Migration, Kultur und psychische Gesundheit
eBook - ePub
Available until 5 Dec |Learn more

Migration, Kultur und psychische Gesundheit

Dem Fremden begegnen

  1. 118 pages
  2. English
  3. ePUB (mobile friendly)
  4. Available on iOS & Android
eBook - ePub
Available until 5 Dec |Learn more

Migration, Kultur und psychische Gesundheit

Dem Fremden begegnen

About this book

Wer den Schritt der Migration wagt, begibt sich auf eine abenteuerliche Reise, an deren Ende er keine andere Wahl hat als die, ein anderer zu werden als der, der er vor seiner Abreise war. Der Orts- und Kulturwechsel ist nur die Ă€ußere VerĂ€nderung - die innere psychische Reise weist weit zurĂŒck zu den AnfĂ€ngen der Persönlichkeit und voraus auf die Bildung einer neuen IdentitĂ€t.Dieser Band vermittelt ein tiefes VerstĂ€ndnis von Integration als Individuation und kultureller Adoleszenz und stellt die Dynamik des Migrationsprozesses und seiner typischen Konflikte anschaulich dar. Auch die psychische Gesundheit von Menschen aus anderen Kulturen, ihre Verletzlichkeiten in der Fremde und die wesentlichen Merkmale interkultureller Psychotherapie kommen ausfĂŒhrlich zur Sprache.

Frequently asked questions

Yes, you can cancel anytime from the Subscription tab in your account settings on the Perlego website. Your subscription will stay active until the end of your current billing period. Learn how to cancel your subscription.
No, books cannot be downloaded as external files, such as PDFs, for use outside of Perlego. However, you can download books within the Perlego app for offline reading on mobile or tablet. Learn more here.
Perlego offers two plans: Essential and Complete
  • Essential is ideal for learners and professionals who enjoy exploring a wide range of subjects. Access the Essential Library with 800,000+ trusted titles and best-sellers across business, personal growth, and the humanities. Includes unlimited reading time and Standard Read Aloud voice.
  • Complete: Perfect for advanced learners and researchers needing full, unrestricted access. Unlock 1.4M+ books across hundreds of subjects, including academic and specialized titles. The Complete Plan also includes advanced features like Premium Read Aloud and Research Assistant.
Both plans are available with monthly, semester, or annual billing cycles.
We are an online textbook subscription service, where you can get access to an entire online library for less than the price of a single book per month. With over 1 million books across 1000+ topics, we’ve got you covered! Learn more here.
Look out for the read-aloud symbol on your next book to see if you can listen to it. The read-aloud tool reads text aloud for you, highlighting the text as it is being read. You can pause it, speed it up and slow it down. Learn more here.
Yes! You can use the Perlego app on both iOS or Android devices to read anytime, anywhere — even offline. Perfect for commutes or when you’re on the go.
Please note we cannot support devices running on iOS 13 and Android 7 or earlier. Learn more about using the app.
Yes, you can access Migration, Kultur und psychische Gesundheit by Wielant Machleidt, Michael Ermann in PDF and/or ePUB format, as well as other popular books in Psychology & Psychotherapy. We have over one million books available in our catalogue for you to explore.

Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2013
Print ISBN
9783170221840
eBook ISBN
9783170275867
Edition
1

