Â
1
Zur EinfĂŒhrung
Der Untertitel unseres Buches, Schulgeschichte aus Schulersicht, ist eine Herausforderung fĂŒr alle an pĂ€dagogischen Handlungen Beteiligten und Interessierten. Herausgefordert werden Lehrer, Eltern und Bildungsforscher, sich nicht nur als Erziehungsberechtigte und Experten zu sehen, sondern mit den Augen von Kindern und Jugendlichen auf das gesellschaftliche Unternehmen Schule zu schauen. Was sie dort sehen, ist der Inhalt unseres Buches. Denn wir nehmen programmatisch die Perspektive derer ein, auf die sich die Ăberzeugungen und Handlungen von Erwachsenen richten, die im pĂ€dagogischen Feld arbeiten. Wir sind einmal nicht die Bestimmenden, sondern die Zuhörenden. Was haben ehemalige SchĂŒler und SchĂŒlerinnen uns ĂŒber ihre Lehrer, den Unterricht, kurz ihre Schule zu erzĂ€hlen? Wie haben sie ihre Schulzeit erfahren, wie beurteilen sie diese Anstalt, wenn sie spĂ€ter auf sie zurĂŒckschauen? Bot ihre Schule ihnen ein Klima, das sie zum Lernen anregte, oder beherrschten Regeln und starre Unterrichtsformen das Klima? Und welche Handlungsstrategien standen ihnen im Klassenzimmer und auĂerhalb der Schule zur VerfĂŒgung, um auch gegen systemische WiderstĂ€nde ihre Interessen durchzusetzen?
In den hier dokumentierten autobiographischen Berichten ĂŒber Schule taucht eine Vergangenheit auf, die uns Heutige einerseits sehr entfernt anmutet, die uns andererseits aber auch vertraut ist, sei es aus unserer eigenen Schulzeit, sei es als Eltern mit schulgehenden Kindern, sei es als Schulforscher, die Daten ĂŒber die gegenwĂ€rtige Schule erheben und im gesellschaftlichen Kontext interpretieren.
Solche persönlichen und wissenschaftlichen Anschauungen rufen Fragen auf: War Schule immer so, oder was hat sich im Laufe der Jahrzehnte verĂ€ndert â und in welche Richtung? Wir nehmen hierzu eine Langzeitperspektive ein, wir wollen 150 Jahre Schulgeschichte von unten durch die autobiographische Brille ehemaliger SchĂŒler und SchĂŒlerinnen betrachten. Heutige Lehrer könnte unser Buch dazu anregen, ihre Berufsauffassungen und ihre Berufspraxis vergleichend zu ĂŒberdenken, ebenso wie Schulpolitiker darĂŒber ins GrĂŒbeln kommen könnten, wie beharrlich Schule auf ihren eingefahrenen Prozeduren und Lösungen von Problemen besteht, trotz aller inzwischen durchgefĂŒhrten Schulreformen.
In der Schule geht es um Lernen, um den Erwerb von Wissen und Zertifikaten; das ist ihr offizieller Auftrag. In der Schule geht es aber um viel mehr und anderes, nĂ€mlich um Leben und Ăberleben, es laufen dort auĂer den formalen LernauftrĂ€gen auch kognitive, soziale und emotionale Aneignungen von Umwelten ab, die nicht im Lehrplan stehen. Wie verhĂ€lt man sich als SchĂŒler gegenĂŒber mĂ€chtigen Erwachsenen? Wie schafft man sich FreirĂ€ume? Wie vermindert man Lernstress und verschafft sich Luft? Das ist das informelle Curriculum, das neben dem formellen einhergeht und Schule erst richtig ausmacht.
Im folgenden Kapitel 2 â Schulerleben in zivilisatorischer Sicht â schaffen wir fĂŒr all diese PhĂ€nomene einen theoretischen Hintergrund, der es uns erlaubt, subjektives Erleben mit objektiven gesellschaftlichen und historischen Entwicklungen zu verknĂŒpfen, und wir tun dies unter dem Gesichtspunkt von Wandel und Beharrungsvermögen.
