Teil III
Einzelprobleme
Lebenssinn
Dieter Gröschke
1 Definition, Begriffs- und Gegenstandsgeschichte
Sich kurz und knapp zum Lebenssinn/Sinn des Lebens äußern zu wollen, ist leicht vermessen und gleicht der „Quadratur des Kreises“. In seinem „Wörterbuch der Philosophie: Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache“ (Bd. 3, 1924) merkte der Philosoph und Sprachkritiker Fritz Mauthner dazu ironisch an: „Niemals kann ich ohne stillere oder lautere Heiterkeit Bücheranzeigen lesen, die mit Titeln anlocken wie: Der Sinn des Lebens, der Wert des Lebens, der Unfug des Sterbens usw. […] Freisinnige Nachmittagsprediger schwatzen über nichts lieber als über den Sinn des Lebens; da sind die Mathematiker doch viel anständiger, die untereinander ausgemacht haben, über die Quadratur des Zirkels keine Abhandlungen mehr zu schreiben“ (zit. in: Fehige et al. 2004, 29).
Es kann also hier nicht um Antworten auf „die alten Kinderfragen“ (Mauthner) gehen: „Hat das Leben einen Sinn/einen Wert?“; „Warum/wozu leben wir?“, „Ist das Leben lebenswert?“, „Was haben wir vom Leben?“ Sinnvoll – im sprachanalytischen Sinne – kann in diesem Zusammenhang die Frage sein: Was meinen wir, wenn wir nach dem Sinn des Lebens fragen (Fehige et al. 2004)?
Eine ideen- und begriffsgeschichtliche Rekonstruktion des Terminus Lebenssinn/Sinn des Lebens (Gerhardt 1995) zeigt auf, dass es sich um einen modernen Begriff handelt, der erst im Laufe des 19. Jahrhunderts regelmäßiger auftauchte. Wenn man „Sinn“ als ein Element des erweiterten semantischen Feldes von Wert, Zweck und Ziel auffasst, dann allerdings „gehört die Frage nach dem Sinn des Daseins zu den ältesten philosophischen Fragen überhaupt“ (ebd., 821). Etymologisch leitet sich das Wort Sinn von dem althochdeutschen „sin“ ab, was eigentlich „Weg“, „Reise“, „Richtung“ bedeutet, abgeleitet von ahd. „sinnan“ = „reisen“, „streben“. In den verschiedenen Richtungen der Hermeneutik wird der Begriff Sinn weitgehend inhaltlich deckungsgleich mit dem Zentralbegriff der Bedeutung verwendet. Diese beiden Bedeutungsrichtungen von Sinn münden dann auch in den Begriff bzw. das Konzept „Lebenssinn/Sinn des Lebens“: „Denn mit dem Sinn des Lebens verbindet sich die Auffassung von einer inneren Absicht des menschlichen Daseins, das dadurch als eine erfüllte Zeit gesehen wird und darin seinen eigentümlichen Wert hat“ (ebd., 815).
Von einem religiös und theologisch inspirierten Begriff im Sinne einer „Bestimmung des Menschen“ wird der Begriff des Lebenssinns/Sinn des Lebens vor allem seit der Kritischen Philosophie von Immanuel Kant zu einem geläufigen Begriff der praktischen Philosophie, der sich auf „die ganze Kunst des Lebens“ (so bei Schleiermacher 1792) bezieht. Zur letztlich entscheidenden Richtschnur für den „Wert/Sinn des Lebens“ wird nun allein die menschliche Vernunft. In der materialistischen Philosophie von Ludwig Feuerbach wird die Sinnerfahrung an die Sphäre der Sinnlichkeit gebunden. Von einer atheistischen Position kommt Feuerbach zu dem Schluss, dass ohne Religion das menschliche Leben „zwecklos“ erscheine; und wer den Zweck nicht finde, müsse ihn sich setzen: „In der Tat setzen auch alle tüchtigen Menschen sich einen höchsten Zweck“, denn „größtes Unglück ist Zwecklosigkeit“. In der pessimistischen Weltanschauung und Philosophie von Arthur Schopenhauer wird die Bejahung oder Verneinung des „Willens zum Leben“ an Werturteile gebunden, die