Psychodynamisches Verstehen in der Sonderpädagogik
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Psychodynamisches Verstehen in der Sonderpädagogik

Wie innere Prozesse Verhalten und Lernen steuern

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Psychodynamisches Verstehen in der Sonderpädagogik

Wie innere Prozesse Verhalten und Lernen steuern

About this book

Der (Sonder-)Pädagogik, die es mit "Beschädigungen" bei Kindern und Jugendlichen zu tun hat, eröffnet die Psychodynamik einen verstehenden pädagogischen Zugang zu deren Erleben, Verhalten und zu ihren Entwicklungsaufgaben. Psychodynamisches Verstehen entdeckt hinter den Beeinträchtigungen der Kinder und Jugendlichen frühe Kränkungen, Verletzungen und untaugliche Interaktionsmuster mit ihren Beziehungspersonen. Von hier aus präsentiert sich der Sonderpädagoge als verlässlicher Dialogpartner für diese Kinder und Jugendlichen und findet zu einer stabilisierten Arbeitsbeziehung mit ihnen. Das Buch präsentiert psychodynamisches Verstehen als eine der Kernkompetenzen der Sonderpädagogen, die sich durch den Zugang zum inneren Erleben der Kinder und Jugendlichen den Weg zu einer entwicklungsförderlichen pädagogischen Praxis bahnen.

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Information

Year
2018
Print ISBN
9783170338289
eBook ISBN
9783170338302
Edition
1

1 Persönlichkeitsstrukturierende Beziehungen in der Kindheit

1.1 Psychodynamische Grundlagen der Subjektgenese

Warum Psychodynamik?

