1. Vorlesung
In der Fremde ankommen â Integration und âKulturelle Adoleszenzâ
Einleitung
Als ich nach Abschluss meiner psychiatrisch-psychotherapeutischen und psychoanalytischen Ausbildung das westliche Schulenwissen in unserem Fach sattsam studiert hatte, ging ich, aus dem GefĂŒhl einer ErnĂŒchterung heraus, fĂŒr einen Perspektivenwechsel einige Monate zu Feldforschungen nach SĂŒdost-Afrika. Ich wollte erfahren, wie traditionelle Heiler ihre psychisch kranken Patienten behandelten und mir einen Erfahrungsraum jenseits westlicher Behandlungsmethoden erschlieĂen. In Malawi diente ich mich MedizinmĂ€nnern bei ihrer Behandlung psychisch Kranker als Zauberlehrling an. Ich lernte ihre Heilrituale kennen und ihre Heilerfolge schĂ€tzen. Es waren die Heilerpersönlichkeiten und ihre Heilkunst, die mich faszinierten. Als ich nach Deutschland zurĂŒcckehrte, hatte sich mein Blick auf unser Fach verĂ€ndert. Ich hatte eine ethnographische Distanz gewonnen, die mich das westliche theoretische und Erfahrungswissen kulturell relativieren lieĂen. Mit Brecht konnte ich jetzt sagen: âEs geht auch anders, aber so geht es auch.â Ich hatte meinen Blick fĂŒr die Vielfalt kultureller Ausdrucksmuster und Behandlungsformen geschĂ€rft. Die ethnozentrische SelbstverstĂ€ndlichkeit meines psychiatrischen Handelns in Diagnostik und Therapie war verloren gegangen. Es erschien mir nach meinen Erfahrungen in Malawi eher als ein glĂŒcklicher Umstand, dass sich das seelische Erleben in seiner kulturellen Vielfalt und seinen Grenzbereichen nur in seinen Zuspitzungen z. B. nur recht oberflĂ€chlich klassifikatorisch erfassen lĂ€sst. Tobie Nathan sagte dazu, die kulturelle psychopathologische RealitĂ€t entziehe sich immer der Beharrlichkeit der Klassifikatoren1. Der ICD-10 (1991)2 und das DSM-IV (1996)3 seien deshalb auch ein Ergebnis dieses Scheiterns, weil es den strukturell klassifikatorischen Ansatz durch einen Konsens der Kollegen unserer Disziplin ersetzt. Konsense unterliegen dem aktuellen und insbesondere kulturell geprĂ€gten Erfahrungswissen und dem Zeitgeist. Bei der BeschĂ€ftigung mit der psychischen Gesundheit im Kulturvergleich setzte ich mein professionelles Denken nicht ohne Folgen dem Risiko aus, neue Wesenheiten zu entdecken und alte Konsense in Frage zu stellen. Diesem Risiko setzen sich auch die Leserinnen und Leser dieses kleinen Buches aus. Davor soll an dieser Stelle gewarnt werden.
WeltbĂŒrgertum
Immanuel Kant hat vor dem historischen Hintergrund der Französischen Revolution zur Wirtbarkeit in der Fremde in seinem dritten Definitivartikel âZum ewigen Friedenâ, erschienen 1795 in Königsberg bei Friedrich Nikolovius, das Folgende geschrieben: âDas WeltbĂŒrgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen HospitalitĂ€t eingeschrĂ€nkt sein. Es ist hier wie in den vorigen Artikeln, nicht von Philanthropie, sondern von Recht die Rede, und da bedeutet HospitalitĂ€t (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seine Ankunft auf dem Boden eines anderen wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann; solange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhĂ€lt, ihm nicht feindlich begegnen. Es ist kein Gastrecht, worauf dieser Anspruch machen kann (wozu ein besonderer wohltĂ€tiger Vertrag erfordert werden wĂŒrde, ihn auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen zu machen) sondern ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der OberflĂ€che der Erde, auf der, als KugelflĂ€che, sie sich nicht ins unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch nebeneinander dulden mĂŒssen, ursprĂŒnglich aber niemand an einem Ort der Erde zu sein mehr Recht hat als der Andereâ4. Diese Gedanken Kants kommentierte der Soziologe und Philosoph Oskar Negt wie folgt: âDie kosmopolitische Denkweise, die von der Anerkennung des Anderen lebt, ist fĂŒr Kant [âŠ] die einzige Verhaltensweise, die der WĂŒrde des Menschen angemessen ist. Und WĂŒrde hat keinen Preis.â5
Wer sind die fremden Anderen?
