I Grundlagen
1 Erziehung ist politisch â eine Skizze
Ronald Lutz
Es wÀre ein schreiender Widerspruch, wenn sich das menschliche Wesen, das sich in unfertigem Zustand befindet und sich dessen bewusst ist, nicht in einen permanenten Prozess hoffnungsvoller Suche einbrÀchte.
Paulo Freire
FĂŒr die »Kunst des Erziehens« als PĂ€dagogik im weitesten Sinne (auch als wissenschaftliches Fach) besitzen zwei »Dinge« essentielle Bedeutung: zum einen muss diese eine »Politik des Lebens« sein, zum anderen ist sie verpflichtet die »Kultur des Schweigens« bzw. die »Monologie« des Erziehens zu beenden. Ziel ist es doch, Menschen eine Stimme zu geben, sie zu unterstĂŒtzen und zu fördern, damit sie sich in ihrem eigenen Leben zurechtfinden, sich in das öffentliche Leben einbinden und dieses mitgestalten können. FĂŒr die Akteure der PĂ€dagogik (von KindergĂ€rten ĂŒber Schule bis zur Sozialen Arbeit oder SozialpĂ€dagogik) verbindet sich damit eine Haltung und eine Praxis, die ich als dialogisch, verstehend und politisch verdichten will.
In der hier vorgelegten Skizze einer »Politischen Ethik des Erziehens«, einer »Politik des Lebens«, beziehe ich mich wesentlich auf Paulo Freire, der fĂŒr einen solchen Ansatz stand und aktuell neu gelesen werden muss. FĂŒr ihn war »Erziehung immer politisch«, er wollte die »Kultur des Schweigens« beenden und setzte dabei auf Dialoge â letztlich auf das, was aktuell unter Resonanz (Rosa 2016) verstanden wird und was JĂŒrgen Habermas (1981) mit Kommunikation, Diskurs und Aushandlung erörterte.
1.1 Warum Freire?
Zweifellos steht zunĂ€chst die Frage im Raum, weshalb dieser politisch denkende und handelnde PĂ€dagoge, der sich als Marxist und als Christ begriff, 20 Jahre nach seinem Tod Impulse fĂŒr unsere Gegenwart und Zukunft geben kann. Das ist schnell beantwortet: Ich bin zutiefst davon ĂŒberzeugt, dass uns die BefreiungspĂ€dagogik, in deren Tradition sich Freire befindet, noch immer oder wieder viel zu sagen hat. Dabei beziehe ich mich auch auf meine These, dass wir vom »SĂŒden lernen können und mĂŒssen«, da dort viel frĂŒher und heftiger Globalisierungsfolgen auftraten, die erst allmĂ€hlich auch den Alltag in nördlichen Gesellschaften prĂ€gen.
Freire stand mit Befreiungstheologen und BefreiungspĂ€dagogen eindeutig an der Seite der Heranwachsenden, der Fragenden, der Verunsicherten, der Marginalisierten, der Ausgebeuteten, der Verwundeten und der Ausgegrenzten. Er stand an der Seite der Menschen, die sich im Mittelpunkt pĂ€dagogischer Arrangements befanden. Sie wurden als »Protagonisten« (und nicht als Zöglinge oder Klienten) begriffen, als Wesen, die zu sich selbst finden wollen und können, die in Gemeinschaft, Verantwortung, GlĂŒck, Zufriedenheit, Stolz und WĂŒrde leben wollen.
Zusammen mit sozialen Bewegungen, und dies nicht nur in Lateinamerika, entfaltete die BefreiungspĂ€dagogik, in vielen Regionen der Welt bis heute andauernd, eine »befreiende Praxis« (auch mit pĂ€dagogischen Mitteln), die gegen herrschende, kolonialisierende, ökonomisierte und ausbeutende Kontexte und Herrschaftsstrukturen Menschen eine Stimme geben wollte, um wieder Subjekt fĂŒr sich zu werden und zu sein. Sie wollte der »Kultur des Schweigens«, diese fast fatalistische Ăbernahme gesellschaftlicher Bilder und ZwĂ€nge im Verhalten der Menschen, eine Praxis gegenĂŒberstellen, die Menschen wieder ein eigenes Wort ermöglicht. Eine befreiende Praxis kann und muss Basis und Aufgabe aller PĂ€dagogik sein, gerade in einer Zeit, die sich wie die unsrige im Norden in einer tiefen Krise ihres SelbstverstĂ€ndnisses befindet.