1. Vorlesung
In der Fremde ankommen – Integration und „Kulturelle Adoleszenz“

Einleitung

Als ich nach Abschluss meiner psychiatrisch-psychotherapeutischen und psychoanalytischen Ausbildung das westliche Schulenwissen in unserem Fach sattsam studiert hatte, ging ich, aus dem GefĂŒhl einer ErnĂŒchterung heraus, fĂŒr einen Perspektivenwechsel einige Monate zu Feldforschungen nach SĂŒdost-Afrika. Ich wollte erfahren, wie traditionelle Heiler ihre psychisch kranken Patienten behandelten und mir einen Erfahrungsraum jenseits westlicher Behandlungsmethoden erschließen. In Malawi diente ich mich MedizinmĂ€nnern bei ihrer Behandlung psychisch Kranker als Zauberlehrling an. Ich lernte ihre Heilrituale kennen und ihre Heilerfolge schĂ€tzen. Es waren die Heilerpersönlichkeiten und ihre Heilkunst, die mich faszinierten. Als ich nach Deutschland zurĂŒcckehrte, hatte sich mein Blick auf unser Fach verĂ€ndert. Ich hatte eine ethnographische Distanz gewonnen, die mich das westliche theoretische und Erfahrungswissen kulturell relativieren ließen. Mit Brecht konnte ich jetzt sagen: „Es geht auch anders, aber so geht es auch.“ Ich hatte meinen Blick fĂŒr die Vielfalt kultureller Ausdrucksmuster und Behandlungsformen geschĂ€rft. Die ethnozentrische SelbstverstĂ€ndlichkeit meines psychiatrischen Handelns in Diagnostik und Therapie war verloren gegangen. Es erschien mir nach meinen Erfahrungen in Malawi eher als ein glĂŒcklicher Umstand, dass sich das seelische Erleben in seiner kulturellen Vielfalt und seinen Grenzbereichen nur in seinen Zuspitzungen z. B. nur recht oberflĂ€chlich klassifikatorisch erfassen lĂ€sst. Tobie Nathan sagte dazu, die kulturelle psychopathologische RealitĂ€t entziehe sich immer der Beharrlichkeit der Klassifikatoren1. Der ICD-10 (1991)2 und das DSM-IV (1996)3 seien deshalb auch ein Ergebnis dieses Scheiterns, weil es den strukturell klassifikatorischen Ansatz durch einen Konsens der Kollegen unserer Disziplin ersetzt. Konsense unterliegen dem aktuellen und insbesondere kulturell geprĂ€gten Erfahrungswissen und dem Zeitgeist. Bei der BeschĂ€ftigung mit der psychischen Gesundheit im Kulturvergleich setzte ich mein professionelles Denken nicht ohne Folgen dem Risiko aus, neue Wesenheiten zu entdecken und alte Konsense in Frage zu stellen. Diesem Risiko setzen sich auch die Leserinnen und Leser dieses kleinen Buches aus. Davor soll an dieser Stelle gewarnt werden.

WeltbĂŒrgertum

Immanuel Kant hat vor dem historischen Hintergrund der Französischen Revolution zur Wirtbarkeit in der Fremde in seinem dritten Definitivartikel „Zum ewigen Frieden“, erschienen 1795 in Königsberg bei Friedrich Nikolovius, das Folgende geschrieben: „Das WeltbĂŒrgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen HospitalitĂ€t eingeschrĂ€nkt sein. Es ist hier wie in den vorigen Artikeln, nicht von Philanthropie, sondern von Recht die Rede, und da bedeutet HospitalitĂ€t (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seine Ankunft auf dem Boden eines anderen wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann; solange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhĂ€lt, ihm nicht feindlich begegnen. Es ist kein Gastrecht, worauf dieser Anspruch machen kann (wozu ein besonderer wohltĂ€tiger Vertrag erfordert werden wĂŒrde, ihn auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen zu machen) sondern ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der OberflĂ€che der Erde, auf der, als KugelflĂ€che, sie sich nicht ins unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch nebeneinander dulden mĂŒssen, ursprĂŒnglich aber niemand an einem Ort der Erde zu sein mehr Recht hat als der Andere“4. Diese Gedanken Kants kommentierte der Soziologe und Philosoph Oskar Negt wie folgt: „Die kosmopolitische Denkweise, die von der Anerkennung des Anderen lebt, ist fĂŒr Kant [
] die einzige Verhaltensweise, die der WĂŒrde des Menschen angemessen ist. Und WĂŒrde hat keinen Preis.“5

Wer sind die fremden Anderen?

Die fremden Anderen werden bei uns politisch korrekt als Zuwanderer oder Migranten bezeichnet. Sie sind Überschreiter von Kulturgrenzen und Wanderer zwischen ethnischen Welten. Migranten sind demnach alle Personen, die ihren Wohnsitz freiwillig oder unter Zwang in ein anderes Land verlegen wie Aus-, Zu-, Abwanderer, Arbeitsmigranten (Gastarbeiter), (SpĂ€t-)Aussiedler, Exilanten, Vertriebene, KriegsflĂŒchtlinge, KontingentflĂŒchtlinge, Asylsuchende, politisch Verfolgte, illegale Zuwanderer und Remigranten. Etwa ein FĂŒnftel aller Menschen in Deutschland hat einen Migrationshintergrund, d. h., sie selbst, ihre Eltern oder Großeltern sind nach Deutschland eingewandert. Der Migrationsbegriff findet offiziell nicht ĂŒber drei Generationen hinaus Anwendung. Wird die zeitliche Dimension allerdings ausgedehnt und werden mehr als drei Migrantengenerationen einbezogen, so sind viele, die heute Deutsche sind, aus anderen LĂ€ndern nach Deutschland eingewandert, wie z. B. die sogenannten „Ruhrpolen“ zu Beginn der Industrialisierung in der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts als Bergleute ins Ruhrgebiet. FĂŒr die meisten dieser Menschen war ihre Migrationsgeschichte eine Erfolgsgeschichte, an die nur noch der Familienname erinnert.

