Jesus vor dem Dogma
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Jesus vor dem Dogma

Zur inneren Überzeugungskraft der Worte Jesu

  1. 240 pages
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Jesus vor dem Dogma

Zur inneren Überzeugungskraft der Worte Jesu

About this book

Der irdische Jesus hat keine Christologie gelehrt. Im Mittelpunkt seiner Verkündigung standen allein Gott und seine Initiative zum Heil für ein verlorenes Israel. Mit seinem Wort und in seinem Verhalten hat Jesus den Zugang zur Vergebung durch Gott eröffnet, zum Gehorsam unter Gottes Willen aufgerufen und das kommende "Reich Gottes" zugesagt. Die spätere christologische Traditionsbildung ist nicht von ihm vorgegeben, sondern sie ist Antwort auf die Verkündigung Jesu. Die Christologie dient der Lebensbotschaft Jesu und soll deren ewige Gültigkeit sichern. Darum muss auch heute gelten: Zuerst die Botschaft Jesu, danach die Dogmatik.

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Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2014
Print ISBN
9783170242913
eBook ISBN
9783170242937
Edition
1
Subtopic
Theology

1.         Alternative: Jesus ohne Dogma

 
Der kirchliche Glaube schwindet mehr und mehr und mit ihm die Akzeptanz seines Christusbildes. Dennoch übt Jesus von Nazareth nach wie vor eine mächtige Faszination aus, auch auf Menschen, die sich von den Kirchen entfernt haben. Sein Leben und seine Botschaft stoßen auf Sympathie, zumindest Interesse. Historisch gesicherte Aussagen über ihn sind gefragt. Doch wir wissen über Jesus und seine Botschaft im Wesentlichen nur durch Texte, die vom christlichen Glauben geprägt wurden.
Wenn nun unser Wissen über Jesus historisches Wissen sein soll, darf es aber nicht vom Glauben abhängig sein. Es muss sich dem kritischen Urteil verdanken und kann die Annahme eines Christusdogmas nicht voraussetzen. Weil viele Menschen nicht mehr vom Glauben herkommen, ist heute deshalb eine historische Vermittlung der Lebensbotschaft Jesu notwendig. Einen solchen Zugang kann die historisch-kritische Exegese leisten. Sie ist der wissenschaftliche Versuch, von Jesus im Modus der Historie zu erzählen, und eröffnet so die Möglichkeit – wenn auch nur ausschnitthaft und in analoger Weise –, in die Position der Hörer des irdischen Jesus zu wechseln und seine Botschaft zu hören, ihren Wahrheitsanspruch zu prüfen und durch Annahme oder Ablehnung Stellung zu ihr zu beziehen. Wahrheitskriterium ist dabei die Botschaft selbst.
Auf eine missionarische Pastoral bezogen kann das heißen: Not tut heute eine Vermittlung der Botschaft Jesu, die nicht vom Christusglauben herkommt, sondern zu ihm hinführt. Um an Christus zu glauben, muss zuerst der Botschaft Jesu geglaubt werden, wie sie historische Rückfrage hinter dem Kerygma der Urgemeinde rekonstruieren kann. Muss sie nicht aus sich und notwendigerweise Gegenstand von Theologie und Verkündigung sein? Oder ist sie nicht aus sich selbst, sondern nur darum bedeutsam, weil sie in das nachösterliche Kerygma aufgenommen und damit zur Botschaft des geglaubten Christus wurde? Verpflichtende Wahrheit zu sein wäre ihr dann wie ein Etikett aufgedrückt worden, als Jesus von Gott zum Christus erhöht und bestätigt wurde. Ihr Wahrheitsanspruch ergäbe sich nicht aus dem geschichtlichen Wort Jesu, so dass jeder, der dieses Wort hört, vor seinen Anspruch gestellt wird, sondern aus der „höheren“ Wahrheit, dass Jesus der „Sohn Gottes“ ist. Während das geschichtliche Wort Jesu der historischen Frage zugänglich bleibt, ist die Erkenntnis der höheren Wahrheit, dass Jesus der „Sohn Gottes“ ist, nur dem Glauben erschwinglich.