Das Zusammenwirken von emotionalen, sozialen und kognitiven Faktoren wird in der Sonderpädagogik zwar allenthalben betont, in seiner Tiefendimension aber kaum verstanden. Eine entwicklungsfördernde (Sonder-)Pädagogik müsste sich also an der nachdrücklichen Auflösung von Blockaden auf den Ebenen ihrer körperlichen, kognitiven, affektiven und intersubjektiven Manifestation orientieren, so wie moderne psychologische und psychotherapeutische Ansätze es vormachen (vgl. Neumann, Naumann-Lenzen 2017, S. 17). Jede kindliche Entwicklung, einschließlich ihrer besonderen oder vom normativ Gesetzten abweichenden Wege wird vom Zusammenwirken dieser Komponenten in ihren Grundfesten beeinflusst. Das sozio-psycho-biologische Ganze kann nach keiner dieser drei Säulen aufgelöst werden, ohne es damit seiner Komplexität zu berauben und zu falschen Schlussfolgerungen zu gelangen. Unsere vordringliche pädagogische Aufgabe ist es daher, entwicklungsfördernde oder -hemmende Einflüsse vor dem Hintergrund dieser Gemengelage in ihrer je subjektiven Bedeutung zu erfassen, was nur möglich wird, wenn wir auch die Dimension subtiler Vorgänge im Inneren der Persönlichkeit zu berücksichtigen wissen.
Dabei verweisen Verhaltensstörungen auf den verstörenden Referenzrahmen der äußeren Verhältnisse, Lernschwierigkeiten auf eine diffuse Angst vor Neuem, geistige Beeinträchtigungen auf das doppelte Handicap mentaler Einschränkungen und schwerer narzisstischer Kränkungen. Körper- und Sinnesbehinderungen werden schließlich durch die Erfahrung eines beschämenden Ausschlusses aus einer vorschriftsmäßig gewirkten Welt geprägt. Immer geht es um genügende oder fehlende Anerkennung mit weitreichenden Konsequenzen für das gesamte Werden des Subjekts. Vieles an den Prozessen seiner Beschädigung verläuft unbewusst, weil ihre Wahrnehmung zu schmerzhaft wäre und abgewehrt werden muss. Insofern reicht es nicht hin, sich mit Oberflächenphänomenen zu begnügen. Die Forderung etwa, Resilienz oder eine sichere Bindung bei Kindern und Jugendlichen, die evidente Schwierigkeiten aufweisen, zu unterstützen, damit sie sich unter anderem auf die Herausforderungen der schulischen Anforderungen besser einlassen können, steht eher für die alltagstheoretische Verkürzung eines komplexen Sachverhalts. Es sind »goldene Phantasien« (vgl. Opp 2017, S. 84), die das wirkliche Ausmaß der jeweiligen Problemlage kaschieren. Per se garantieren sie solange keine besser gelingende Anpassung, wie auf eine selbstreflexive Annäherung an die Erlebnisverarbeitung des betroffenen Individuums verzichtet wird. Erst wenn wir als verlässliche Dialogpartner/innen diese Kinder und Jugendlichen in einer sich stabilisierenden Arbeitsbeziehung erreichen, werden wir sie zu ermuntern vermögen, sich dem bis dahin befremdlich anmutenden Akt des Lernens und Sich-Entwickelns auszusetzen.
Dazu benötigen wir ein psychodynamisches Grundverständnis, das uns befähigt, die oftmals aufs heftigste widerstreitenden psychischen Kräfte zu erkennen, welche ein gesundes Wachstum der kindlichen Persönlichkeit zum Erlahmen gebracht haben. Vor dem Hintergrund unzureichend erfahrener Empathie bleibt dort eine basale Unfähigkeit zur angemessenen Affektregulierung zurück, die vor allem die Modulierung von Spitzenaffekten wie Wut oder Angst betrifft. Während uns Emotionen aus dem direkten Erleben sehr gut bekannt sind, stehen Affekte für mehr körperbezogene, zumindest am Anfang nicht differenzierte bewusste Regungen (vgl. Mentzos 2009, S. 25). Im Moment des bewussten Erlebens von Emotionen schwingt zugleich die Möglichkeit zur Reflexion der anflutenden Affekte sowie daraus erwachsenden Impulskontrolle mit. Im anderen Fall droht beständig die Gefahr, von mächtigen Erregungszuständen, die nicht im Zaum zu halten sind, überschwemmt zu werden. In diesem seelischen Dilemma offenbaren sich uns die gescheiterten Einigungsversuche mit den primären und späteren Beziehungspersonen und eine hinter abweisendem und aggressivem Verhalten verborgene bedrückende Vulnerabilität.