Kapitel 3 â Schulzeit in autobiographischer Perspektive von Jugendlichen â fĂŒhrt die Leser in Forschungen ĂŒber Biographie und Lernen ein und fĂŒhrt sie ins Herz unseres Buches, die Quelle Autobiographie. Diese Quelle benutzen wir zweifach: einmal fĂŒr eine Querschnittauswertung, in der wir viele Quellen themengerichtet erschlieĂen; zum anderen, indem wir monographische Portraits erstellen, in denen das Schulleben einer bestimmten Person im autobiographischen Zusammenhang ĂŒber ihre gesamte Schulzeit (und darĂŒber hinaus) aufscheint. Diese beiden Verfahren â Querschnitt und Lebenswelt â stehen in einem produktiven SpannungsverhĂ€ltnis zueinander. Thematische Querschnitte sagen nur ausschnitthaft etwas ĂŒber die individuelle Person aus, dafĂŒr aber EinschlĂ€giges ĂŒber das betreffende Thema, etwa das Lehrer-SchĂŒlerverhĂ€ltnis. Monographien lassen tiefere Einblicke in die Persönlichkeit und die Lebenswelt der Autographen zu, in ihre Bildungs- und allgemeine Entwicklungsgeschichte, in der möglicherweise auch andere Motive und Sachverhalte erscheinen als in den Querschnitten.
Wir fĂŒhren unsere Leser nach den beiden Theoriekapiteln durch drei thematische Querschnitt-Kapitel (4, 5, 6) und ein lĂ€ngeres Monographie-Kapitel (7). Im letzten Kapitel (8), RĂŒckschau auf 150 Jahre deutsche Schulgeschichte aus SchĂŒlersicht, fragen wir uns und unsere Leser nach dem Ertrag unserer Arbeit.
2
Schulerleben in zivilisatorischer Sicht
Einleitung
Hier geht es uns darum, das Thema dieses Buches »Schule von unten« in theoretische und empirische Diskurse und Ăberlegungen einzubetten, die uns in unserer eigenen wissenschaftlichen Arbeit ĂŒber Kindheit und Familie, Schule und Lernen, SchĂŒler und Lehrer sowie, ganz allgemein, gesellschaftliche Wandlungen angeleitet haben und uns vertraut sind. Dabei lassen wir uns von den Arbeiten Norbert Eliasâč und seiner Mitdenker anregen (Elias 1969; 1986; Gleichmann/Goudsblom/Korte 1977; 1979; 1984; Wouters 1999; Krumrey 1982). Sie haben den westeuropĂ€ischen Zivilisationsprozess bis in die jĂŒngere Gegenwart verfolgt und zu seinem VerstĂ€ndnis eine Reihe von Teiltheorien und Konzepten vorgeschlagen, die wir in eigenen Forschungen weiterentwickelt haben und auch hier fĂŒr unsere Darstellung und Analysen nutzen (Behnken/du Bois-Reymond/Zinnecker 1988; 1989; Behnken 1990).
WĂ€hrend die wissenschaftliche Produktion der sozio- und psychogenetischen Zivilisationstheorie seit den 1980er Jahren zu einem gewissen Stillstand gekommen ist, haben soziologische Modernisierungstheorien seither einen enormen Aufschwung genommen. Sie entstanden zum Teil parallel und in freundschaftlicher NĂ€he zu Elias, zum Teil in kritischer Distanz und mit anderen Erkenntnisinteressen. Wir selbst verhalten uns beiden Traditionen gegenĂŒber unbefangen: Weder spielen wir die eine gegen die andere aus, noch fĂŒhlen wir uns der einen mehr als der anderen verpflichtet. Wir verfahren eklektisch: Wenn es um Lernen im allerbreitesten Sinn geht, so sind selbstverstĂ€ndlich auch bildungssoziologische, erziehungswissenschaftliche und lernpsychologische Theorien mitgefragt (Terhart 2015; Grunert/von Wensierski 2008; Coelen/Otto 2008; Schröer/Stauber/Walther u. a. 2013). Und wenn es um Wandlungen von Kindheit geht, also die jungen Lerner in und auĂerhalb der Familie, so holen wir uns auch aus der neuen Familien-, Jugend- und Kindheitssoziologie Anregungen (Leccardi/Ruspini 2006; KrĂŒger/Grunert 2009; Breidenstein/Prengel 2005; Heinz/Zeiher 2005). Schon gar nicht wollen wir ethnografische und Lebenswelt-Traditionen vernachlĂ€ssigen, zu deren GrĂŒndungsvĂ€tern Alfred SchĂŒtz (1975) und, aus dem amerikanischen Raum, Erving Goffman (1959; 1961) gehören.