von subjektiven Erfahrungen, Einstellungen und Stimmungen abhängig gemacht werden. Die Beurteilung von Sinn, Zweck und Wert eines menschlichen Lebens als Ganzes kann im Sinne der aufklärerischen und modernen Subjektphilosophie nur von jedem einzelnen menschlichen Individuum vorgenommen werden, „nach seinem eigenen subjektiven Maßstabe“ (Eduard von Hartmann, 1885). Diese radikal subjektive und individualistische Variante im Verständnis von Lebenssinn drückt sich auch bei Friedrich Nietzsche aus: „Stecke Dir selber Ziele, hohe und edle Ziele und gehe an ihnen zugrunde!“ (Nachgelassene Fragmente 1873, 29). In der Grundlegung der hermeneutischen Geisteswissenschaften bei Wilhelm Dilthey (1883) wird das Verstehen zur zentralen erkenntnistheoretischen Kategorie. Dieses Verstehen des in allen seinen Formen individuell verfassten Lebens basiert auf dem Verstehen des eigenen Lebens, des individuellen Erlebens. „Da aber das Erleben stets auf Sinn bezogen ist, ist alles Verstehen immer nur ein Sinnverstehen. So wird der Sinn zur tragenden Kategorie des Selbst- und Weltverständnisses, und der Sinnbegriff gehört seit Dilthey zum festen terminologischen Bestand der philosophischen Literatur“ (Gerhardt 1995, 818) [→ II Sinn/sinnhaftes Handeln und Aufbau der sozialen Welt].
In der von Schopenhauer und Nietzsche inspirierten pessimistischen Geschichtstheorie bei Theodor Lessing (1920) wird Geschichtsschreibung (Historiographie) zu einem Projekt der „Sinngebung des Sinnlosen“.
Selbstbezogenheit, Selbstbesinnung und Selbstauslegung („self-interpretation“, Charles Taylor) werden in unserer „postmetaphysischen Moderne“ zentrale Bestimmungsstücke aller Konzeptionen vom Sinn des Lebens/Lebenssinn, wobei dieser entweder als „Sinnfindung“ oder „Sinnstiftung“ gedeutet wird, jeweils aber auf das Ganze des menschlichen Daseins bezogen. Im Existenzialismus von Albert Camus (1942), wie bereits früher in der Mitte des 19. Jahrhunderts im christlichen Existenzialismus von Sören Kierkegaard („Entweder/Oder“, 1843), wird die Sinnfrage existentiell und radikal zugespitzt. Camus fordert die ständige „Revolte“ des Einzelnen gegen die einschränkenden Lebensbedingungen und gegen die „Absurdität“ des Daseins; nur darin hat das Individuum eine Chance, zu sich und seiner Bestimmung zu finden. Prototypisch für diese Lebenseinstellung ist die Figur des Sisyphos, der aus einer Strafe der Götter eine positive Lebensaufgabe gemacht hat (vgl. Greving & Gröschke 2002).
2 Zentrale Erkenntnisse und Forschungsstand
Die begriffs- und ideengeschichtlichen Forschungen zum Konzept Lebenssinn/Sinn des Lebens, die ich im vorangegangenen Abschnitt skizziert habe, lassen sich darin zusammenfassen, dass sich seine zunehmende Relevanz vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart als Indikator für tiefgreifende Wandlungen im Selbst- und Weltverständnis der Menschen von der Aufklärung zur Moderne und Postmoderne begreifen lässt. Das Konzept vom Sinn des Lebens ist in der Neuzeit in einem universellen anthropologisch-existenzialen Begriff von Sinn-Verstehen verankert. In seinem epochalen Werk „Sein und Zeit“ (1927) stellt Martin Heidegger die Grundsatzfrage nach dem „Sinn von Sein“, der sich nur durch Sinnverstehen des menschlichen „Daseins als In-der-Welt-Sein“ erschließen lasse: „Sinn ist das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem etwas als etwas verständlich wird“ (Sein und Zeit, § 32, 151).