Setzen wir dagegen nur auf die Aneignung formaler Wissensbestände und äußerlich ankonditionierten Wohlverhaltens, tragen wir womöglich eher zu einer latenten Festschreibung der alten Erfahrungen bei. Denn so verpassen wir den entscheidenden Zugang zur inneren Welt dieser Kinder und Jugendlichen, der sich uns erst öffnet, wenn wir unser Verstricktwerden in deren frühe und untaugliche Interaktionsmuster erkennen. Damit können wir der Gefahr vorbeugen, uns aus eigener Verletzbarkeit zum Agieren von Gegenaggression verleiten zu lassen, was im Sinne einer Retraumatisierung das Misstrauen gegenüber einer bedrohlichen und übelmeinenden Umgebung nur bestätigen würde – mit allen Konsequenzen persistierender Auffälligkeiten. Mit Hilfe des tieferen Verstehens eines unbewusst in Gang gebrachten Beziehungskreislaufs, in welchem sich stets aufs neu tiefe Kränkungen und Versagungen einzustellen drohen, lässt sich dagegen dieser Wiederholungszwang durchbrechen und durch verträgliche und haltende emotionale Erfahrungen ersetzen. Somit erscheinen Frustrationen besser auszuhalten und Entwicklungsblockaden überwindbar. In diesem Sinne gerät Sonderpädagogik zu einer entwicklungsfreundlichen und zukunftsweisenden Praxis mit Ausstrahlung auf die gesamte Erziehungswissenschaft.
Darum also Psychodynamik. In ihrer neueren Lesart veranschaulicht sie, dass und vor allem wie die menschliche Genese als intersubjektiver Prozess zu denken ist. Das Subjekt als Adressat der Enkulturation erscheint dabei als Gelenkter und Lenker zugleich. Zum einen ist es Produkt einer historischen Vergesellschaftung mit ihren normativen Koordinaten, zum anderen vermag es sich kraft seiner Reflexionsfähigkeit, das eigene Dasein kritisch und selbstkritisch auszuleuchten, zur umgebenden Welt in ein gestaltendes Verhältnis zu setzen. Unsere Vorstellungen der frühen Erfahrungen des Subjekts mit seinen Objekten, die wir als »Selbstobjekterfahrungen« bezeichnen können, gehen zunächst von geglückten und entwicklungsförderlichen Eltern-Kind-Interaktionen aus. Umgekehrt aber ist das »Selbstobjektversagen« innerhalb dieser Beziehungsarrangements für die Entstehung psychischer Störungen verantwortlich. Wie lassen sich nun diese Prozesse genauer fassen? Nicht zuletzt ein einschneidender Paradigmenwechsel führte diesbezüglich zu einer Erweiterung unsere Erkenntnismöglichkeiten. Hat sich in der Vergangenheit psychodynamisches Denken mehr mit rein intrapsychischen Vorgängen zwischen triebgesteuerten Wunschphantasien und phantasierten Objekten befasst, so blickt man heute viel stärker auf die »gegenwärtigen psychischen Nachwirkungen realer Interaktionen der Vergangenheit«. Das tatsächliche Verhalten der primären Objekte kann für ein Kind Stress und Belastung bedeuten und über die Verinnerlichung dieser Interaktionsformen im Sinne fortdauernder negativ eingefärbter Erwartungen an die Umwelt zu anhaltenden seelischen Verletzungen führen (vgl. Neumann, Naumann Lenzen 2017, S. 19 f.). Vielfach reichen tragfähige pädagogische Beziehungsangebote aus, implizit zu einem dauerhaften Umbau der inneren Strukturen beizutragen. Zuweilen sind explizite psychotherapeutische Hilfen nötig. Es gibt aber kein Entweder-Oder, selbst im zweiten Fall ist eine gute Pädagogik vonnöten.
Zudem müssen wir uns davor hüten, in einfachen deterministischen Denkfiguren zu verharren, nach dem alten Nenaschen Prinzip Sowas kommt von sowas. Dass dem modernen Selbstverständnis nach jegliche Sozialisationsvorgänge ihre Eindeutigkeit und Kohärenz weitgehend eingebüßt haben, ist Fluch und Segen zugleich. Traditionellen Lebensformen ist keine richtungsweisende Funktion mehr beigegeben, so dass sich das Subjekt im Rahmen der ihm zur Verfügung gestellten Ressourcen seine eigene Lebensgestaltung erarbeiten muss. Da das nicht immer konfliktfrei gelingen will, wird mit der neu gewonnenen Autonomie ein Entwicklungs- und Identitätsrisiko frei Haus mitgeliefert. Allerdings wird ihm mit der sozialen Dekonstruktion der bis dato gleichsam als natürlich und zwangsläufig erachteten Einpassung prinzipiell sein aktiver Status zurückgegeben. Funktionieren oder Nicht-Funktionieren werden aber erst vor dem Hintergrund des gesamtgesellschaftlichen Zusammenspiels der verschiedenen Wirkmächte plausibel, die Ungleichheiten bei den Abrufmöglichkeiten individueller wie gruppentypischer Entwicklungspotentiale produzieren. Gemeinhin ist der sonderpädagogischen Klientel der Zugang zu den allgemeinen, gesellschaftlich hergestellten Ressourcen verwehrt – diese sind gleichsam privatisiert. Insofern sind psychodynamische und gesellschaftskritische Entwürfe, die sich diesen Entfremdungsphänomenen annehmen möchten, aufs engste zu verzahnen (vgl. Keupp 2013, S. 1 ff.; Horn 1981, S. 77 ff.).
Selbstverständlich heißt dies – und aus dieser Selbstverpflichtung speist sich offenkundig der große Widerstand gegen die Psychoanalyse –, dass das psychoanalytische Verfahren der Bewusstmachung »auch gegen die eigene Person gewendet werde, wozu eine konstitutionelle Neigung allerdings nicht besteht« (vgl. Freud 1915e, S. 268).

