Psychoanalyse in den Jahren nach Freud
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Psychoanalyse in den Jahren nach Freud

Entwicklungen 1940-1975

  1. 128 pages
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Psychoanalyse in den Jahren nach Freud

Entwicklungen 1940-1975

About this book

Mit Freuds Tod im Londoner Exil 1939 und der Diskriminierung durch den Nationalsozialismus ging die Epoche der Psychoanalyse als innovative Botschaft in Mitteleuropa in der ersten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts zu Ende. Die USA, London und Paris entwickelten sich zu den neuen Zentren. Von dort gingen ganz neue Entwicklungen aus, die den ''klassischen Freud'' grundsĂ€tzlich erneuerten. Das Ergebnis waren die Ich-Psychologie und die Neopsychoanalyse in den USA, die Objektbeziehungstheorie in England und die strukturalistische Psychoanalyse in Frankreich. Das Buch zeichnet diese Entwicklungen in den Jahren 1940-1975 nach. Es endet mit einem Blick auf die Nachkriegsentwicklung in Deutschland und Österreich.

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Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2012
Print ISBN
9783170221901
eBook ISBN
9783170282346
Edition
2

1. Vorlesung Freuds Erbschaft und die Folgen

Psychoanalyse nach 1939

Als Freud im Juni 1938 von Wien ins Exil nach London ĂŒbersiedelte, stand Mitteleuropa in einem ungeheuerlichen Prozess des moralischen und kulturellen Zusammenbruchs, dem auch die Psychoanalyse zum Opfer fiel. Freud hatte Wien zum Zentrum der Psychoanalyse gemacht. Mit seiner Emigration war ihr Untergang in ihrem bisherigen Kerngebiet, dem deutschsprachigen Mitteleuropa, auch Ă€ußerlich besiegelt.
Die meisten deutschsprachigen Analytiker jĂŒdischer Abkunft hatten das damalige Reichsgebiet schon vor Freud verlassen. Im Deutschen Reich blieben nicht jĂŒdische Analytiker zurĂŒck, die sich mehr oder weniger willig mit dem NS-Regime arrangierten. Psychoanalytische Arbeit im Sinne von Freuds Lehre gab es bis in die Nachkriegsjahre hinein in Deutschland und Österreich praktisch nicht mehr.
Freuds Tod wenige Tage vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939 in London setzte einer Epoche ein Ende. Es war die Epoche der Entstehung und Etablierung der Psychoanalyse als Wissenschaft und als wissenschaftspolitische Bewegung, vor allem im deutschsprachigen Raum.
Mit der Verschiebung der geografischen Mitte der Psychoanalyse begannen neue Entwicklungen. Dabei spielte eine Rolle, dass die Zentrierung auf Freud als Person mit einem hohen Machtanspruch nach seinem Tod zu verblassen begann. In den USA, in England und in Frankreich gingen die Entwicklungen zunehmend eigene Wege. So entstand in der zweiten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts eine Diversifizierung der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Die Psychoanalyse entwickelte sich von einer Einheitswissenschaft unter der FĂŒhrung der Libidotheorie zu einem Pluralismus, in dem verschiedene Strömungen mehr oder weniger unverbunden nebeneinander bestanden. Wallerstein2, ein PrĂ€sident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, sprach daher nicht mehr von einer Psychoanalyse, sondern als Ergebnis dieser Entwicklung von mehreren.
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Abb. 1: „Gegen Psychoanalyse“, Sonderheft der SĂŒddeutschen Monatshefte 1931: „Die Freudsche These widerspricht allen Tatsachen.“
In dieser Vorlesung werden drei Tendenzen deutlich werden:
