Meine Brücke zu dir
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Meine Brücke zu dir

Menschen inner- und außerhalb des autistischen Spektrums im Dialog

Melanie Matzies-Köhler, Gee Vero

  1. 247 pages
  2. German
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Meine Brücke zu dir

Menschen inner- und außerhalb des autistischen Spektrums im Dialog

Melanie Matzies-Köhler, Gee Vero

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Die Künstlerin Gee Vero und die Psychologin Melanie Matzies-Köhler treten in diesem Werk in einen Dialog in Briefform. Darin lernen sie sich und ihre divergierenden Wahrnehmungswelten kennen und am Ende hat sich nicht nur eine tragfähige Brücke des wechselseitigen Verständnisses, sondern auch eine Freundschaft entwickelt. Die nicht autistische Psychologin Mel befragt die autistische Künstlerin Gee über deren Wahrnehmung, Stolpersteine im Alltag, Sicht auf Leben und Sterben, Freundschaft und viele weitere Themen, welche diese mit einer großen Offenheit beantwortet. Mel stellt sich den Fragen Gees auf ebensolche Weise und versucht, ihre nicht autistische Weltsicht, deren Verhaltenskonventionen und Regeln zu erklären.

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Information

Year
2016
ISBN
9783170306011

1. Briefwechsel – Thema: Smalltalk

15.05.2015

Liebe Mel,
wusstest du, dass es zu Smalltalk jetzt auch schon ein Verb gibt? Wir müssen also nicht mehr nur einfach plaudern, sondern können cool smalltalken. Aber ganz egal, wie wir es nennen, Smalltalk ist für mich keineswegs nur eine leichte Unterhaltung, sondern eine ziemlich komplizierte Angelegenheit.
Fängt man einen Briefwechsel eigentlich auch mit einem Smalltalk an? Beschnuppert man sich auch auf schriftlicher Ebene oder ist dies einzig dem mündlichen Austausch vorbehalten?
Ich habe das Wort Smalltalk schon oft nachgeschlagen. Aber alles Recherchieren hat mir bisher nicht viel dabei geholfen, mir den Sinn des »leichten Gesprächs« ausreichend zu erschließen.
Ich verstehe es so, dass Smalltalk ein verbaler Austausch ist, der auf einem gewissen Level gehalten werden muss. Es geht dabei nicht primär um das Besprechen tiefgründiger Inhalte und auch nicht um das Lösen von Problemen. Smalltalk ist weit weg vom jeweiligen Selbst der sich Unterhaltenden. Es scheint mir, dass sich die Gesprächspartner beim Smalltalk auf einem Terrain bewegen, das von allen als sicher empfunden wird. Aber woher weiß ich denn, was für einen anderen Menschen sicher ist? Ist Smalltalk der Austausch von Dingen, die man entweder schon weiß oder die einen nicht weiter interessieren? Zählen Klatsch und Tratsch auch zu Smalltalk? Ist das ein eher bösartiger Smalltalk?
Was mir einfach nicht in den Kopf will ist, dass und warum man wertvolle Zeit einfach so verstreichen lässt. Anstatt sich über wirklich wichtige Dinge auszutauschen, Probleme anzusprechen und vielleicht sogar zu lösen, wird sich hinter Masken versteckt und immer wieder nach ähnlichen Strickmustern palavert. Ich habe das Gefühl, dass die Gesprächsteilnehmer das durchaus auch wissen und damit bewusst in Kauf nehmen. Oder irre ich mich da? Warum dieser langweilige stagnierende Wortabklatsch, wenn man stattdessen auch einen Mini-Thinktank abhalten könnte? Liegt es daran, dass der Smalltalk weniger Energie verbraucht, weil er unterbewusst abläuft? Ein Thinktank würde, wie der Name schon sagt, Denken involvieren, was eine bewusste Handlung ist, bei der jedes Gehirn sofort mehr Energie verbraucht.
So viel zu meiner Theorie. Nun zur Praxis. Über Smalltalk reden ist nicht schwer, einen Smalltalk halten dagegen sehr. So jedenfalls ist das bei mir. Im Smalltalk geht es um nicht so wichtige Dinge, richtig? Warum versagt dann mein bester Smalltalk-Eröffnungssatz »Das Jahr 208 war ein Schaltjahr und fing mit einem Freitag an« immer wieder? Das ist doch für die meisten nicht-autistischen Menschen eher unwichtig, oder nicht? Dieser Satz hat sich aber bislang allenfalls als ein Endsatz bewährt. Jedes Mal, wenn ich den bringe, ist das Gespräch vorbei. Wie hättest du denn darauf reagiert?
Fragen und Antworten müssen trotz der Leichtigkeit des Gespräches ja auch immer noch irgendwie korrespondieren. Sonst würde der Smalltalk wohl endgültig den Sinn verlieren. Was aber genau ist der Sinn von Smalltalk? Sich unterhalten, ohne sich zu nah zu kommen? Zu tanzen, ohne sich auf die Füße zu treten? Sich zu begegnen, ohne die Maske abnehmen zu müssen? Liegt der Sinn eher in der Handlung und nicht im Inhalt des Ausgetauschten? Machen gute Freunde auch Smalltalk oder reden die schon gleich tiefer miteinander? Ab wann ist es dann kein Smalltalk mehr? Kann ich an Smalltalk-Verhalten den Stand der Beziehung meines Gegenübers zu mir erkennen?
Gee