Das Unbewusste

Die Psychoanalyse untersucht den Einfluss unbewusster Wünsche und Ängste auf das bewusste Erleben und Handeln eines Menschen. Freud verstand sie in dreifacher Weise: 1. als ein Verfahren zur Untersuchung seelischer Vorgänge, die sonst kaum zugänglich sind, 2. als eine Behandlungsmethode neurotischer Störungen und 3. als auf diesem Wege gewonnene psychologische Einsichten, aus denen allmählich eine wissenschaftliche Disziplin zusammenwächst (vgl. Freud 1923a, S. 211). Leber ergänzt, dass Freud in seinem Geleitwort zu Aichhorns »Verwahrloster Jugend« psychoanalytisches Vorgehen als Nacherziehung bezeichnet, was sie als einen Spezialfall von Erziehung ausweist (vgl. Leber 1985, S. 152; Freud 1977 <1925>).
Der Psychoanalyse geht es um mehr als die Aufarbeitung unbewältigter Kindheitserlebnisse. Sie ergründet die unbewusste Wirkung lebensgeschichtlicher Erfahrungen auch mit Blick auf die Zukunftsgestaltung. Da sich in der Beziehung zum Analytiker unbewusste Beziehungsarrangements wiederholen, besteht die Möglichkeit, der Bedeutung der anhaltenden Wirksamkeit dieser Lebenserfahrungen nachzuspüren. Die bislang unzugänglichen Ursachen der manifesten Symptomatik können auf diesem Wege aufgedeckt und bearbeitet werden. Die Nachhaltigkeit dieses Prozesses führt zu einer Veränderung der Symptomatik und damit zu einer Nachentwicklung des Selbstwertgefühls sowie der Verbesserung der bislang belasteten Beziehung zu nahe stehenden Menschen.
Vor allem heutzutage, da allein noch evidenzbasierte empirische Gewissheiten als Kriterien von Wissenschaftlichkeit zu gelten scheinen (vgl. Koch 2016, S. 12 ff.), hat es die Psychoanalyse als eine Disziplin, die dezidiert der Eindimensionalität des unmittelbar Beobachtbaren nicht traut, besonders schwer. Wie will sie denn die Existenz des Unbewussten beweisen, das qua definitionem für das Bewusstsein gar nicht existiert? Folglich muss sie sich mit klinischen Indikatoren begnügen und das Unbewusste allein als notwendige, aber legitime Hypothese betrachten (vgl. Valon 2015, S. 387 f.). Damit also zur klinischen Arbeit. Dort, d. h. also in der psychoanalytischen Therapie, ist es das Ziel, dem Patienten dauerhaft zu ermöglichen, unbewusste Konflikte und Phantasien zu erkennen und bewusst zu erleben, so dass sich deren determinierende Wirkung auf sein Fühlen, Denken und Handeln verändern lässt. Die früh erlittene Traumatisierung wird in der Beziehung zum Analytiker reaktiviert, was sogleich einen heftigen Widerstand auslösen mag, den Schrecken nicht erneut durchleben zu müssen. Deshalb wird die Traumageschichte zunächst in einer agierten, dem Bewusstsein unzugänglichen Darstellung präsentiert. Der Analytiker fühlt sich dabei von unerträglichen Affekten und diffusen Wahrnehmungen überflutet und ähnlich hilflos und ohnmächtig gemacht, so wie sein Patient es einst erlebte. Wenn er dies erkennt und versteht, vermag er zur Durcharbeitung im Rahmen einer emotional haltenden therapeutischen Beziehung, die nicht retraumatisierend, sondern befreiend wirkt, beitragen (vgl. Leuzinger-Bohleber, Weiß 2014, S. 16 ff.).
Die unbewusst gehaltene Erinnerung an konflikhaft Erlebtes wirkt als implizites Wissen im Hintergrund und kann, wenn eine reale oder vermeintliche Gefahr droht, die alten Reaktionsmuster aktivieren, ohne dass der wahre Grund dafür deutlich würde. Ladan nennt diese Muster das »Selbstschweigende« (vgl. Ladan 2003, S. 18). Fühlt sich jemand beständig im Beisein anderer unsicher, wird er sich nicht mehr erinnern, wie er als Kind immerfort ignoriert wurde. Stattdessen haben sich diese Erfahrungen zu seiner impliziten Überzeugung zusammengefügt, er sei nichts wert. Deshalb vermittelt er anderen laufend die Botschaft, dass er sich selbst nicht ernst nimmt und dass man seinen Gefühlen keine Beachtung schenken muss.
Ein durch übergroßen Konfliktdruck hervorgerufenes psychisches Leiden kommt in Form einer Symptombildung zur Darstellung. Neurotische und psychosomatische Symptome stellen den Lösungsversuch einer unbewussten Konfliktdynamik, eine Kompromissbildung zwischen dem unbewussten Impuls einschließlich der dazugehörenden Vorstellungen und Affekte und der Abwehr dieses Impulses dar. Im intersubjektiven Zugang wird mit dem Symptom etwas mitgeteilt, das bewusst nicht verfügbar ist (vgl. Stemmer-Lück 2009, S. 47). Die bahnbrechende Bedeutung der Psychoanalyse besteht darin, dieses dysfunktionale Ausdrucksmoment nicht allein deskriptiv, sondern sinnverstehend in seiner genetischen und dynamischen Dimension erfassen zu wollen. Denn hinter dem Symptom steht eine unbewusste Motivation. Es wird definiert als