Ideen der BefreiungspĂ€dagogik (und andere aus dem SĂŒden wie AnsĂ€tze einer Indigenisierung Sozialer Arbeit in Indien, Australien oder Afrika) gewinnen in Zeiten »neoliberaler Erfindung des Sozialen« (Lessenich) groĂe Bedeutung. Soziale Verwerfungen werden individualisiert, Ungleichheit sowie Armut erfahren eine stete Skandalisierung, es wird aber immer weniger gegen deren Verhinderung getan. Der Kult des Individuums hat den Arbeitskraftunternehmer hervorgebracht, der nur noch fĂŒr sich selbst sorgt und somit auch fĂŒr sich völlig verantwortlich ist.
Damit sind ethische GrundzĂŒge aller PĂ€dagogik (aller Erziehung im weitesten Sinne) benannt. Zugespitzt kommt damit ihre eigentliche Bedeutung zum Ausdruck:
mit Menschen zusammen ZugĂ€nge zum Leben finden bzw. diese zu verbessern, sie darin zu unterstĂŒtzen und zu fördern, sich und ihre Vorstellungen vom Leben auch umzusetzen, stark zu werden und zu sein sowie gegen WiderstĂ€nde LebensentwĂŒrfe durchzuhalten, hierzu gehört auch der Erwerb notwendigen Wissens und erforderlicher Kompetenzen.
Doch allein schon daraus ergibt sich eine essentielle Frage: Was ist erforderlich und warum? In modernen Gesellschaften hat man als kritischer Beobachter immer mehr den Eindruck, erforderlich sei das, was ökonomisch verwertbar ist. Bildungsprozesse vermitteln doch vor allem abfragbare Kenntnisse, die wesentlich ökonomischen Verwertungsinteressen nĂŒtzen. PĂ€dagogik ist vielfach eine ökonomisierte und zugleich entpolitisierte Praxis, die ihre kritischen und auch politischen Positionen zum Teil entsorgte, oder sie zumindest abdrĂ€ngte, und sich auf eine Praxis und eine Haltung zurĂŒckzog, die der neoliberalen »Neuerfindung des Sozialen« entspricht und den Kontexten kapitalistischer Gesellschaft kaum noch kritisch gegenĂŒbertritt. Sie unterstĂŒtzt dies in weiten Teilen sogar, indem sie in ihrer tĂ€glichen, in der Sozialen Arbeit wesentlich auf den Einzelfall bezogenen Praxis, FĂ€higkeiten von zu Erziehenden (Zöglingen) oder Klienten »fördern« oder »wieder herstellen« will, ohne die VerhĂ€ltnisse anzuprangern oder gar verĂ€ndern zu wollen.
Die Gesellschaft arrangiert sich insgesamt mit diesen ZusammenhĂ€ngen und setzt auf Bildung und Erziehung, die bezogen auf Kompetenzen Subjekte vor allem resilient und fit machen soll, sich in den Verwerfungen des neoliberalen und globalen Kapitalismus unkritisch und sich selbst verleugnend einzurichten, um dem Terror der Ăkonomie zu genĂŒgen. PĂ€dagogik hat sich dabei an das Kapital verkauft bzw. sich einbinden lassen, statt innovativ agiert sie lediglich affirmativ. Unter diesem Verwertungszwang wird »Totes Wissen« (Gronemeyer/Fink) zum Inhalt der Bildung, reines und abfragbares Faktenwissen, mit dem Individuen gesellschaftlich und ökonomisch nutzvoll und einsetzbar scheinen. Bildung wird zum Faktor der Produktion. Befreiung und BefĂ€higung ist nicht mehr ihr Ding, sie ist lediglich damit beschĂ€ftigt eine oberflĂ€chliche Beruhigung von Konflikten zu erreichen bzw. verwertbare Subjekte als Objekte herzurichten.
Wenn die Welt sich aber inzwischen in Metamorphosen windet, also völligen Umwandlungen und Zerbröselungen seitheriger Errungenschaften und SelbstverstĂ€ndlichkeiten, wie es Ulrich Beck in seinem letzten Buch »verkĂŒndete« (Beck 2016), dann wĂ€chst neben Katastrophenszenarien, wie es so manche Populisten beschwören und das Ende liberaler Demokratien fordern, aber auch die Chance bzw. der Bedarf, den Menschen doch wieder eine Stimme zu geben, die nicht den Vorgaben der Ăkonomie entspricht. Die etablierte »Kultur des Schweigens« kann und sollte durchbrochen werden, indem sich die Menschen wieder in die zukĂŒnftige Gestaltung des Sozialen einbringen. Dieses darf man nicht jenen »RattenfĂ€ngern« ĂŒberlassen, die vom rechten Rad kommend laut posaunen, Sorgen, Ăngste und Vertrauensverluste aufzugreifen und nachhaltig zu bedienen.