Kirche und Theologie stehen heute in der Situation, die Botschaft Jesu in einer Gesellschaft zu verkündigen, die nicht vom Glauben an Jesus Christus geprägt ist. Die Kirche gerät mehr und mehr in die Situation, wie die Urgemeinde die Botschaft Jesu einer nicht glaubenden Umwelt zu verkündigen, zum Glauben an Jesus Christus aufzurufen. Würde die Botschaft Jesu ihre Wahrheit nicht in sich selbst tragen, sondern könnte diese nur dem aufgehen, der den Glauben an Jesus Christus zuvor vollzogen hat, wie sollte dann Jesu Botschaft in dieser Umwelt überhaupt zur Geltung gebracht werden? Wenn sie jedoch ihre Überzeugungskraft in sich selbst trägt, den Hörer also unmittelbar in die Entscheidung stellt, dann kann ihre Weiterverkündigung selbst den Christusglauben wecken und herausfordern.
Wie haben Jesus selbst und die Urgemeinde den Wahrheitsanspruch ihrer Verkündigung begründet? Jesus hat die gnädige Vergebungsbereitschaft Gottes und sein nahes „Reich“ verkündet und die Bedingungen und Forderungen genannt, um dessen teilhaftig zu werden. Wie hat er seine Botschaft begründet? Er hat prophetisch gesprochen, aber nicht als Prophet. Eine Bezugnahme auf eine Berufungsvision oder eine Botenformel suchen wir bei ihm vergebens. Einzig Lk 10,18: „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ könnte auf eine Begründung von außen hinweisen. Jesus hat auch nicht mit der Tora argumentiert, schon gar nicht mit dem Anspruch, der Messias oder „Sohn Gottes“ zu sein. Er hat seine Botschaft offenbar überhaupt nicht von einer Instanz außerhalb ihrer selbst legitimiert. War er mithin der Meinung, dass seine Botschaft ihre Wahrheit in sich selbst trägt, eindeutig und überzeugend ist und darum letzte Autorität beanspruchen kann? Dies trifft für seine weisheitlichen Forderungen auf jeden Fall zu, aber auch für seine eschatologische Botschaft. In Lk 11,20 verweist Jesus auf sein exorzistischen Wirken als Evidenzerweis seiner Botschaft von der basileia. Wenn jetzt die Dämonen „durch den Finger Gottes“ ausgetrieben werden, dann ist Gottes „Reich“ zumindest punktuell schon erschienen. Es gilt nach Jesus, die „Zeichen der Zeit“ zu beachten und aus ihnen Schlüsse zu ziehen. Und in seinen Gleichnissen erweist sich Jesus als ein Meister der Überredungskunst, der seine Hörer von der inneren Wahrheit seiner Geschichten überzeugen will. Das kann nur bedeuten, dass für Jesus seine Botschaft aus sich sprach und keiner Autorität von außen bedurfte. Die Hörer blieben ganz auf seine Botschaft verwiesen, deren Wahrheit sie annehmen oder ablehnen konnten. Dass sie damit auch Stellung zum Träger dieser Botschaft nahmen, ihm Recht gaben oder ihn ablehnten, ist klar. Doch war diese Haltung der Hörer zu Jesus eine Folge ihrer Haltung zu seiner Botschaft. Nirgends forderte Jesus von seinen Hörern zuerst einen Glauben an seine Person, nirgends setzte er bei ihnen ein Bekenntnis zu ihr voraus, das nicht eine Funktion der Anerkennung seiner Botschaft gewesen wäre.
In der nachösterlichen Verkündigung der Urgemeinde trat zur Botschaft Jesu, die die Jünger weiterverkündeten, der Osterglaube hinzu. Er ist die Keimzelle der direkten Christologie, die Jesus als den Christus und Gottessohn bekennt. Wird jetzt der Glaube an Jesus Christus das Erste und die Annahme seiner Botschaft das Zweite? Erhält Jesu Botschaft durch das Osterereignis eine neue Qualität?