Mit der Sinnfrage bleiben einige erkenntnistheoretische und methodologische Grundfragen unauflöslich verbunden. Sie bewegt sich zwischen Subjektivismus (Was der Einzelne in seinem Leben will und sucht) und Objektivismus (Was Alle wollen/sollen). Die Korrelation des Sinnbegriffs mit den Begriffen der Güter und Werte sowie mit dem eudaimonistischen Grundbegriff des Lebensglücks oder des gelingenden Lebens eröffnet ein weites Feld von Grundsatzfragen anthropologischer, ethischer, religiöser und auch politischer Art: Gibt es objektive und universelle Güter und Werte oder nur subjektive und relative Interessen und Präferenzen? Was ist „Glück“, nach dem seit Aristoteles’ Ansicht alle Menschen streben; gibt es allgemein bestimmbare Bedingungen eines guten, gelingenden menschlichen Lebens oder nur eine unübersehbare und historisch kontingente Pluralität unterschiedlichster Lebensformen und Lebensstile? Muss, darf, kann jeder einzelne unter den heute obwaltenden gesellschaftlichen Bedingungen von Pluralisierung, Individualisierung und Multioptionalität den Sinn seines Lebens selber finden/erfinden, oder existieren doch noch überindividuelle, nicht-relative normative Orientierungssysteme und woraus bestehen sie essentiell und substantiell, wenn es nicht mehr die traditionellen metaphysischen und religiösen Werthierarchien und Güterordnungen sind?
In Psychologie und Psychotherapie, aber auch in aktuellen philosophischen Lebenskunstlehren als „säkulare Ersatzreligionen“ finden viele Menschen inzwischen Halt und Orientierung für ihre persönliche Lebensführung. In der Psychotherapie hat sich mit der von Viktor Frankl (1905–1997) begründeten Logotherapie und Existenzanalyse eine eigene und international einflussreiche Richtung entwickelt, in der die individuelle „Suche nach dem Sinn“ im Zentrum ihrer Theorie und Praxis steht. Sie gilt als „Dritte Wiener Schule“ der Psychotherapie, nach der Psychoanalyse von Sigmund Freud und deren „Willen zur Lust“ und der Individualpsychologie von Alfred Adler und deren „Willen zur Macht“. Der Mensch strebt nach Frankl bedingungslos und unter allen Umständen nach Sinn, nach dem logos; er hat ein elementares Bedürfnis nach Sinn, wie er eines nach Essen und Trinken hat. Dieses allgemeine Streben äußert sich in jedem Menschen in individuierter Weise, ohne dass es an allgemeine normative Vorgaben (z. B. weltanschaulicher oder religiöser Art) gebunden wäre. Die Frustration dieses „Willens zum Sinn“ führt zum „existenziellen Vakuum“ und unter Umständen in eine „noogene Neurose“. Jedes Individuum kann nur selbst seinem eigenen Leben einen Sinn geben oder seinen Sinn finden; eine Antwort auf die Frage nach dem „Sinn des Ganzen“ entzieht sich den menschlichen Erkenntnismöglichkeiten grundsätzlich (zu Frankl s. Raskob 2005).
3 Ausblick
Im Zusammenhang der Heil-, Sonder- und Behindertenpädagogik kommt dem Thema Lebenssinn eine besondere Bedeutung zu. Menschen mit Behinderungen/behinderte Menschen (und ihre Angehörigen) haben die Aufgabe, ihr Leben unter den „besonderen“ (meist erschwerenden) Umständen ihrer Behinderung zu gestalten. „Behinderung“ bezeichnet eine besondere Lebenslage, die besondere Aufgaben der Lebensbewältigung stellt.
Ihr individuelles Leben mit einer Behinderung sinnvoll und subjektiv befriedigend zu gestalten, eine individuelle Form und Gestalt „gelingenden Lebens“ zu finden, gelingt Menschen mit Behinderungen so gut und so schlecht wie nicht behinderten Menschen unter vergleichbaren Umständen. Diesen Befund aus der Innenperspektive, der Perspektive des subjektiven Erlebens, Handelns und Erleidens der betroffenen Menschen selber, muss man gegen gesellschaftliche Tendenzen von Außen bestärken, die auf eine Objektivierung von Lebenssinn/Sinn des Lebens hinauslaufen. Solche objektivierenden, an Kriterien von Zweck und Wert orientierten Sichtweisen begünstigen latent immer wieder eine tendenzielle Entwertung behinderten Lebens – bis hin zu den entmenschlichenden Zuschreibungen von „lebensunwertem Leben“ (so paradigmatisch in der immer wieder zitierten Schrift des Juristen Binding und des Psychiaters Hoche „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“, 1920, z. Zt. der Weimarer Republik).