»Befreiende Praxis« kann (muss) ein Ergebnis dieser Metamorphosen der Welt sein. Doch dazu bedarf es groĂer Anstrengung seitens der pĂ€dagogischen Akteure, die sich von bisherigen Routinen verabschieden mĂŒssen. Ein Wiederlesen von Freire gibt hierzu jenseits der Traditionspflege seines Werkes Impulse, insbesondere könnte sich die PĂ€dagogik in ihrer ganzen Breite als eine kritisch-reflexive neu aufstellen.
1.2 Thesen einer Anthropologie des Erziehens
In der AufklĂ€rung wurde die »Erziehbarkeit« des Menschen zum Thema, diskutiert wurde, was geplante Sozialisation sein könnte. Philosophen, Anthropologen und PĂ€dagogen in dieser Zeit gewannen die Ăberzeugung, dass der Mensch nur durch »Erziehung« zum Menschen werde, zum Wesen seiner selbst, er werde nur das, was diese gestaltbaren Prozesse aus ihm machen. Erziehung wurde als Mittel gesehen, um »HumanitĂ€t« herzustellen, um Welt zu gestalten und sich von unverĂ€nderbaren Schicksalen zu lösen. Darin lag und liegt immer auch die Idee der »Vollkommenheit«.
Erziehung wurde und wird eben nicht mehr nur als Vorbereitung auf das Leben verstanden, sie sollte und musste auch Beitrag zur Verbesserung der menschlichen VerhĂ€ltnisse sein. Erziehung wird zur Hoffnung und zur Utopie auf ein »Gutes Leben«. Rousseau hat diese Hoffnungen in seinem Erziehungsroman »Emile« wunderbar beschrieben. Doch wer definiert »Gutes Leben« und vor allem fĂŒr wen? Ist nicht die Idee der Vollkommenheit, die aller AufklĂ€rung und sozialen Utopien innewohnt, gleichfalls eine unantastbare Schicksalsmacht, die ein Bild der Zukunft formt, das der Gestaltung von Gegenwart, die in der AufklĂ€rung postulierte Weltoffenheit des Menschen, als Zwang entgegensteht und diese zu beherrschen droht?
Bis heute ist doch völlig unklar, was Natur und Kultur am Menschen ist, was Erziehen tatsĂ€chlich bewirkt und wie sie gestaltet und organisiert sein sollte. Die gleichfalls im Denken der AufklĂ€rung formulierten Prozesse von Geschichtlichkeit und VerĂ€nderbarkeit der Kulturen, des Humanen an sich, geben uns eine stetige Aufgabe der Reflexion. Sie zeigen die RelativitĂ€t und UnwĂ€gbarkeit des VerhĂ€ltnisses von Natur und Kultur. Wo wir beim Menschen auf seine Natur und sein Wesen zu treffen hoffen, stehen wir in Wahrheit immer vor einem Menschen, dessen natĂŒrliche Ausstattung durch Lernen »geformt« wurde. Allerdings bleibt deren AusmaĂ ein RĂ€tsel, da wir zugleich auch auf Natur blicken, die sperrig bleibt, die sich nicht fĂŒgen will, die sich verweigert oder aufbegehrt. Mitunter wird dies als AuffĂ€lligkeit und Abweichung diskutiert, was dann die elterliche Erziehung an die Grenzen stoĂen lĂ€sst und Soziale Arbeit und andere SonderpĂ€dagogik in die Pflicht nimmt bzw. diese erst entwickelt.
In einer kritischen Sichtweise analysiert Pilippe Descola das Denken des Westens als Glauben, in dem Erziehen einen zentralen Aspekt darstellt: Der Mensch sei zum Beherrscher und Besitzer der Natur berufen. Dies habe ihn von ihr und somit von sich selbst getrennt. Es sei eine Dichotomie, ein Dualismus, von Natur und Kultur entstanden, die eine reine Konstruktion sei, eine ErzĂ€hlung, ein starres Narrativ, die das Leben begrenze. Eigentlich wĂ€ren Natur und Kultur nicht getrennt, sie stellten zusammen etwas Drittes dar, das sie im Denken fast aller Kulturen immer vereinigt und interdependent sah. Dies mĂŒsse neu hergestellt werden, durch KontinuitĂ€t statt Abbruch, durch Kontakt statt Trennung, durch Gemeinschaft statt Individualisierung, durch Zyklen statt Beschleunigung.