Migrantenmilieus in Deutschland

Das Bild vieler Menschen von Migranten in Deutschland und die Integrationsdiskurse sind von einer Defizitperspektive geprĂ€gt (Cave Sarrazin!). Dazu trĂ€gt neben den durch Randgruppenverhalten beeinflussten Stereotypen auch so etwas wie der Neid der Sesshaften gegenĂŒber den Mobilen bei, die sich den VerfĂŒhrungen der Migration verschlossen haben. „Die Betrachtung der Migration als UnglĂŒck oder auch die dramatisierende Betonung der Gefahrenseite muss wohl als individuelle Angst bzw. Abwehr vor den VerfĂŒhrungen, die von der Migration ausgehen, gedeutet werden. Denn die ambivalente Haltung vieler Menschen gegenĂŒber Sesshaftigkeit und gleichförmiger StabilitĂ€t sowie die Ambivalenz gegenĂŒber der eigenen Kultur wegen der durch sie auferlegten Verzichte und Sublimierungen im Sinne beengender sozialer Spielregeln wird hĂ€ufig gar nicht in Betracht gezogen“.6 Die Abwehr eigener SehnsĂŒchte durch Sesshaftigkeit schlĂ€gt in Unzufriedenheit und projektiv auf Migranten zielende Diskriminierungen um. Wie sehen aber die Lebenswelten von Migranten in Deutschland unter unverfĂ€lschtem sozialwissenschaftlichem Aspekt aus?
In der Sinus-Studie (2008)7 ĂŒber Migrantenmilieus in Deutschland wurden in den Jahren 2006 bis 2008 mit qualitativer ethnographischer Methodik Lebenswelten und Lebensstile von Menschen mit unterschiedlichem Migrationshintergrund untersucht. Das Ziel der Studie war „das Kennenlernen und Verstehen der Alltagswelt von Migranten, ihrer Wertorientierungen, Lebensziele, WĂŒnsche und Zukunftserwartungen“. Die Ergebnisse der Studie zeichneten ein neues, in der Öffentlichkeit weitgehend unbekanntes Bild der Migranten. Sie kartographierten eine vielfĂ€ltige und differenzierte Milieulandschaft von insgesamt acht Migrantenmilieus mit unterschiedlichen Lebensauffassungen und Lebensweisen in Bezug auf ihre soziale Lage und ModernitĂ€t (s. Abb. 1, S. 16). Die Milieus im Einzelnen sind: religiös-verwurzeltes Milieu, traditionelles Arbeitermilieu, statusorientiertes Milieu, entwurzeltes Milieu, adaptives bĂŒrgerliches Milieu, intellektuell-kosmopolitisches Milieu, hedonistisch subkulturelles Milieu und multikulturelles Performermilieu. Diese Milieus unterscheiden sich weniger nach ethnischer Herkunft und sozialer Lage als vielmehr – wie dies in Deutschland nicht anders ist – nach ihren gemeinsamen lebensweltlichen Mustern. Es fanden sich gemeinsame lebensweltliche und Ă€sthetische Vorlieben bei Migranten aus unterschiedlichen Herkunftskulturen. Oder: „Menschen des gleichen Milieus mit unterschiedlichem Migrationshintergrund verbindet mehr miteinander als mit dem Rest ihrer Landsleute aus anderen Milieus“.8 Die Herkunftskultur lĂ€sst keinen RĂŒckschluss auf das Milieu zu. Ethnische Zugehörigkeit, Religion und Zuwanderungsgeschichte sind alltagsweltlich von Bedeutung, aber nicht milieuprĂ€gend und identitĂ€tsstiftend.
Der Politologe Franz Walter hat die Ergebnisse dieser Sinus-Studie in seinem Buch „Baustelle Deutschland“9 interessant kommentiert. Die Sozialhierarchie der Migranten fĂ€llt flacher aus, da es das kulturell elitĂ€re Etabliertenmilieu des deutschen BĂŒrgertums bei ihnen nicht gibt. Die Spreizung zwischen den Milieus, ihr Spektrum der Grundorientierungen ist grĂ¶ĂŸer und heterogener – sowohl traditioneller als auch moderner, insbesondere bei den EinwanderungstĂŒrken. Dem kollektivistisch patriarchalischen und modernitĂ€tskritischen „religiös verwurzelten Milieu“ mit nur geringen Neigungen, sich den