Das genau ist die Frage! War die Urgemeinde wirklich der Meinung, die geschichtliche Botschaft Jesu habe durch das Ostergeschehen eine neue Qualität erhalten, die sie vorher nicht hatte? Oder bestätigte dieses nur von Gott her Jesu Botschaft und ihren Wahrheitsanspruch? Freilich scheint es so, dass die Jünger Jesu Botschaft nach Ostern weiterverkündeten, weil Gott Jesus von den Toten auferweckt und in den Himmel erhöht hatte. Dennoch hat Jesu Botschaft in ihren Augen dadurch offenbar keine neue Qualität erhalten. Sie bleibt Jesu Botschaft, allerdings nicht nur des geschichtlich vergangenen, sondern auch des lebendigen und in den Himmel erhöhten Jesus. Er selbst spricht weiter, nun durch den Mund seiner Boten. Ostern garantiert somit die Weiterverkündigung der alten Botschaft Jesu. Es ist eben nicht so, dass im Denken der ersten Jesusboten Wahrheit und Anspruch der Botschaft sich durch Ostern qualitativ verändert hätten. Darum wird von den Hörern auch eine Stellungnahme zu Jesus gefordert (Lk 12,8f), der der irdische und himmlische Jesus zugleich ist. Die nachösterlichen Jesusboten führen also die Botschaft des irdischen Jesus weiter, freilich im Licht ihres neuen Glaubens, und sie beanspruchen, diese Botschaft weiterzuverkünden und pochen auf deren Wahrheit. Durch sie sind auch wir bleibend auf den irdischen Jesus und seine Botschaft verwiesen. Über ihre Wahrheit, die sie in sich trägt, müssen wir nachdenken.
In der Folgezeit setzte ein intensives Nachdenken über Jesus im Licht des Osterglaubens ein. Der Auferweckte und Erhöhte wurde nun Messias/Christos, Menschensohn, Sohn Gottes, Kyrios und Logos genannt. Immer aber war der irdische Jesus in diese Christologie einbezogen: Auch in seinem irdischen Wirken war Jesus der Messias/Christos, Menschensohn, Sohn Gottes, Kyrios und Logos. Der Messias/Christos ist „für uns gestorben“, der Menschensohn war verborgen auf Erden tätig, der Sohn Gottes wirkte Gottes Werke auf Erden, der Kyrios wurde im Irdischen von den himmlischen Mächten erkannt, der „Logos ist Fleisch geworden“. Die Gemeinde, die so spricht, will vom irdischen Jesus sprechen, von seinem Wirken und seiner Botschaft. Die Wahrheit der Botschaft Jesu hängt also für die nachösterliche Reflexion nicht nur von einer nachträglichen göttlichen Bestätigung ab, sondern ruht im geschichtlichen Wirken und der Botschaft Jesu selbst.
Diesen Gedanken vollziehen die Evangelisten bei ihrem Nachdenken über Jesus dann ausdrücklich. Sie wollen die Geschichte des irdischen Jesus erzählen. Freilich sehen sie dabei von ihrem Glauben nicht ab. Aber sie erzählen die Geschichte Jesu nicht so, dass darin nur der Glaube selbst seinen Ausdruck fände. Die erzählte Geschichte des irdischen Jesus geht vielmehr dem Glauben voraus. Sie fordert die Entscheidung des Glaubens oder des Unglaubens heraus. Autorität und Wahrheit tragen Person und Botschaft des irdischen Jesus somit auch nach den Evangelisten in sich selbst. Nicht erst der Glaube macht Jesu Wirken und Reden bedeutungsvoll, sie sind es in sich, und der Glaube bleibt Antwort. Auch der Unglaube entscheidet sich an der Botschaft des irdischen Jesus, indem er mit dem Anspruch seiner Botschaft konfrontiert wird und sie ablehnt. Verstockung und „Hartherzigkeit“ beziehen sich nach den Evangelisten auf die Botschaft des irdischen Jesus. Trotz ihrer „gläubigen“ Darstellungsweise wollen also die Evangelisten ihre Leser vor den irdischen Jesus stellen. Sie sind überzeugt, dass die Wahrheit seiner Botschaft aus sich selbst überzeugend und unabweisbar ist. Nicht weil Jesus der „Sohn Gottes“ ist, ist sie wahr, sondern weil sie die Wahrheit ist, bekennt der Glaube Jesus als den Messias und „Sohn Gottes“.