Die fremden Anderen werden bei uns politisch korrekt als Zuwanderer oder Migranten bezeichnet. Sie sind Ăberschreiter von Kulturgrenzen und Wanderer zwischen ethnischen Welten. Migranten sind demnach alle Personen, die ihren Wohnsitz freiwillig oder unter Zwang in ein anderes Land verlegen wie Aus-, Zu-, Abwanderer, Arbeitsmigranten (Gastarbeiter), (SpĂ€t-)Aussiedler, Exilanten, Vertriebene, KriegsflĂŒchtlinge, KontingentflĂŒchtlinge, Asylsuchende, politisch Verfolgte, illegale Zuwanderer und Remigranten. Etwa ein FĂŒnftel aller Menschen in Deutschland hat einen Migrationshintergrund, d. h., sie selbst, ihre Eltern oder GroĂeltern sind nach Deutschland eingewandert. Der Migrationsbegriff findet offiziell nicht ĂŒber drei Generationen hinaus Anwendung. Wird die zeitliche Dimension allerdings ausgedehnt und werden mehr als drei Migrantengenerationen einbezogen, so sind viele, die heute Deutsche sind, aus anderen LĂ€ndern nach Deutschland eingewandert, wie z. B. die sogenannten âRuhrpolenâ zu Beginn der Industrialisierung in der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts als Bergleute ins Ruhrgebiet. FĂŒr die meisten dieser Menschen war ihre Migrationsgeschichte eine Erfolgsgeschichte, an die nur noch der Familienname erinnert.
Migrantenmilieus in Deutschland
Das Bild vieler Menschen von Migranten in Deutschland und die Integrationsdiskurse sind von einer Defizitperspektive geprĂ€gt (Cave Sarrazin!). Dazu trĂ€gt neben den durch Randgruppenverhalten beeinflussten Stereotypen auch so etwas wie der Neid der Sesshaften gegenĂŒber den Mobilen bei, die sich den VerfĂŒhrungen der Migration verschlossen haben. âDie Betrachtung der Migration als UnglĂŒck oder auch die dramatisierende Betonung der Gefahrenseite muss wohl als individuelle Angst bzw. Abwehr vor den VerfĂŒhrungen, die von der Migration ausgehen, gedeutet werden. Denn die ambivalente Haltung vieler Menschen gegenĂŒber Sesshaftigkeit und gleichförmiger StabilitĂ€t sowie die Ambivalenz gegenĂŒber der eigenen Kultur wegen der durch sie auferlegten Verzichte und Sublimierungen im Sinne beengender sozialer Spielregeln wird hĂ€ufig gar nicht in Betracht gezogenâ.6 Die Abwehr eigener SehnsĂŒchte durch Sesshaftigkeit schlĂ€gt in Unzufriedenheit und projektiv auf Migranten zielende Diskriminierungen um. Wie sehen aber die Lebenswelten von Migranten in Deutschland unter unverfĂ€lschtem sozialwissenschaftlichem Aspekt aus?
In der Sinus-Studie (2008)7 ĂŒber Migrantenmilieus in Deutschland wurden in den Jahren 2006 bis 2008 mit qualitativer ethnographischer Methodik Lebenswelten und Lebensstile von Menschen mit unterschiedlichem Migrationshintergrund untersucht. Das Ziel der Studie war âdas Kennenlernen und Verstehen der Alltagswelt von Migranten, ihrer Wertorientierungen, Lebensziele, WĂŒnsche und Zukunftserwartungenâ. Die Ergebnisse der Studie zeichneten ein neues, in der Ăffentlichkeit weitgehend unbekanntes Bild der Migranten. Sie kartographierten eine vielfĂ€ltige und differenzierte Milieulandschaft von insgesamt acht Migrantenmilieus mit unterschiedlichen Lebensauffassungen und Lebensweisen in Bezug auf ihre soziale Lage und ModernitĂ€t (s. Abb. 1, S. 16). Die Milieus im Einzelnen sind: religiös-verwurzeltes Milieu, traditionelles Arbeitermilieu, statusorientiertes Milieu, entwurzeltes Milieu, adaptives bĂŒrgerliches Milieu, intellektuell-kosmopolitisches Milieu, hedonistisch subkulturelles Milieu und multikulturelles Performermilieu. Diese Milieus unterscheiden sich weniger nach ethnischer Herkunft und sozialer Lage als vielmehr â wie dies in Deutschland nicht anders ist â nach ihren gemeinsamen lebensweltlichen Mustern. Es fanden sich gemeinsame lebensweltliche und Ă€sthetische Vorlieben bei Migranten aus unterschiedlichen Herkunftskulturen. Oder: âMenschen des gleichen Milieus mit unterschiedlichem Migrationshintergrund verbindet mehr miteinander als mit dem Rest ihrer Landsleute aus anderen Milieusâ.8 Die Herkunftskultur lĂ€sst keinen RĂŒckschluss auf das Milieu zu. Ethnische Zugehörigkeit, Religion und Zuwanderungsgeschichte sind alltagsweltlich von Bedeutung, aber nicht milieuprĂ€gend und identitĂ€tsstiftend.