15.05.2015

Liebe Gee,
soeben erreichte mich deine E-Mail mit den Fragen zum Smalltalk. Vielen Dank dafür.
Ja, ich fange wohl auch einen Briefwechsel mit einer Prise Smalltalk an, zumindest meistens. Wir beide brauchen das nicht mehr, aber andere Personen könnten sich vielleicht daran stören und es als unhöflich empfinden, wenn man einen Brief oder eine E-Mail so beginnt, dass man gleich mit der »Tür ins Haus fällt«. Manchmal kommuniziert man ja mit Ämtern, Krankenkassen, Lehrern über E-Mails, da spielt diese Form der Höflichkeit schon eine Rolle.
Aber nun zu deinen konkreten Fragen, die auch für mich immer wieder spannend sind, weil ich mich mit so selbstverständlichen Themen intensiver befassen und es mir selbst erklären muss.
Smalltalk hat – ganz allgemein gesehen – eine soziale Funktion. Man macht ihn mit Menschen, die man kennenlernen möchte, zu denen man in Beziehung bleiben will oder die man lange nicht gesehen hat. Vielleicht ist der Smalltalk so eine Art »Aufwärmphase«. Wie bei Sportlern, die sich für ihre eigentliche Aufgabe, zum Beispiel ihren Wettkampf, zunächst aufwärmen müssen, um dann »loszulegen«. Beim Smalltalk geht es erst einmal nicht darum, seine Maske fallen zu lassen. Menschen sprechen nicht gleich über Krankheiten, Depressionen, Ängste, persönliche Schicksalsschläge oder hochtrabende Themen. Smalltalk ist ja ein »kleines Gespräch«. Klein nicht zwangsläufig im Sinne von »kurz«, sondern eher im Sinne von »seicht«/»belanglos«. Es sind also Themen, die keine große Denkleistung erfordern, vielleicht tatsächlich im »Energiesparmodus« abgehalten werden, aber immer mit etwas unterschiedlichen Zielen:
• Person überhaupt kennenlernen (vielleicht macht sich das Unbewusste hier an die Arbeit, um zu »scannen«, ob jemand zu einem passt oder nicht)
• Person zu einer bestimmten Zeit nicht mit tiefschürfenden Themen ansprechen (zum Beispiel, wenn jemand noch müde ist oder gerade wenig Zeit hat), aber um dennoch den Kontakt zu halten
• Einen höflichen Gesprächseinstieg finden, um sich dann weiterführend unterhalten zu können (zum Beispiel bei einem Vorstellungsgespräch oder beim Arzt oder während eines Versicherungsgesprächs)
• Wenn man Zeit überbrücken muss und eher zufällig aufeinander trifft, zum Beispiel im Warteraum eines Arztes oder im Flur in der Kita oder beim Friseur
Viele Menschen reden einfach gern. Über Gott und die Welt. Über Klatsch und Tratsch. Gerade beim Friseur, im Warteraum oder im Supermarkt. Tratsch und Klatsch hat dabei die Funktion, dass Menschen sich besser fühlen, wenn sie darüber sprechen, wie furchtbar andere sind oder wie schlimm es anderen geht. Klatsch und Tratsch hat also eigentlich sogar eine positive Funktion für viele.
Das gibt es nämlich auch noch: Den Smalltalk, der zwischen Tür und Angel zwischen bereits bekannten Personen stattfindet. Auch hier ist es so eine Art Überbrückungsfunktion, vielleicht sogar wirklich ein Energiesparmodus. Stell dir vor, eine Person kommt morgens ins Büro. Alle Kollegen und Kolleginnen sind auch gerade erst angekommen und vielleicht noch müde oder sie bereiten sich auf ihre Arbeit für den Tag vor. Jetzt kommst du und sagst: »Wusstet ihr eigentlich, dass das Jahr 208 ein Schaltjahr war und mit einem Freitag anfing?«. Wäre ich eine deiner Kolleginnen, würde ich erst erstaunt aufblicken und vielleicht höchstens ein »Aha« hervorbringen. In der Schule würde man sagen: »Thema verfehlt«. Ich wäre vielleicht sogar etwas irritiert.