Verschiebung von Machtbalancen
Schauen wir zwei, drei Generationen zurĂŒck in unsere eigenen Familien, so wird jedem von uns GegenwĂ€rtigen klar, dass sowohl im familialen wie im gröĂeren gesellschaftlichen Rahmen eine wesentliche VerĂ€nderung das VerhĂ€ltnis zwischen MĂ€nnern und Frauen und das VerhĂ€ltnis zwischen Erziehern und Kindern betrifft (Krumrey 1982). Durch diese Entwicklungen verschiebt sich die Machtbalance zwischen den Geschlechtern, wobei wir hier das soziale Geschlecht meinen, mit dem englischsprachigen Begriff »gender« bezeichnet, und zwischen den Generationen. Dabei ist Macht nicht als eine Substanz zu denken, die quasi wie ein Kuchen aufgeteilt wird, wobei nun die Frauen und Kinder ein gröĂeres StĂŒck auf Kosten der MĂ€nner bekĂ€men. Vielmehr geht es um einen Strukturwandel in der Figuration (Elias 1986) der Geschlechter/gender und der Generationen. In beiden Figurationen geht es um ein Ausbalancieren gegenseitiger Interessen und BedĂŒrfnisse, und was Kinder betrifft, nicht nur gegenĂŒber den Eltern, sondern auch gegenĂŒber anderen (ehemaligen) AutoritĂ€tspersonen wie Pfarrern oder Lehrern. Diese VerĂ€nderungen korrespondieren mit makrosoziologischen Wandlungen, die Soziologen unter dem Sammelbegriff Modernisierung zusammenfassen und ausdifferenzieren (Herlth/Brunner/Tyrell 1994; Beck/BonĂ/Lau 2001; Beck/Beck-Gernsheim 1990; Beck 1986; Zinnecker 2003b).
Insgesamt fĂŒhrt eine (mehr) ausgeglichene Machtbalance zu mehr Verhaltensalternativen und Verhaltensformen aller in einer Figuration involvierten Menschen, kleinen und groĂen. Sind in (stĂ€rker) hierarchischen Beziehungen nur wenige Aktions- und Reaktionsweisen vorgesehen â Respekt fordern und Respekt erhalten â, so öffnen sich nun fĂŒr Menschen viel mehr Verhaltensvariationen. Kinder und Jugendliche sind Teil der Machtbalance und ihrer Wandlung hin zu mehr Anspruch auf Wahrung eigener Interessen. In Ă€lteren Familienfigurationen â denken wir etwa an die Kindergeneration der 1950er Jahre â hatten Kinder und SchĂŒler wenig aktive Einflussmöglichkeiten auf das familiĂ€re und schulische Geschehen; Eltern und Lehrer waren Respektpersonen, bis hin zu körperlicher Sanktionsgewalt. Das ist heute Ausnahme, nicht (mehr) Regel (du Bois-Reymond/BĂŒchner/Fuhs/Ecarius 1994; Zinnecker 2003b).
Mehr Freiheit bedeutet nun aber nicht ZĂŒgellosigkeit. Wie insbesondere Bildungssoziologen thematisieren, erfordert eine gezielte und realistische Schulwahl Selbstdisziplin und Aufschub von momentaner Befriedigung (z .B. weniger Leistungsdruck in weniger anspruchsvollen BildungsgĂ€ngen oder schneller Geld verdienen â vgl. hierzu den Klassiker Paul Willis 1977). Wer dies nicht gelernt hat, kann auch zugenommene Wahlmöglichkeiten nicht optimal nutzen â womit allerdings nicht gesagt sein soll, dass schulische Benachteiligung aufgehoben wĂ€re, wenn alle Kinder und ihre Eltern vernĂŒnftige Schulwahlen trĂ€fen.
Wenn sich so einschneidende VerĂ€nderungen in modernen Gesellschaften vollziehen, und dies in einem relativ kurzen Zeitraum (jedenfalls unter einer zivilisationstheoretischen Perspektive, die mit langen ZeitrĂ€umen rechnet), so fordert dies den betroffenen Personen enorme Lernleistungen ab, MĂ€nnern wie Frauen, VĂ€tern wie MĂŒttern, jĂŒngeren wie Ă€lteren Kindern und Jugendlichen. Sie beziehen sich schon auf die Kleinkind- und Vorschulphase, erst recht auf die Schule. Moderne Eltern haben aus dem verfĂŒgbaren gesellschaftlichen Wissen gelernt, dass eine gute Schulbildung fĂŒr ihre Kinder lebenswichtig ist, ja selbst ĂŒberlebenswichtig in einer stets mehr auf Wissen basierten Gesellschaft1. Sie stellen deshalb ihre Erziehungsvorstellungen um vom Einfordern von Gehorsam auf das Stimulieren sozialpsychologischer und kultureller Kompetenzen wie das BegrĂŒnden eigener und Reflektieren anderer Meinungen, Sprachfertigkeit und die ZĂŒgelung von aggressiven Impulsen. Norbert Elias hat die Herausbildung dieser FĂ€higkeiten im zivilisatorischen Langzeitverlauf als die Emanzipation von Fremdkontrolle hin zu Selbstkontrolle analysiert (Elias 1969). Diese Entwicklungen erstrecken sich auf alle sozialen Milieus, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung und Geschwindigkeit.