  1. Das Indikationsspektrum der psychoanalytischen Behandlungen wurde ab 1940 immer breiter. Es entstand ein zunehmendes Interesse an der Behandlung von schweren Pathologien und Ich-Störungen, die nun in Abhebung von Freud als „frĂŒhe“ oder „prÀödipale“ Störungen bezeichnet wurden. Diese Erweiterung ließ sich durch Freuds Trieb- und Konflikttheorie und die darauf bezogene Behandlungstechnik nicht mehr abdecken. Neue Konzepte wurden erforderlich.
    Heute fassen wir diese Störungen als Strukturpathologie zusammen und stellen sie der klassischen Freud’schen Konfliktpathologie gegenĂŒber. Die Entwicklung in den nachfolgenden Jahrzehnten ist vornehmlich als eine Antwort der Psychoanalyse auf die Herausforderungen der Strukturpathologie zu verstehen.
  2. In den verschiedenen neuen Zentren entstanden unterschiedliche regionale Lösungen fĂŒr die neuen theoretischen und behandlungstechnischen Fragen:
    • In den USA, wo die Psychoanalyse sich nach 1940 rasch ausbreitete und im klinisch-psychiatrischen Bereich ein starkes Gewicht erhielt, entwickelte sich die Ich-Psychologie zur fĂŒhrenden Richtung.3 Außerdem entstanden hier die neopsychoanalytischen Kulturschulen, die sich als Alternative zur Freud’-schen Libidotheorie verstanden.
    • In England entstand neben der Weiterentwicklung der Positionen Freuds die Objektbeziehungstheorie. Zwischen den kontroversen Richtungen gediehen die kreativsten BeitrĂ€ge zum VerstĂ€ndnis der Strukturpathologie mit den Konzepten der Londoner Mittelgruppe der „UnabhĂ€ngigen“.
    • Frankreich ging ganz eigene Wege. Hier entstand neben der Freud’schen Tradition ein Versuch, die Psychoanalyse unter sprachanalytischen Aspekten neu zu interpretieren. Dieser Ansatz stand unter dem Motto „ZurĂŒck zu Freud“ und erschloss ein ganz neues VerstĂ€ndnis des Unbewussten. Er wurde zur dominierenden Richtung in Frankreich und Lateinamerika.
  3. In den mitteleuropÀischen LÀndern, die mit Ausnahme der Schweiz durch den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus von den internationalen Strömungen abgeschnitten waren, nahm die Psychoanalyse nach dem Krieg ganz eigene Entwicklungen.
    • In der Schweiz hatte schon zu Freuds Zeiten die Schule von C. G. Jung dominiert. Sie entwickelte sich auch spĂ€ter als vorherrschende Richtung weiter. Daneben entwickelte sich auch die Daseinsanalyse weiter, die in den 1920er Jahren in Anschluss an Ludwig Binswanger entstanden war. Außerdem entstand hier neben einer Freudianischen, relativ konservativen Entwicklung mit der Ethnopsychoanalyse, inspiriert von Paul Parin, eine eigenstĂ€ndige Neuerung.
    • In Österreich versuchte man, an die Tradition der klassischen Psychoanalyse Freuds anzuschließen. Mit dem sozialanalytischen Ansatz von Igor Caruso entstand daneben eine bedeutende neopsychoanalytische Strömung.
    • Die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland war lange durch eine gruppendynamisch begrĂŒndete Spaltung zwischen der klassischen psychoanalytischen Tradition und der Neopsychoanalyse Schultz-Henckes bestimmt. Erst in den 1970er Jahren lockerte sich die Polarisierung zwischen den beiden dominierenden Lagern.
    • Unter dem Sozialismus in der DDR schließlich hatte die Psychoanalyse kaum eine Chance. Dort entstand die „dynamisch intendierte Psychotherapie“, die vor allem in Gruppen Anwendung fand. Sie nahm offiziell auf psychoanalytische Konzepte kaum Bezug. Erst kurz vor der politischen Wende von 1989 wurde eine gewisse RĂŒckbesinnung auf Freud und die Psychoanalyse wieder toleriert.