Als Kollegin will ich morgens nur hören: »Guten Morgen! Gut geschlafen?« oder »Morgen! Heute scheint die Sonne ja schön«. Daraufhin müsste ich nur kurz antworten: »Ja, hab gut geschlafen« oder »Freu mich schon auf den Feierabend«. Abgesehen davon, dass ich sowieso nicht wüsste, ob das Jahr 208 mit einem Freitag anfing oder ein Schaltjahr war. Ich weiß, dass du so ein Gespräch anfangen willst, weil dich das Jahr 208 interessiert (du musst mir bei Gelegenheit bitte noch mal genauer schreiben, warum), aber dieses Interesse teilen die meisten Menschen wohl leider nicht, wobei ich nicht für alle sprechen kann, denn ich kenne auch einige nicht-autistische Menschen, die das wahrscheinlich grundsätzlich interessiert, weil sie Zahlen mögen.
Gute Smalltalk-Themen sind zum Beispiel:
• Etwas dazu sagen, was jemand gerade tut (zum Beispiel: »Was liest du da gerade?«)
• Ein Kompliment machen (»Schöne Bluse heute!«)
• Wenn man an einem Ort ist, an dem etwas Gemeinsames stattfindet, dann dazu etwas sagen (»Sie haben hier ja heute alles schön für uns dekoriert.«)
• Etwas zu einer Fernsehsendung vom Vortag sagen (»Hast du gestern auch xy gesehen?«) oder zu einem Film, der gerade im Kino angelaufen ist (»Hast du schon den neuen Film von … gesehen?)
• Etwas zum Wetter oder Verkehr sagen
• Wenn man die Person schon näher kennt, etwas über die Familie fragen, was belanglos ist oder über die Interessen der Person (»Wie geht es deiner Frau/deinen Kindern?«/»Warst du wieder mal beim Fußball?«
Wenn du dann eine Person schon gut kennst, musst du auch keinen Small Talk mehr machen, dann kannst du über alle Themen sprechen, die dich/euch bewegen. Jedenfalls so allgemein gesagt. Es ist schwer für mich, das alles genau auf den Punkt zu bringen, da es immer mal so oder so sein kann. Das ist ja immer das, was dir so schwer fällt, da flexibel reagieren und einschätzen zu können, in welchem »Modus« jemand gerade ist. Mich kannst du auch nicht zu jeder Tageszeit mit tiefschürfenden Themen ansprechen, Selbst Eheleute/Paare/enge Freunde smalltalken zwischendurch mal. Die meisten wechseln wohl alle ständig mal hin und her zwischen Smalltalk und »wichtigen/geistigen« Themen.
Ich weiß aus meinen Seminaren, dass viele Menschen Smalltalk nicht mögen. Dass es sie auch nicht immer interessiert, wie es dem Gegenüber nun wirklich geht oder was die Ehefrau oder Kinder so machen. Es geschieht aus Höflichkeit und um eine Beziehung zu beginnen oder aufrecht zu erhalten. Das Gegenüber fühlt sich wahrgenommen und sieht darüber hinweg, dass den anderen das vielleicht gar nicht so genau interessiert in diesem Moment. Bei Verkäufern weiß man ja auch, dass sie einen nicht mit diesem Dauergrinsen beglücken, weil sie einen so nett finden, sondern weil sie etwas verkaufen wollen. Trotzdem freut der Effekt. Die meisten Menschen werden gerne angelächelt.
Wie ist das denn bei dir? Wenn du redest, redest du dann immer nur »gehaltvoll« mit jemandem? Bist du permanent im »Philosophie«-Modus?
Hoffentlich wurde dir der Sinn und Zweck des Smalltalks etwas deutlicher. Ich freue mich auf eine Antwort. Viele liebe Grüße von Mel (PS: Das ist übrigens auch so eine Abschiedsformulierung für einen Brief, der somit gut abgeschlossen ist)

