I Aktuelle Handlungsfelder
Abb. 2: Inhaltsübersicht Teil I.
Heilpädagogische Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung
Marianne Hellmann
Abb. 3: Heilpädagogik bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung.
1 Vorbemerkungen
Ein klassisches Handlungsfeld der Heilpädagogik ist die pädagogisch-therapeutische Arbeit mit behinderten Kindern und Jugendlichen und ihren Familien. Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen und/oder Behinderungen haben häufig nicht bzw. nur erschwert die Möglichkeit, sich ihre Welt ohne Unterstützung aktiv anzueignen und an ihr teilzuhaben. Sie sind besonderen Entwicklungsrisiken ausgesetzt, die eine individualisierte Begleitung und Förderung erfordern. Wesentliche Aufgabe der Heilpädagogik in diesem Kontext ist es, Lern- und Aneignungsprozesse anzubahnen und zu unterstützen, Ausgrenzungs- und Isolationsprozesse zu verhindern sowie die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu fördern. Hierbei gilt es insbesondere, Eltern und Kind zu unterstützen, protektive Faktoren zur Entwicklung von Resilienz aufzubauen, damit sich die kindliche Entwicklung in einem positiven Sinne entfalten kann.
Das Selbstverständnis der Heilpädagogik hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Der individualtheoretische, am medizinischen Modell orientierte Handlungsbegriff (vgl. hierzu Bleidick, 1998; Bleidick/Hagemeister, 1998) ist erweitert und ergänzt worden durch soziologische und ökologisch-systemische Erklärungsansätze. Diese gehen von der Bedeutung des familiären und sozialen Umfelds der betroffenen Kinder und Jugendlichen für deren Entwicklung und Behinderungserfahrungen aus und betrachten die gesellschaftlichen Bewertungen und Erwartungshaltungen als interagierende und beeinflussende Kontextfaktoren. Neben der Orientierung an der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, WHO, 2005) und soziologischen Fragestellungen sind ethisch-anthropologische Reflexionen handlungsleitend, welche auf die bio-psycho-soziale Einheit des Menschen sowie sein Recht auf Würde, Beteiligung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verweisen. Dies ist nicht zuletzt durch die Menschenrechtskonvention und das Antidiskriminierungsrecht, insbesondere das Behindertengleichstellungsgesetz vom 27. April 2002, als verbindliches Recht behinderter Menschen verbürgt (vgl. hierzu Degener et. al., 2008).
Der Mensch ist von Geburt an ein aktives, nach Kommunikation, Interaktion, Autonomie und Entwicklung des eigenen Ich strebendes Individuum, das sich aber nur gemeinsam mit anderen Menschen in einer „passenden“ Lebensumwelt zu sich selbst und zur Umwelt in Beziehung setzen kann. Hierbei erfährt und konstruiert es seine individuelle Wirklichkeit als die ihm einzig mögliche unter den ihm zur Verfügung stehenden inneren und äußeren Systembedingungen (vgl. hierzu u. a. Maturana und Varela, 1987; Feuser, 1995; Kühl, 1999). Folgt man den oben aufgezeigten Grundannahmen, so sind die Beziehungsgestaltung, das Ermöglichen gelingender Kommunikations- und Interaktionserfahrungen sowie die Förderung von Handlungskompetenzen und Autonomie wichtige Bausteine kindlicher Entwicklung, die gerade bei Kindern mit Entwicklungsbeeinträchtigungen zu beachten sind. Weitere allgemeine Prinzipien heilpädagogisch-therapeutischen Handelns sind im Blick auf die Person des Heilpädagogen/der Heilpädagogin die Auseinandersetzung mit dem eigenen Menschen- und Weltbild, die Entwicklung einer heilpädagogischen Haltung sowie Reflexions- und Kommunikationsfähigkeit, die Wahrnehmung gesellschaftspolitischer Verantwortung, wie z.B. die Initiierung integrativer und inklusiver Prozesse, sowie die Bereitschaft zu einer inter- und transdisziplinären Zusammenarbeit (hierzu s. Goll, 1996) im Interesse des Kindes und seiner Familie.