Der Politologe Franz Walter hat die Ergebnisse dieser Sinus-Studie in seinem Buch âBaustelle Deutschlandâ9 interessant kommentiert. Die Sozialhierarchie der Migranten fĂ€llt flacher aus, da es das kulturell elitĂ€re Etabliertenmilieu des deutschen BĂŒrgertums bei ihnen nicht gibt. Die Spreizung zwischen den Milieus, ihr Spektrum der Grundorientierungen ist gröĂer und heterogener â sowohl traditioneller als auch moderner, insbesondere bei den EinwanderungstĂŒrken. Dem kollektivistisch patriarchalischen und modernitĂ€tskritischen âreligiös verwurzelten Milieuâ mit nur geringen Neigungen, sich den Lebensweisen der Aufnahmegesellschaft anzupassen, steht die hochmoderne hervorragend ausgebildete tĂŒrkische Elite des âintellektuell-kosmopolitischen Milieusâ und des jungen nach intensivem Leben und Erfolg strebenden âmultikulturellen Performermilieusâ gegenĂŒber. FĂŒr diese haben die kulturellen Normen ihrer Herkunftskultur wenig Verbindlichkeit, stattdessen werden Integration, Emanzipation und Offenheit in persönlichen Beziehungen gelebt. Sie âsind stolz auf ihre BikulturalitĂ€t, ihre Vertrautheit mit mehreren Sprachen, ihren intimen Bezug zu heterogenen Philosophien. Aus ihrem mehrdimensionalen Erfahrungsraum ziehen sie Kraft, KreativitĂ€t und kritisches Bewusstsein. Eben damit aber scheinen sie gar eine Art Avantgarde der entgrenzten, kulturell spannungsreichen Weltgesellschaft der Postmoderne zu verkörpern, fĂŒr die Fundamentalismus und archaische Riten keine wirkliche Rolle spielenâ10.
Abb. 1: Es lassen sich acht Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund unterscheiden (© SINUS-Institut, Heidelberg 2008).
Dagegen werden Abschottungstendenzen verbunden mit Remigrationsphantasien vom âreligiös verwurzelten Milieuâ und vom âentwurzelten Milieu der FlĂŒchtlingeâ unterstĂŒtzt durch die Medien der Heimatkultur konserviert, wobei die Letzteren wegen des fehlenden Aufenthaltsstatus in der Aufnahmegesellschaft perspektivlos bleiben. Ein im kommenden Jahrzehnt aussterbendes Milieu ist das der traditionellen Gastarbeiter und Aussiedler, das âblue collarâ-Milieu, das âdie klassischen Tugenden proletarischer SolidaritĂ€t und Organisationsfreude11 â noch verkörpert. Diese Einwanderer erreichen in KĂŒrze die Altersgrenze im Arbeitsleben. Sie sind trotz aller erlittenen Widrigkeiten im Integrationsprozess als ReprĂ€sentanten der ersten Generation hochgradig pflichtbewusst, akzeptiert und zufrieden. Sie sind auch diejenigen, die die Remigrationsphantasien der frĂŒhen Jahre aufgegeben haben, aber beim Pendeln im bikulturellen Raum zwischen den Kulturen, die Vorteile beider, der Herkunftskultur und der Aufnahmekultur, zu nutzen gelernt haben. Deren Kinder, ehrgeizig und bildungsbereit, haben hĂ€ufig mit der Hilfe ihrer disziplinierten und stolzen Eltern einen Teilaufstieg geschafft und lassen sich von den Zielen des âstatusorientierten Milieusâ, einem klassischen Aufsteigermilieu, leiten, in dem durch Leistung und Zielstrebigkeit Wohlstand und Anerkennung bzw. âallesâ erreicht werden kann (âthe American Dreamâ). Die pragmatische Mitte der Migrantenpopulation bildet das âadaptive BĂŒrgermilieuâ, das die soziale Integration in die Aufnahmegesellschaft und eine materielle Absicherung geschafft hat und eine postintegrative bikulturelle IdentitĂ€t lebt. Insgesamt sind die Bereitschaft zu Leistung und der Wille zu gesellschaftlichem Aufstieg bei der Migrantenpopulation höher als bei der autochthonen deutschen Bevölkerung. Die Migranten beklagen indessen die mangelnde Integrationsbereitschaft der Mehr...