Mit dem sozialwissenschaftlichen und bioethischen Konzept der Lebensqualität [→ Normalisierung, Integration, Lebensqualität] verbinden sich gelegentlich solche gefährlichen Objektivierungs- und Normierungstendenzen in Bezug auf den Sinn und Wert menschlichen Lebens. Obwohl das Konzept auf Vermittlungsprozesse zwischen objektiven Lebensbedingungen und subjektiven Bedürfnislagen abzielt, gehen mit den Ansätzen seiner empirischen Operationalisierung solche normativen Tendenzen in Richtung einer Einteilung in „lebenswerte“ und „lebensunwerte“ Lebensformen einher. Es muss demgegenüber festgehalten werden: „Ein Urteil über die Lebensqualität eines Menschen ist wesentlich ein individuelles Urteil, denn es enthält aktuelle Äußerungen über das eigene Befinden, das nur vom Betroffenen selbst erlebt werden kann und über das nur er selbst in der Lage ist zu berichten“ (Lanzerath 1998, 565).
Das Leben jedes einzelnen Menschen muss ein indisponibler, intrinsischer Wert bleiben, dem – unbedingt – Wertschätzung und Würde zukommt und das nicht nach utilitaristischen Nutzenerwägungen und -kalkülen von Außen relativiert werden darf. In diesem Zusammenhang wird der Begriff Lebenssinn/Sinn des Lebens zu einer zentralen Kategorie einer Schutzethik, die für die Handlungsfelder von Heilpädagogik, Pflege und Medizin ein dringliches Desiderat bleibt.
Weiterhin bleibt zu bedenken, dass der auf das Ganze eines Lebens und auf seine zukünftige Erfüllungsgestalt bezogene Begriff von Lebenssinn wegen dieser „heimlichen Teleologie“ (Volker Gerhardt) Gefahr läuft, die „Erfülltheit des Augenblicks“ (Schleiermacher) im Lebensalltag einer Person und das „Recht des Kindes auf den heutigen Tag“ (Korczak) einer oft ungewissen Zukunft aufzuopfern. Das alte Klugheitsgebot des „carpe diem“ erinnert an diese ständige Gefahr.
Literatur
Fehige, Christoph et al. (Hrsg.) (2004): Der Sinn des Lebens. Stuttgart
Gerhardt, Volker (1995): Art. Sinn des Lebens. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10. Stuttgart, 815–824
Greving, Heinrich & Gröschke, Dieter (Hrsg.) (2002): Das Sisyphos-Prinzip. Gesellschaftsanalytische und gesellschaftskritische Dimensionen der Heilpädagogik. Bad Heilbrunn
Lanzerath, Dirk (1995): Art. Lebensqualität. In: Lexikon der Bioethik. Bd. 2. Gütersloh, 563–569
Raskob, Hedwig (2005): Die Logotherapie und Existenzanalyse Viktor Frankls. Systematisch und kritisch. Wien
Normen und Werte
Detlef Horster
1 Die materiale Wertethik
Das Verhältnis von Normen und Werten ist in der Moralphilosophie erst im Zuge der Entstehung der Wertethik Max Schelers und Nicolai Hartmanns zum zentralen Thema avanciert. Laut Scheler besteht der Zusammenhang darin, dass sich die Normen aus den Werten und ihren Kriterien, die Scheler vorgeschlagen hat, ergeben (vgl. Scheler 1966, 30 f.). Werte sind für ihn materiale Qualitäten, die unabhängig davon sind, ob jemand sie als wertvoll erachtet oder nicht: Scheler sagt, dass uns der Wert gegeben ist, „ohne dass uns die Träger dieses Wertes gegeben sind“ (ebd., 40). Ein Wert ist nach seiner Ansicht umso höher einzustufen, je unabhängiger er vom Träger des Wertes ist (vgl. ebd., 118). Auch für Nicolai Hartmann bestehen Werte völlig unabhängig davon, ob sie von Menschen als wertvoll angesehen werden oder nicht. Für ihn gibt „es ein an sich bestehendes Reich der Werte“ (1962, 156). Wie mathematische Entitäten haben Werturteile den Charakter der Allgemeinheit, de...