Die Bezeichnung „behinderte Kinder und Jugendliche“ wird in Anlehnung an die ICF benutzt, wobei die Minderung der Aktivität aufgrund struktureller und funktioneller Schädigungen, die Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Teilhabe sowie die interagierenden Kontextfaktoren im Mittelpunkt heilpädagogischer Hilfen stehen (zur ICF vgl. Seidel, 2003; Schuntermann, 2007). Aufgrund der Unterschiedlichkeit der strukturellen und funktionellen Schädigungen sowie der großen Variabilität der Entwicklungsverläufe und Behinderungsprozesse beziehen sich die folgenden Ausführungen generell auf Säuglinge, Kleinkinder, Schulkinder und Jugendliche, die in dem o.g. Sinne von Behinderung bedroht bzw. behindert sind, und ihre Familien, und nicht auf spezifische Behinderungsbilder. Die heute aktuellen und exemplarisch an späterer Stelle thematisierten heilpädagogischen Handlungskonzepte und Methoden folgen dem systemisch-ökologischen Orientierungsansatz von Speck (2003), der den ökologischen Entwicklungsansatz von Bronfenbrenner (1981) und die Theorie „autopoietischer Systeme“ (Maturana und Varela, 1987) integriert. Dieser Ansatz eignet sich als handlungs- und wertgeleitetes Prinzip in allen heilpädagogischen Handlungsfeldern, so auch in Kontexten der Erziehung, Bildung und Unterstützung behinderter Kinder und Jugendlicher. Im Mittelpunkt steht das Subjekt, das sich als autopoietisches System und als bio-psycho-soziale Einheit (Feuser, 1995) nur im Austausch mit den es umgebenden personalen und sozialen Systemen (gesellschaftlichen Verhältnissen) entwickeln kann. Begründung für die hier getroffene Orientierung ist, dass für die kindliche Entwicklung in systemisch-ökologischer Perspektive die Subjekthaftigkeit und Eigenaktivität des Kindes, die es umgebenden personalen und sozialen Systeme sowie die gesellschaftlichen Erwartungs- und Zuschreibungsprozesse wesentliche, sich gegenseitig beeinflussende, Faktoren sind. Handlungskonzepte in der Heilpädagogik können verstanden werden als „Brücke zwischen Erkennen und Handeln“. Sie sind eine „Zwischentheorie“ (Krämer, 1975). Zwischentheorien begründen und legitimieren individuum- und/oder familienzentriertes Handeln. Sie ermöglichen, für das Individuum bzw. die Familie „pass-genaue“ Hilfs- und Förderangebote zu entwickeln und die jeweils angemessene(n) Methode(n) auszuwählen. Der Begriff „Förderangebot“ bedeutet nicht Beliebigkeit, sondern besagt, dass sich das Kind als Akteur seiner Entwicklung mit den Lern- und Erfahrungsinhalten auseinandersetzt, die es sich aufgrund seiner aktuell ausgebildeten Strukturen aneignen kann und die es für sinnvoll und bedeutungsvoll erachtet. Handlungskonzepte sind. Konstrukte kategorialer Bildung, da sie zwischen Subjekt und Objekt in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten dialektisch vermitteln. Sie berücksichtigen gleichermaßen die in soziale Kontexte eingebundenen Erfahrungs- und Lernvoraussetzungen und die Bedürfnisse des sich entwickelnden Individuums, die darauf abgestimmten Lerninhalte, pädagogischen Intentionen, strukturellen Lernhilfen und Medien sowie eine professionelle Handlungskompetenz (vgl. hierzu Klafki, 1991; Gröschke, 1997).
Heilpädagogische Hilfen für Familien mit einem behinderten Kind sind in aller Regel an Institutionen geknüpft, mit denen die Familien abhängig vom Zeitpunkt der Diagnose einer Beeinträchtigung und/oder Behinderung und abhängig vom Lebensalter des Kindes konfrontiert werden. Häufig werden Förderbedarfe eines Kindes aber auch erst dann erkannt, wenn das Kind im Vergleich zu gleichaltrigen Kindern in einem oder mehreren Funktionsbereichen Entwicklungsverzögerungen zeigt. Unabhängig von der institutionellen Einbindung ist die Familie für das Kind die bedeutsamste Sozialisationsinstanz; sie bildet die Alltags- und Lebenswelt, in der sich das Kind entwickelt und die es sich aneignen muss. Bronfenbrenner bezeichnet diesen Lebensbereich als Mikrosystem, als „Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen, die die in Entwicklung begriffene Person in einem gegebenen Lebensbereich mit den ihm eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen erlebt“ (1981, S. 38). Zu der Familie als Mikrosystem kommen weitere Mikrosysteme (z. B. Kindergartengruppe, Schulklasse) hinzu, erweitern den Erfahrungsraum des Kindes und ermöglichen das Erlernen neuer Fertigkeiten, die Orientierung an anderen Personen, das Ausbilden von Interessen und die Entwicklung von Selbstbewusstsein und Ich-Identität. Bedeutsam für die kindliche Entwicklung sind nach Bronfenbrenner (ebd.) auch die Beziehungen zwischen den einzelnen Mikrosystemen, die er als Mesosysteme bezeichnet, die Exosysteme sowie die „ökologischen Übergänge“. Ein ökologischer Übergang kennzeichnet den Wechsel in eine neue Lebensphase, z.B. den institutionellen Übergang Kindergarten – Grundschule. Auch Ereignisse, die die Lebenswelt eines Kindes verändern, wie z.B. die Geburt eines Geschwisterkindes, der Tod eines Familienangehörigen oder der Umzug in eine andere Stadt, sind ökologische Übergänge, die sich auf die Entwicklung des Kindes auswirken können und die es wahrzunehmen und zu begleiten gilt.