Lebensweisen der Aufnahmegesellschaft anzupassen, steht die hochmoderne hervorragend ausgebildete tĂŒrkische Elite des „intellektuell-kosmopolitischen Milieus“ und des jungen nach intensivem Leben und Erfolg strebenden „multikulturellen Performermilieus“ gegenĂŒber. FĂŒr diese haben die kulturellen Normen ihrer Herkunftskultur wenig Verbindlichkeit, stattdessen werden Integration, Emanzipation und Offenheit in persönlichen Beziehungen gelebt. Sie „sind stolz auf ihre BikulturalitĂ€t, ihre Vertrautheit mit mehreren Sprachen, ihren intimen Bezug zu heterogenen Philosophien. Aus ihrem mehrdimensionalen Erfahrungsraum ziehen sie Kraft, KreativitĂ€t und kritisches Bewusstsein. Eben damit aber scheinen sie gar eine Art Avantgarde der entgrenzten, kulturell spannungsreichen Weltgesellschaft der Postmoderne zu verkörpern, fĂŒr die Fundamentalismus und archaische Riten keine wirkliche Rolle spielen“10.
img
Abb. 1: Es lassen sich acht Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund unterscheiden (© SINUS-Institut, Heidelberg 2008).
Dagegen werden Abschottungstendenzen verbunden mit Remigrationsphantasien vom „religiös verwurzelten Milieu“ und vom „entwurzelten Milieu der FlĂŒchtlinge“ unterstĂŒtzt durch die Medien der Heimatkultur konserviert, wobei die Letzteren wegen des fehlenden Aufenthaltsstatus in der Aufnahmegesellschaft perspektivlos bleiben. Ein im kommenden Jahrzehnt aussterbendes Milieu ist das der traditionellen Gastarbeiter und Aussiedler, das „blue collar“-Milieu, das „die klassischen Tugenden proletarischer SolidaritĂ€t und Organisationsfreude11 “ noch verkörpert. Diese Einwanderer erreichen in KĂŒrze die Altersgrenze im Arbeitsleben. Sie sind trotz aller erlittenen Widrigkeiten im Integrationsprozess als ReprĂ€sentanten der ersten Generation hochgradig pflichtbewusst, akzeptiert und zufrieden. Sie sind auch diejenigen, die die Remigrationsphantasien der frĂŒhen Jahre aufgegeben haben, aber beim Pendeln im bikulturellen Raum zwischen den Kulturen, die Vorteile beider, der Herkunftskultur und der Aufnahmekultur, zu nutzen gelernt haben. Deren Kinder, ehrgeizig und bildungsbereit, haben hĂ€ufig mit der Hilfe ihrer disziplinierten und stolzen Eltern einen Teilaufstieg geschafft und lassen sich von den Zielen des „statusorientierten Milieus“, einem klassischen Aufsteigermilieu, leiten, in dem durch Leistung und Zielstrebigkeit Wohlstand und Anerkennung bzw. „alles“ erreicht werden kann („the American Dream“). Die pragmatische Mitte der Migrantenpopulation bildet das „adaptive BĂŒrgermilieu“, das die soziale Integration in die Aufnahmegesellschaft und eine materielle Absicherung geschafft hat und eine postintegrative bikulturelle IdentitĂ€t lebt. Insgesamt sind die Bereitschaft zu Leistung und der Wille zu gesellschaftlichem Aufstieg bei der Migrantenpopulation höher als bei der autochthonen deutschen Bevölkerung. Die Migranten beklagen indessen die mangelnde Integrationsbereitschaft der Mehr...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Vorwort
  6. 1. Vorlesung In der Fremde ankommen – Integration und „Kulturelle Adoleszenz“
  7. 2. Vorlesung Emotionslogik im Migrationsprozess
  8. 3. Vorlesung Psychische Belastung, Körpermetaphorik und Migration – Kulturbedingte Vorstellungen in der Medizin
  9. 4. Vorlesung Interkulturelle Psychotherapie – Psychotherapeutische Arbeit mit Migranten
  10. 5. Vorlesung Welche Rolle spielen ReligiositÀt und SpiritualitÀt im Heilungsprozess?
  11. Stichwortverzeichnis
  12. Personenverzeichnis