aus ihrer Stellung ergeben sich jedoch – zumindest in Bezug auf die Professorengruppe – keine hierarchischen Weisungsbefugnisse.
1.3 Forschungshintergrund und Struktur der Arbeit
Universitäten sind, wie erwähnt, kein besonders üblicher Forschungsgegenstand. Vor diesem Hintergrund soll der Bezug der Autorin zu diesem Thema dargestellt werden. Er lässt sich an zwei Feldern festmachen. Erstens war sie studentische Akteurin in einem Strategieprozess, zweitens hat sie im Rahmen der beruflichen Tätigkeit Hochschulen und ihnen nahestehende Institutionen des Bildungssektors beraten. Aus diesen Gründen besteht ein großes Interesse, die Universität als Organisation und insbesondere die Funktionsmechanismen von Strategieprozessen anhand zweier ausgewählter Beispiele besser zu verstehen.
Die Struktur der Arbeit lässt sich wie folgt zusammenfassen: Zunächst werden in den folgenden Kapiteln die für die vorliegende Arbeit relevante Forschungslücke aufgearbeitet sowie der Untersuchungsgegenstand eingegrenzt. Anschließend wird das methodische Vorgehen dargestellt, d. h. das zugrundeliegende Paradigma sowie das Vorgehen bei Datenerhebung und Datenanalyse. Daran schließt sich der empirische Teil der Arbeit in Form von zwei Fallstudien an, die zunächst separat dargestellt und anschließend verglichen werden. Im letzen Kapitel werden die Ergebnisse der Fallstudien mit dem Ziel der propositionalen Theoriebil...