2 Der Ansatz des Case Managements als mögliche Strukturierungshilfe heilpädagogischer Handlungskonzepte
An dieser Stelle kann nur ein allgemeiner Überblick über das Konzept des Case Managements (Näheres s. Wüllenweber, 2007) gegeben werden, dessen Inhalte auf die jeweilige individuelle Situation im Austausch mit den beteiligten Personen abzustimmen sind. Das Case Management gewinnt zunehmend in der heilpädagogischen Arbeit an Bedeutung, da es nicht nur „einzelfallorientiert“ ist, sondern auch zum Ziel hat, Unterstützungsangebote interdisziplinär zu koordinieren und neue Netzwerkstrukturen aufzubauen, wenn dies erforderlich ist. Die Schritte des Case Managements sind:
- Assessment – Anlass, Problemanalyse, Datenerhebung, Datensammlung, Durchführen einer Heilpädagogischen Diagnostik einschließlich Umfeldanalyse;
- Planing – theoriegeleitete Hypothesenbildung, Überprüfung von Hypothesen, Zielformulierung, Wahl und Begründung der unterstützenden Maßnahme einschließlich der Methodenwahl;
- Implementation – Durchführung der unterstützenden Maßnahme/Intervention, Beziehungsanbahnung, pädagogisches oder pädagogisch-therapeutisches Setting, Interdisziplinarität, Raum, Ort, Zeit u.a.;
- Evaluation – Ergebnissicherung, Überprüfung, Beendigung bzw. Fortführung der Maßnahme, Transfer in den Alltag.
Für den Case Management-Prozess sind folgende Kompetenzen auf Seiten des Heilpädagogen erforderlich:
- Diagnostische Kompetenz (Beobachtungs- und Beschreibungswissen, u. a. Anamnese, Beobachtung, Durchführung von Testverfahren, Auswertung, hypothesengeleitete Interpretation)
- reflexive Kompetenz (Theoriewissen, Erklärungs- und Begründungswissen),
- personale und soziale Kompetenz (wertbezogene und wertgeleitete Haltung, ethisches Wissen, Kommunikations- und Interaktionswissen),
- methodische Kompetenz (Handlungs- und Interventionswissen) (zum Einsatz von Methoden und zur Methodenanalyse vgl. Hellmann, 2007).
Der Case Management-Prozess betont die Interdisziplinarität. Bezogen auf die Zusammenarbeit mit Familien mit einem behinderten Kind ist von einem multimodalen Behandlungsansatz auszugehen, der neben der Heilpädagogik und Sozialpädagogik die Disziplinen Medizin, Psychologie sowie Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie integriert. Die heilpädagogische Diagnostik als Brücke vom Erkennen zum Handeln zeigt anhand konkreter Fragestellungen Möglichkeiten der individualisierten Lern- und Alltagsbegleitung, der kindlichen Handlungssteuerung sowie der Anleitung und Beratung von Eltern bzw. anderer Bezugspersonen auf. Erkenntnisse der heilpädagogischen Diagnostik und Förderdiagnostik bilden die Grundlage für die Entwicklung heilpädagogischer Handlungskonzepte, die möglichst in konkrete Lern- und Alltagssituationen übertragen werden. Gleichzeitig werden den Eltern informierende, beratende und anleitende Gesprächsangebote gemacht sowie Hinweise auf weiterführende Interventionskonzepte und Hilfen gegeben. Die Heilpädagogische Diagnostik begleitet als Prozessdiagnostik die durchgeführten Fördermaßnahmen und evaluiert sie in Bezug auf die konkrete(n) Fragestellung(en) (zu den Inhalten einer verstehenden, subjektzentrierten heilpädagogischen Diagnostik vgl. Hellmann, 2003).
3 Unterstützungsangebote für Familien mit einem behinderten Kind
Die heilpädagogischen Unterstützungsangebote orientieren sich an den Entwicklungsphasen und -kontexten des Kindes bzw. des Jugendlichen. In diesem Zusammenhang ist besonders auf eine – unmittelbar nach der Geburt eines Kindes mit einer (drohenden) Behinderung – erforderliche heilpädagogische Begleitung und Unterstützung der Eltern und ihres Kindes hinzuweisen. Dies ist als präventive Maßnahme, z.B. in Familienzentren, auf Neonatalstationen oder in zu etablierenden „Frühwarnsystemen“ durchaus sinnvoll und nötig. Diese ganz frühe heilpädagogische Begleitung ist bisher jedoch nur selten verwirklicht.
3.1 Säuglings- und Kleinkindphase – frühkindliche Entwicklung – Leitmotiv „Wahrnehmung und Bewegung“
Die Geburt eines Kindes ist nach Bronfenbrenner ein ökologischer Übergang, der in jedem Fall mit Veränderungen im familiären System verbunden ist. Diese Veränderungen können dann besondere Probleme hervorrufen, wenn die Entwicklung des Kindes risikobehaftet ist, z.B. eine strukturelle bzw. funktionale Schädigung vorliegt, die Fähigkeiten und Verhaltensweisen des Kindes nicht den Erwartungen entsprechen und die Entwicklung eines Behinderungszustands droht (s. Kobi, 2004). Heilpädagogische Unterstützungsangebote erfolgen in dieser Phase institutionell vorrangig im Rahmen der Komplexleistung Frühförderung (SGB IX) oder der Sozialhilfe (SGB XII, SGB VIII). Neben der Entwicklungsunterstützung und Förderung des Kindes ist die Zusammenarbeit mit den El...