Aus all dem ergibt sich: Christliche Glaubensreflexion ist offenbar ihrem Wesen nach bleibend auf den irdischen Jesus und seine Botschaft zurückverwiesen. Der zwingende Grund dafür ist das Wirken und die Botschaft des irdischen Jesus selbst.
Ist die historische Rückfrage nach Jesus und seiner Botschaft im Rahmen von Theologie und kirchlicher Praxis notwendig? Bisher haben wir gesehen, dass die Rückfrage nach dem irdischen Jesus in der Urgemeinde und in den Evangelien immer erfolgt ist. Aber diese Rückfrage war nicht historisch im Sinn unseres neuzeitlichen Begriffs von historischer Wissenschaft. Sie erfolgte stets im Licht des Glaubens. Doch gilt es zu bedenken: Zumindest die ersten nachösterlichen Zeugen konnten sich unmittelbar auf den irdischen Jesus berufen, den sie gekannt und gehört hatten und dem sie persönlich nachgefolgt waren. Ihre Weiterverkündigung der Botschaft des irdischen Jesus im Licht des Osterglaubens musste den Hörern als authentisches Zeugnis gelten. Die erste nachösterliche Verkündigung hatte eine historische Rückfrage nach Jesus im neuzeitlichen Sinn gar nicht nötig, weil die Jesusboten der ersten Zeit unmittelbare Zeugen des irdischen Jesus waren. Auch die Evangelisten griffen auf solche Zeugnisse zurück, die ihnen als authentische und unmittelbare Zeugnisse über den irdischen Jesus galten.
Unser Nachdenken über Jesus ist jedoch nicht vom unmittelbaren Eindruck des Wirkens und der Botschaft des irdischen Jesus geprägt, wie noch bei den ersten Jesusboten. Die Neuzeit hat uns aber ein neues historisches Bewusstsein und reflektierte Methoden historischer Rückfrage erbracht, die beide genutzt werden müssen. Auch die Evangelisten haben „historisch“ nach dem irdischen Jesus und seiner Botschaft gefragt, allerdings mit den Mitteln der antiken Geschichtsschreibung. Wir würden ihrem Verständnis untreu, wollten wir die historische Rückfrage nach Jesus als unerheblich abtun. Sie haben mit ihren Mitteln streng daran festgehalten, dass der irdische Jesus und seine Botschaft dem Glauben vorgeordnet sind. Dieser Grundsatz scheint wesentlich für ihre Theologie zu sein und darf nicht aufgehoben werden. Wenn er noch heute gültig ist, dann ist die historisch-kritische Rückfrage nach der Botschaft Jesu und seinem Verhalten notwendig. Wenn die Lebensbotschaft des irdischen Jesus ihre Wahrheit in sich selbst trug, dann kann ihre historische Rekonstruktion auch den heutigen Menschen vor die Entscheidung stellen, diese Wahrheit anzuerkennen oder abzulehnen. In diesem Sinn ist historisches Nachdenken über Jesus heute nicht nur eine nützliche, aber zusätzliche Übung, sondern kann der erste Schritt hin zum Glauben sein.
Historisch-kritisches Nachdenken über Jesus bietet die Chance, heute neu der überzeugenden und glaubwürdigen Wahrheit der Botschaft Jesu zu begegnen, die nicht abhängig ist von einer höheren „ewigen Wahrheit“. Allerdings dürfen wir uns nicht verschweigen, dass auch historisch-kritische Rückfrage nicht voraussetzungslos und schon gar nicht neutral ist. Wie bereits die unmittelbaren Hörer Jesu seine Botschaft in unterschiedlicher, durch ihre persönliche Geschichte beeinflusster Betroffenheit gehört und beurteilt haben, so wird auch heute die Wahrnehmung und das Urteil zuerst des historisch-kritischen Forschers und dann ebenso des modernen Hörers von vielen Faktoren beeinflusst. Recht und Aufgabe des kirchlich gebundenen historischen Forschers ist zweifellos in besonderer Weise die sympathisierende Darstellung der Lebensbotschaft Jesu. Doch ist solche Darstellung keine Beeinflussung des Hörers. Zwar will sie um Zustimmung werben; doch das hat Jesus selbst auch getan. Trotz einer sympathisierenden Darstellung bleibt die freie Entscheidung der Botschaft Jesu und ihrem Wahrheitsanspruch gegenüber in Glaube und Unglaube möglich.