16.05.2015

Liebe Mel,
wow, das ist ganz schön viel Info und es beweist mir nur wieder, wie wichtig es ist, mich als Autist mit dem Thema Smalltalk auseinanderzusetzen.
Wenn ich eine E-Mail schreibe, dann schreibe ich immer zuerst das, was ich dem anderen am dringendsten vermitteln möchte, also das, was mir wichtig ist. Danach schmücke ich die Mail dann aus, das heißt, ich überlege mir eine passende Anrede und bedanke mich für das Anschreiben. Also schon ähnlich, wie du es machst, nur eben zeitlich verschoben. Die passende Anrede zu finden ist manchmal echt verzwickt, da es nur positive Anreden zu geben scheint. Gerade bei einem Beschwerdebrief oder einem Widerspruch ans Amt widerstrebt es mir eigentlich mit »Sehr geehrte …« zu beginnen. Aber da ich gelernt habe, dass und warum es so sein muss, mache ich es. Da beginnt dann wohl mein Verbiegen. Es fällt mir leichter, seit ich verstanden habe, dass mein Verhalten immer eine Konsequenz haben wird und dass ich diese Konsequenz schon durch eine kleine Änderung meines Verhaltens beeinflussen kann. Es gibt kein Falsch und kein Richtig, es gibt nur die Konsequenz. Also beende ich das Schreiben dann auch mit »freundlichen Grüßen« und hoffe, dass es nicht immer wörtlich genommen wird. Bei einem privateren Austausch frage ich nach dem Wohlbefinden, danke für die Nachricht und lasse den anderen wissen, dass ich mich über eine Rückmeldung freuen würde. Manchmal gibt es auch wetterabhängige sonnige, windige oder regnerische Abschiedsgrüße.
»Vielleicht ist der Smalltalk so eine Art ,Aufwärmphase‹. Wie bei Sportlern, die sich für ihre eigentliche Aufgabe, zum Beispiel ihren Wettkampf, zunächst aufwärmen müssen.«
Beim Sport macht das Sinn, aber warum müssen sich Menschen »aufwärmen«, ehe sie miteinander sprechen können. Ich kann entweder mit jemandem reden oder ich kann es nicht. Ich weiß nicht, woran es liegt und kann auch nicht vorhersagen, bei welchen Menschen es dann wie sein wird. Daraus entsteht zum Teil auch meine Angst vor den Begegnungen mit anderen Menschen. Ich werde mir die Sache mit dem »Aufwärmen« merken müssen. Ich kann es vielleicht immer noch nicht besser verstehen, aber es fällt mir leichter, es zu akzeptieren.
»Person kennenlernen (vielleicht macht sich das Unbewusste hier an die Arbeit, um zu ,scannen‹, ob jemand zu einem passt oder nicht)«
Das wäre eine durchaus plausible Erklärung für mich. Dann ginge es nur um dieses erste »Beschnuppern«. Aber dann dürfte es doch nur ein- oder zweimal stattfinden und nicht ständig?
»Person zu einer bestimmten Zeit nicht mit tiefschürfenden Themen ansprechen (zum Beispiel, wenn jemand noch müde ist oder gerade wenig Zeit hat), aber dennoch den Kontakt halten«
Woher weiß ich, ob jemand gerade müde ist oder keine Zeit hat?
»Einen höflichen Gesprächseinstieg finden, um sich dann weiterführend unterhalten zu können (zum Beispiel bei einem Vorstellungsgespräch oder beim Arzt oder während eines Versicherungsgesprächs)«
Also wieder beschnuppern? Smalltalk als Lösung, wenn man Zeit überbrücken muss und eher zufällig aufeinandertrifft, zum Beispiel im Warteraum eines Arztes, im Flur in der Kita oder beim Friseur. Das kommt mir so vor, als nutze man den anderen als eine Art Zeitvertreib. Das würde aber erklären, warum das Smartphone so wichtig ist. Technischer Smalltalk via Wha...

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