• Kompromiss zwischen Triebimpuls und hemmender Abwehr
• direkte Triebentladung (z. B. bei einer impulsiven Handlung) oder
• eine Abwehr (z. B. Händewaschen des Zwangsneurotikers).
Der Mensch ist eben ein Konfliktwesen und sozusagen bipolar aufgebaut, d. h. er wird von gegensätzlichen Tendenzen bewegt (vgl. Mentzos 2009, S. 20 ff.). Die Konflikte wurzeln in seinen Trieben, Wünschen und Bedürfnissen einerseits und deren (Nicht-)Befriedigung durch das Gegenüber andererseits. Allerdings sei betont, dass nicht dem biologischen Trieb, sondern der Einbettung der Triebschicksale in eine bestimmte Beziehungskonstellation der Hauptanteil an der Symptombildung zukommt. Beziehungserfahrungen interagieren stets mit Reifungsaspekten und sind zudem in einen gesellschaftlichen Rahmen eingebunden (vgl. Stemmer-Lück 2009, S. 33).
Ein Beispiel mag erläutern, wie unbewusste Phantasien und Konflikte zur Produktion psychopathologischer Symptome führen: Eine 24jährige Patientin wird seit einem völligen seelischen Zusammenbruch von schweren Depressionen gequält. Sie hat ihr Studium abgebrochen, ist zu ihrer Mutter zurückgekehrt und verbringt den Tag meist zurückgezogen im Bett ihres verdunkelten Zimmers. Sie ist häufig krank und leidet unter schweren Schlafstörungen, Versagensängsten und Suizidgedanken. Zudem ist sie stark übergewichtig.
Als Achtjährige fand sie ihren Vater nach einem Herzinfarkt tot im Keller. Die Mutter reagierte mit einer Psychose auf dieses Ereignis, und die Leiche des Vaters wurde einfach im Leichenhaus vergessen. Erst auf eine Intervention der Behörde hin wurde er bestattet. Die beiden Töchter nahmen nicht am Begräbnis teil, und die Mutter weigert sich bis zum heutigen Tag, den Tod ihres Mannes anzuerkennen und macht sich und anderen vor, er sei auf einer Dienstreise.
Im ersten Jahr nach dem Tod nahm die Patientin 40 Kilogramm zu, sie und ihre ältere Schwester sorgten für die Mutter und gingen zur Schule, als sei nichts geschehen. Aus Angst, in ein Kinderheim zu kommen, hielten sie die häusliche Situation geheim. Die Patientin lebte in einem dissoziativen Zustand und hatte kein Gefühl für ihr eigenes Selbst. Erst mit fast 20 Jahren besuchte sie zum ersten Mal das Grab und wurde dabei von Schmerz und Verzweiflung überwältigt.
Später zog sie in eine Wohngemeinschaft und nahm eine äußerst enge Beziehung zu einem Studenten auf. Als dieser sie abrupt verließ und sie zudem finanziell übervorteilte, kam es zu besagtem depressiven Zusammenbruch. In der Behandlung wurde deutlich, dass sie unbewusst in der Beziehung zu dem Studenten den verlorenen Vater gesucht hatte und daher zu ihm eine existentielle Nähe herstellte, was diesem offensichtlich zu viel wurde. Sein Rückzug wurde von ihr unbewusst wie der traumatische Verlust des Vaters erlebt, was sie nicht zu verkraften wusste.
Sie ahnte jedoch, dass sie sich den erlittenen Traumatisierungen annähern musste, um deren Auswirkungen auf ihre Gefühle zu verstehen. Deshalb begab sie sich in eine psychoanalytische Behandlung. Das allmähliche Erkennen ihrer unbewussten Verwechslungen wie der Reaktivierung ihres Traumas in der Beziehung zum Analytiker befreite die Patientin schließlich von den »Schatten der Vergangenheit« (vgl. Leuzinger-Bohleber, Weiß 2014, S. 25 f.).
Das Unbewusste ist also das Alleinstellungsmerkmal der Psychoanalyse. Dorthin werden jene Anteile der Persönlichkeit verbannt, die in der jeweiligen Kultur verboten und tabuisiert sind. Den verdrängten Inhalten ist der Zugang zum Bewussten verwehrt und sie können erst nach der Überwindung von Widerständen zugänglich werden. Das psychische Geschehen ist demnach erfüllt von wirksamen, aber unbewussten Gedanken, auch die Entstehung von Symptomen findet dort ihren Ursprung. Das Unbewusste ist allerdings nicht wie ein zweites Bewusstsein aufgebaut, so dass es sich verbietet, vom Unterbewusstsein zu sprechen. Vielme...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. 1 Persönlichkeitsstrukturierende Beziehungen in der Kindheit
  6. 2 Persönlichkeitsstrukturierende Beziehungen in der Adoleszenz
  7. 3 Psychodynamik und sonderpädagogische Praxis
  8. 4 Literatur