Das historisch-kritische Nachdenken über Jesus ist aber noch aus einem anderen Grund notwendig. Dieser ist die Kehrseite der durch die historisch-kritische Rückfrage ermöglichten, reflektierten Unmittelbarkeit zu Jesus. Unser neuzeitliches historisches Bewusstsein hat uns die Evangelienerzählungen als unmittelbaren Zugang zum irdischen Jesus und zu seiner Botschaft entzogen. Wenn das Nachdenken über den irdischen Jesus und seine Botschaft aber notwendig ist für den Glaubensvollzug, wenn diese auch für uns der Grund des Glaubens sind, dann muss unser Nachdenken über Jesus hinter die Evangelien kritisch zurückfragen. Es muss sogar noch hinter die früheste nachösterliche Verkündigung der Boten Jesu zurückfragen, obwohl die Botschaft des irdischen Jesus in diese Verkündigung eingegangen und einzig aus ihr kritisch zu erheben ist. Unser historisches Bewusstsein und Gewissen zwingen dazu, nicht der Verdacht möglicher „Verfälschung“ durch die nachösterlichen Boten. Es zwingt dazu auch das theologische Gewissen, weil auch unser Glaube Antwort auf den irdischen Jesus und seine Botschaft sein muss. Seine Botschaft muss der Mittelpunkt der christlichen Verkündigung bleiben. An ihr müssen sich Glaube oder Unglaube frei entscheiden können.
Da wir die historische Kritik an den Evangelien nicht von vornherein im Glauben überspringen dürfen, da wir auch der historischen Wahrheit verpflichtet sind, da Glaube die historische Kritikfähigkeit unseres Verstandes und unser neuzeitlich geprägtes historisches Bewusstsein nicht einfach aufheben und ersetzen kann, können wir die „Erzählung“ der Evangelien nicht mehr mit der uns vorgegebenen Geschichte der Person und Botschaft des irdischen Jesus gleichsetzen. Darum muss nicht nur das historische, sondern auch das theologische Bemühen darauf gerichtet sein, durch ein neues historisches Nachdenken die aus sich selbst überzeugende und glaubwürdige Wahrheit der Botschaft des irdischen Jesus nachzusprechen. Wenn wir wirklich überzeugt sind, dass die Botschaft Jesu wahr ist, dann müssen wir diese Botschaft und ihre Wahrheit auch in historischer Rekonstruktion zur Geltung bringen, dies insbesondere im Blick auf solche Menschen, die noch nicht zur Glaubensantwort gefunden haben. Denen aber, die zur bewussten Glaubensantwort schon gefunden haben, muss die Lebensbotschaft des irdischen Jesus immer wieder vorgestellt werden als die Wahrheit, auf die der Glaube reflektierend antwortet. Die Evangelien erhalten dann einen neuen Stellenwert als Zeugnisse solch gelungener Erinnerung der Botschaft des irdischen Jesus.
In diesem Sinn muss Theologie und Verkündigung historisch nach Jesus und seiner Botschaft zurückfragen. Es geht dabei um die historische Darstellung der Botschaft Jesu und um den Nachvollzug des in ihr selbst enthaltenen Wahrheits- und Sinnanspruchs. Ich wiederhole meine Feststellung: Not tut eine christliche Verkündigung der Lebensbotschaft Jesu, die nicht vom Dogma des Christusglaubens herkommt, sondern zu ihm hinführt. Nur die historische Darlegung der Botschaft und des Wirkens Jesu und der Aufweis ihrer inneren Sinnhaftigkeit, überzeugenden Geschlossenheit und glaubwürdigen Konsequenz auf der Basis der historischen Kritik kann diese Forderung erfüllen.