Freuds Erbe

Als Freud 1939 starb, hinterließ er ein ĂŒberwĂ€ltigendes Werk.4 Es hat drei Schwerpunkte, die miteinander in enger Beziehung stehen:
  • die Theorie der Psyche im Sinne der Normalpsychologie und der Psychopathologie,
  • die Psychotherapie
  • und die psychoanalytische Sozial- und Kulturtheorie.

Psychoanalytische Theorie

Freuds psychoanalytische Theorie steht unter der Leitidee des Unbewussten. Danach können die bewussten PhÀnomene im Erleben und Verhalten unbewusste Bedeutungen haben und durch unbewusste Motive, Prozesse und Mechanismen gesteuert werden.
Die Theorie des Unbewussten hat in Freuds Werk zwei Versionen, eine frĂŒhe vor 1915 und eine spĂ€te in den Jahren danach. Die frĂŒhe Version entstand ab etwa 1895 und ist in Freuds berĂŒhmtem Opus magnum „Die Traumdeutung“5 enthalten, die 1899 unter dem Datum 1900 erschien. Im siebten Kapitel dieses Buches legte Freud die erste in sich geschlossene Theorie des Unbewussten vor.
Er beschreibt dort in Anlehnung an das physikalisch-physiologische Denken des 19. Jahrhunderts die Seele als einen psychischen Apparat, der durch Energien gesteuert wird. Diese Energien nennt er Libido. Sie stammen aus Trieben, die im Wesentlichen eine biologische Grundlage haben.
Der bedeutendste Teil der psychischen Prozesse ereignet sich in einem Bereich der Seele, der dem bewussten Erleben nicht zugĂ€nglich ist und den Freud das Unbewusste (das System Unbewusst) nannte. Diesem Bereich stehen die VorgĂ€nge im Bewussten gegenĂŒber. Dazwischen nahm er einen Übergangsbereich an, den er das Vorbewusste nannte. Diese drei Begriffe, das Unbewusste, das Vorbewusste und das Bewusste, markieren die Orte – topos – seelischer Prozesse. Freud sprach daher vom topischen Modell der Psyche.
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Abb. 2: Ex Libris fĂŒr Freud von Luigi Kasimir (1881–1962), dem bedeutenden österreichischen Grafiker, mit der Inschrift „Der das berĂŒhmte RĂ€tsel löste, dem Herausragendsten unter den Menschen“.6
Eingehend beschrieb er die Regulationsmechanismen, die diese Prozesse steuern. Danach wird das Unbewusste von einer eigentĂŒmlichen Unlogik beherrscht, die er als PrimĂ€rprozess bezeichnete und die eine Vermeidung von Unlust anstrebt. Er nannte dieses Regulationsprinzip das Lustprinzip. Hingegen unterliegen die Prozesse im Bewussten der Alltagslogik, dem sog. SekundĂ€rprozess. Er ist an der Ă€ußeren RealitĂ€t orientiert und wird daher als RealitĂ€tsprinzip bezeichnet.
Das Unbewusste wird durch die VerdrĂ€ngung vom Vorbewussten und Bewussten getrennt gehalten. Sie stellt also eine Bewusstseinsschranke dar. Freud nahm an, dass die Inhalte des Unterbewusstseins, also unbewusste Vorstellungen und Phantasien, durch VerdrĂ€ngung entstehen. Er sprach deshalb vom „dynamischen“ Unbewussten. Es kann z. B. aus TrĂ€umen, neurotischen Symptomen und der Übertragung frĂŒherer Erfahrungen auf aktuelle Beziehungen erschlossen werden.
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Abb. 3: Das topische Modell des psychischen Apparates war das leitende Modell in Freuds Werk bis etwa 1915. Es unterscheidet zwischen den Systemen Bewusst, Vorbewusst und Unbewusst.
Wenn die VerdrĂ€ngung versagt, entstehen neurotische Symptome als Abwehr der zweiten Linie. Sie beruhen auf unbewusst gewordenen, d. h. verdrĂ€ngten Erfahrungen, WĂŒnschen und Triebregungen, die aus der Kindheit stammen. WĂ€hrend Freud anfangs traumatische Erfahrungen als Ursache der Neurosen annahm, insbesondere sexuelle Übergriffe und VerfĂŒhrungen in der Kindheit, stellte er spĂ€ter verdrĂ€ngte Wunschphantasien in das Zentrum seiner Überlegungen zur Neurosenentstehung.
Die zentralen Motive, die VerdrĂ€ngungen bewirken, sind Liebes- und HassgefĂŒhle und die damit verbundenen inzestuösen und TötungswĂŒnsche, die in der Kindheit auf die Eltern gerichtet werden. Diese Vorstellungen bilden als Ödipuskomplex nach Freud den Angelpunkt der kindlichen Entwicklung. Letztlich erklĂ€rt er Neurosen aus der VerdrĂ€ngung des Ödipuskomplexes.
Die zweite, spĂ€tere Version der psychoanalytischen Theorie entstand zwischen 1915 und 1925. Sie ist in einer Reihe sogenannter metapsychologischer Schriften enthalten, von denen die bedeutendste unter dem Titel „Das Ich und das Es“7 im Jahre 1923 erschienen ist.
Die Metapsychologie – meta im Sinne von „aus ĂŒbergeordneter Sicht“ – ist Freuds Versuch, den Seinsgrund des Psychischen aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben. Er sprach nun nicht mehr von verschiedenen Bereichen oder Orten des Seelischen, sondern beschrieb den psychischen Apparat als Zusammenwirken von drei Instanzen. Diese nannte er das Es, das Ich und das Über-Ich. Das Modell, das e...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Vorwort
  6. 1. Vorlesung Freuds Erbschaft und die Folgen
  7. 2. Vorlesung Die USA – Anpassung und Aufbruch Ich-Psychologie und die amerikanische Dissidenz
  8. 3. Vorlesung London I – Freud oder Klein? Kontroversen um die Kinderanalyse
  9. 4. Vorlesung London II – Paradigmenwechsel Von der Ein-Personen-Psychologie zur Objektbeziehungstheorie
  10. 5. Vorlesung Frankreich – ZurĂŒck zu Freud Das Unbewusste als Sprache
  11. Anhang
  12. Stichwortverzeichnis
  13. Personenverzeichnis