Vor diesem Hintergrund ist Erziehung, in welcher Form auch immer, ein Mythos, ein gesellschaftlich erzeugtes Narrativ, das immer nur Vorstellungen und WĂŒnsche formuliert, wie der Mensch, sein Wesen, seine Beziehungen und sein Leben, seine Welt, zu sein habe bzw. werden solle. Dieses Narrativ wird als Erziehung und Bildung in das Leben transplantiert und formt Menschen nach Ideen und Konzepten, die zwar nicht mehr von Gott und anderen unantastbaren MĂ€chten kommen, aber von Menschen, die sich mitunter fĂŒr Gott halten und sich quasi als wissende, pĂ€dagogische Experten darstellen, zumindest fĂŒr Menschen, die zu wissen meinen, was gut fĂŒr andere und insbesondere fĂŒr Heranwachsende sei.
In einem weiteren kritischen und reflexiven Diskurs lĂ€sst sich die »Erziehbarkeit« des Menschen auch als Narrativ sehen, in dem das Kind, der Jugendliche, als Zögling von Eltern und Erziehenden oder der Klient von pĂ€dagogischen FachkrĂ€fte in der Sozialen Arbeit zu einer »EinschreibhĂŒlle« fĂŒr Erwachsene, fĂŒr Eltern, fĂŒr PĂ€dagogen, fĂŒr moralische EntwĂŒrfe oder fĂŒr Zurichtungsprozesse wird. Darin liegt eine fatale und doch auch faszinierende Hoffnung: Da der Mensch eben erziehbar sei, könne er auch so erzogen werden, wie ein generalisiertes und gesellschaftlich entworfenes »man« es wolle. Darin liegt Gutes und Böses zugleich: Zum einen wĂŒrde der Mensch zum Gestalter seiner eigenen Kultur, kann sie schaffen und Ă€ndern. Zum anderen könnte man aus dem Menschen das machen, was Eltern, PĂ€dagogen oder Bildungsplaner wollen.
Genau diese Idee und Praxis der Formbarkeit geschah und geschieht sowohl in autoritĂ€ren als auch in liberalen Kontexten, jeweils abhĂ€ngig vom Bild und der Struktur von Gesellschaft, denen das generalisierte »man« sich verpflichtet fĂŒhlt. Doch genau das ist immer abhĂ€ngig von Macht- und Herrschaftsbeziehungen. Alle Erziehung ist vor diesem Hintergrund als ambivalent zu sehen. Es gab und gibt im philosophischen und anthropologischen Denken schon immer erhebliche Zweifel an Positionen zum PhĂ€nomen »Erziehung«.
Sie ist zwar erforderlich, zweifellos, sie war es immer, auch vor ihrer Wiederentdeckung in der europĂ€ischen AufklĂ€rung; auch frĂŒhere bzw. andere Kulturen hatten eine Idee und ein Wesen davon. Immer wurde die nachwachsende Generation in die bestehende Kultur eingegliedert bzw. auffĂ€llige und abweichende als solche begriffen und mitunter auch »behandelt«.
Erziehung kann neben dem Wesen der Freiheit, die in ihr liegen könnte, aber auch zur Praxis der Affirmation werden, die zur BestĂ€tigung, zum Erhalt und evtl. zur moderaten Fortentwicklung bestehender gesellschaftlicher VerhĂ€ltnisse taugen soll. Darin kann sie Zurichtung und zum Zwang werden, eine Erziehung zur »Brauchbarkeit« und »Verwertbarkeit«, in der nur noch Anforderungen und FĂ€higkeiten, die das moderne Arbeitsleben an die kĂŒnftigen Gesellschaftsmitglieder stellt (employability), im Fokus stehen. Faktenwissen rangiert dann vor sozialen Kompetenzen, auch vor Medienkompetenz als existenzielle FĂ€higkeit in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft. Das erste ist totes und Ă€uĂerliches Wissen, das zweite wĂ€re ein lebendiges Wissen, das Persönlichkeiten formt, das aber hinter dem ersten nachrangig scheint. LehrplĂ€ne, Bildungsprozesse und deren Inhalte, pĂ€dagogische Arrangements und die »Feuerwehr- und Rettungsfunktion« der Sozialen Arbeit scheinen darauf abzuzielen.
Der Mensch ist ein lernendes Wesen, das ist gut so, aber eben nicht nur. PĂ€dagogische BemĂŒhungen zur Sozialisation, zur Erziehung, zu VerĂ€nderung, zu Gestaltung und zum Lernen haben notwendigerweise »Grenzen«, sei es in der »Natur«, sei es im Wertsystem oder in ethischen Konzepten. Von daher ist immer eine Ethik des Erziehens nötig. Doch auch diese wird von Menschen entworfen, auch das können Utopien sein, die mit der Idee der Vollkommenheit spielen.
Es kann aber auch eine Ethik sein, die Diskurse, Aushandlung, Partizipation, Offenheit, Dialoge und Resonanzen betont und als ihre Basis sieht. Aus der Begegnung von Ic...