2. Ausgangspunkt: Jesu Urteil über die Menschenwelt

Jesu wunderbares Kraftgefühl

Es gibt ein Jesuswort, das von den meisten Exegeten für authentisch gehalten wird. Es wirkt wie ein Fanfarenstoß und bringt ohne Zweifel die Anschauung und den Impuls zum Ausdruck, die das Wirken Jesu prägten. Darum wählen auch wir es als Ausgangspunkt.
Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen. (Lk 10,18)
Es kann offen bleiben, ob sich Jesus hier lediglich einer bildhaften Ausdrucksweise bedient oder von einem Visionserlebnis Kunde gibt. In jedem Fall bringt das Wort die Anschauung zum Ausdruck, dass Satan jetzt entmachtet ist. Seiner Herrschaft wurde das Rückgrat gebrochen. Das Wort spricht wohl von einem Entscheidungskampf im Himmel zwischen Gott und Satan, oder zwischen Michael, dem Fürsten des Lichts, und Belial, dem Fürsten der Finsternis. Zumindest drückt es aus, dass Satan seine Rolle als Ankläger Israels vor Gott endgültig verloren hat (vgl. Hiob 1,6-12; 2,1-6; Sach 3,1; Ps 109,6; äthHen 40,7; Jub 1,20; 48,15.18). Jesus steht hier in der Tradition der Apokalyptik, in der die Menschheitsgeschichte einschließlich der Geschichte Israels als ein einziger Abfall von Gottes Willen angesehen wurde. Die von den Menschen zu verantwortende Geschichte war zutiefst durch das Böse, durch Satan und die Seinen geprägt. Aus solch pessimistischer Beurteilung entstehen Vorstellungen, dem unaufhaltsam näher rückenden Vernichtungsgericht Gottes über die Geschichte gehe ein gewaltiger Kampf der satanischen Mächte und der von ihnen beherrschten Menschen gegen die himmlischen Heere Gottes und ihre menschlichen Verbündeten voraus. In diesem Kampf wird Satan endgültig besiegt und gebunden. Danach wird Gott sein „Reich“ für das von allen Sündern und Ungerechten gereinigte Israel aufrichten. Kennzeichen des „Reiches Gottes“ wird sein, dass es dann keinen Satan mehr geben wird (AssMos 10,1.7-10; TestDan 5,10-13; Jub 23,29; 1QM passim; vgl. Offb 12,7-10).
Im Horizont dieses Wortes ist Jesu Tätigkeit als Exorzist zu sehen. Den im Himmel entschiedenen Kampf gegen Satan setzt Jesus auf Erden fort. Hier ist der Kampfplatz, auf dem der „heilige Krieg“ gegen Satans Gefolgsch...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Die besprochene Jesusüberlieferung
  6. Vorwort
  7. 1. Alternative: Jesus ohne Dogma
  8. 2. Ausgangspunkt: Jesu Urteil über die Menschenwelt
  9. 3. Der Grund für Jesu Urteil: Gottes Heiligkeit
  10. 4 Neuanfang: Gottes Vergebungsbereitschaft
  11. 5. Konsequenzen: Selbst vergeben
  12. 6. Neue Chance: Gottes überraschende Güte
  13. 7. Das große Fest: Die Heimkehr des Verlorenen
  14. 8. Gottes Verhalten: Wiederfinden macht Freude
  15. 9. Krisenbewältigung: Entschlossenheit und Torheit
  16. 10. Die Zukunft: Gottes Reich
  17. 11. Das Tun entscheidet: Grundsätzliches zur Ethik Jesu
  18. 12. Die große Umkehrung: Arm und Reich
  19. 13. Gebot: Liebe deinen Nächsten
  20. 14. Aggressionsspirale: Überwindung von Bosheit und Gegnerschaft
  21. 15. Konsequenzen: Vertrauen in Gott als Vater
  22. Nachwort
  23. Literaturverzeichnis
  24. Register