Moderne Erzieher haben mit dem Widerspruch zu tun, anzuerkennen, dass Kinder und Jugendliche historisch mehr Entscheidungsmacht erobert haben, andererseits mĂŒssen sie von ihnen Frustrationstoleranz und Leistungsbereitschaft fordern. Deshalb mĂŒssen Machtbalancen im schulischen und auĂerschulischen Leben immer neu ausgehandelt werden.
Formalisierung â Informalisierung â Re-Formalisierung
Im Verlauf der letzten etwa 150 Jahre entwickelt sich in europĂ€ischen Gesellschaften eine Dynamik, die auch fĂŒr unsere Thematik â Schulleben aus autobiographischer Sicht â bedeutungsvoll ist. Es handelt sich hierbei um den Ăbergang von stark formalisierten zu mehr informellen Verhaltensformen. Diese Dynamik hat eine Anlaufzeit und kulminiert in den 1960/70er Jahren in der kulturellen und sexuellen Revolution â Höhepunkt informeller Verhaltensweisen nach Jahrzehnten (viel) stĂ€rker reglementierter Verhaltenskodes, wie man dies gut anhand von AnstandsbĂŒchern (Krumrey 1982) analysieren kann. Das impliziert eine Adjustierung der Selbstzwang-Fremdzwang-Balance: Wenn sich den Individuen aufgrund allgemeiner Demokratisierungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen mehr Wahlmöglichkeiten und erweiterte Verhaltensalternativen eröffnen, wenn ihr Verhalten also weniger durch Zwang von auĂen und oben gelenkt wird, so steigt im selben Atemzug die Notwendigkeit zur Selbststeuerung â in psychoanalytischer Terminologie: Gewissensbildung.2 Es kommt zu einer »Verringerung des MachtgefĂ€lles zwischen machtstĂ€rkeren und machtschwĂ€cheren Gruppen« (Elias 1990, S. 36). Diese AbschwĂ€chung des MachtgefĂ€lles finden wir auch im Verlauf der Schulgeschichte (s.w.u.), in der Beziehung von Lehrern und SchĂŒlern, SchĂŒler haben sich gegenĂŒber ihren Lehrern mehr Freiheitsgrade im Verhalten erobert, Lehrer haben sich weitgehend von Obrigkeitsideologien gelöst. Aber, wie Elias anmerkt: Diese Verringerung des MachtgefĂ€lles vollzieht sich in einer Gesellschaft â und zumal der deutschen â nicht gleichmĂ€Ăig, sondern in den oberen Gesellschaftsklassen frĂŒher, wĂ€hrend man sich »im Verkehr mit Tiefergestellten, wie es die Sprache uns in den Mund legt, keinen Zwang anzutun (braucht), man kann sich gehen lassen« (Elias 1990, 50).
Es dauerte drei bis fĂŒnf Generationen, bis diese Unterschiede ausgeglichen waren. Wir können das aus unseren schulhistorischen autobiographischen Quellen bestĂ€tigen: Um die Jahrhundertwende behandelten Lehrer ihre SchĂŒler deutlich als Tiefergestellte, denen gegenĂŒber man sich keinen Zwang antun musste, bis hin zu körperlichen Ăbergriffen; sechzig Jahre spĂ€ter ist bei Lehrern und SchĂŒlern die Selbstzwang-Fremdzwang Balance ausgeglichener.
Die SchulgĂ€nger der 1960/70er Jahre und spĂ€ter profitierten von InformalisierungsschĂŒben, die tradierte Generationsbeziehungen aufweichten. Nicht nur Eltern und Kinder »verhandeln« nun auf Augenhöhe. Auch in den Schulen ist seither der Umgangston lockerer geworden, bis hin zum Duzen von Lehrern, und gewiss gibt es den militĂ€rischen MorgengruĂ nicht mehr, von Körperstrafen zu schweigen, unter denen so viel SchĂŒler frĂŒher gelitten haben.3
Es handelt sich aber in der Schule um eine andere EinfÀrbung von Informalisierung als in den Familien. FamiliÀre Informalisierung geht gepaart mit einer Emotionalisierung und PÀdagogisierung des Eltern-Kind VerhÀltnisses einher (weniger Geschwister, mehr Elternzeit pro Kind u...