0.1. Was heißt »christlich« im Blick auf menschliches Denken und Handeln?
In diesem ersten einleitenden Gedankengang geht es zunächst um eine mögliche Definition und Bestimmung des Christlichen im Blick auf die Soziale Arbeit. Darunter wird eine spezifische Art und Weise verstanden, Weltanschauung und Glaube in ein wissenschaftliches Denken einzubeziehen. Wie sich das Christliche von anderen Denkweisen, etwa dem Humanismus, unterscheidet, begegnet dabei als Frage.
Als wichtige Brückenbauerin zwischen Glaube und Wissenschaft dient im Folgenden die Philosophie, welche die Begriffe klärt sowie Modelle der Vermittlung und Integration zur Verfügung stellt.
Die Argumentation bezieht sich dazu auf die christliche Philosophie des Neo-Calvinismus bzw. auf einen ihrer prominenten Vertreter: Herman Dooyeweerd. Seine Formulierung des jüdisch-christlichen Grundmotivs, die für die weiteren Überlegungen wegweisend sein soll, wird in diesem Kapitel vorgestellt.
Es geht in den nachfolgenden Kapiteln stets auch darum, zu zeigen, wie dieses Grundmotiv sich in verschiedenen theoretischen und praktischen Bereichen der Sozialen Arbeit auswirken kann.
Auf die Frage: »Was heißt ›christlich‹«? gibt es wohl eine Vielzahl von Antworten. Je nach dem vorherrschenden Selbstverständnis und dem konkreten christlichen Religionsbegriff der Antwortenden werden dabei unterschiedliche Merkmale und Kennzeichen christlichen Denkens und Handelns im Vordergrund stehen. Die Geschichte selbst zeigt uns eine fast unüberblickbare Zahl von möglichen Entwürfen dessen, was als christliches Denken und Handeln gelten kann. Die großen Lehrer des christlichen Glaubens, von den Kirchenvätern bis zu den Vertreterinnen einer zeitgenössischen Theologie, haben dazu ebenso ihre Beiträge geleistet wie soziale und politische Akteure. Zudem bringt letztlich jedes Individuum, das seinen Glauben inner- und außerhalb der Kirche zu leben versucht, eine weitere Möglichkeit des christlichen Denkens und Handelns zum Ausdruck – ob es sich dessen bewusst ist oder nicht.
Wer eine Professionalität christlich durchdringen und begründen will, steht vor der Frage (bzw. den Fragen), wie das jeweilige fachspezifische Denken und Handeln sich als christliches von anderen Denk- und Handlungsweisen unterscheidet, wodurch es erkennbar und fassbar wird, welche Inhalte und Praktiken als spezifisch christlich gelten können etc. In der zivilen Kultur des Abendlandes, die, obwohl durch und durch säkular, ihre religiöse Herkunft nicht leugnen kann, fällt es schwer, diese Unterschiede scharf und deutlich in den Blick zu bekommen. Aufklärerischer Humanismus und christliches Wertesystem sind nicht leicht auseinander zu halten (richtete sich doch die Aufklärung bekanntlich weniger gegen christliche Werte als gegen die Kirche als solche. Vgl. Eagleton 2015). Wir sind daher der Ansicht1, dass es wenig aussichtsreich und sinnvoll ist, das Besondere des Christlichen über die Werte zu erschließen (so bedeutsam und für das entschiedene Handeln wichtig diese auch sind), denn sie lassen sich nur unscharf von den Wertvorstellungen eines rationalistischen oder gar idealistischen Humanismus (z. B. Wertschätzung des Einzelnen, Anerkennung von Individualität und Selbstbestimmung, Geduld und der Hilfsbereitschaft etc.) unterscheiden. Aussagekräftiger scheinen da konkrete inhaltliche Themen zu sein, welche von der christlichen Tradition als unverzichtbar im Blick auf ein gelingendes menschliches Leben vor Gott erachtet werden und welche sie darum auch in einer professionellen Handlungsweise wiederfinden will, weil nur sie dem Christlichen seine Kontur verleihen und ihm seinen Wiedererkennungswert sichern.
Zu diesen Inhalten gehört vor allem ein bestimmtes Verständnis der menschlichen Geschichte, d. h. eine besondere Weise, die Biografie des Individuums sowie die Geschichte im Allgemeinen zu deuten. Aus dieser Sichtweise der Vergangenheit als eine solche mit einem Bezug von Welt und Mensch zu einem übergeordneten größeren Ganzen etwa im Sinne einer Bestimmung, einer Berufung durch Gott, resultiert auch die spezifische christliche Bedeutung von Gegenwart und Zukunft: Die Gegenwart als Glaubensentscheidung und die Zukunft als Hoffnung auf Erlösung und Wiederherstellung, wie dies in den Erzählungen der christlichen Tradition seit Jahrtausenden überliefert wird. An diesen führt kein Weg zur Beantwortung unserer Grundfrage vorbei. Das Christliche ist also eine spezifische Weise, die Geschichte als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Menschen im Blick auf Gottes Absicht zu deuten.
Das Problem, vor dem wir im Blick auf die christliche Soziale Arbeit stehen, ist zunächst eine Verschiebung all dessen, was die Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft (Staub-Bernasconi 2007) über sich selbst sagt, in das kontextuelle Umfeld jenes geschichtlichen Erzählungszusammenhanges der christlichen Tradition. Zudem geht es um die hermeneutische (das Verstehen ermöglichende) Vermittlung dieses Kontextes in der Gegenwart sowie um dessen Perspektive für die Zukunft. Ob dieses geschichtlich-perspektivische »Reframing« gelingt, muss an dieser Stelle noch offenbleiben. Was uns freilich bei all dem von vornherein zuversichtlich stimmt, ist die bestehende Praxis von Diakonie und christlicher Sozialer Arbeit, in welcher sich Menschen in einer entsprechenden Haltung der täglichen Herausforderung stellen und auf professionelle Weise darin zu bestehen versuchen. Das Faktum eines gelebten Glaubens in der Sozialen Arbeit ist daher der eine Anlass für das vorliegende Projekt, das Christliche in diesem Handlungsfeld zur Geltung zu bringen, der andere ist der über die motivationale Grundhaltung hinausgehende von uns postulierte qualitative Gewinn für die Profession als solche, wenn es gelingt, das Erbe der Mitmenschlichkeit und der Wertschätzung, des Trostes und der Hoffnung, wie es die christliche Tradition unter all den verfremdenden Phänomenen ihres geschichtlichen Handelns bewahrt hat, für die Soziale Arbeit fruchtbar zu machen.
Das Christliche begegnet zunächst als ein weltanschauliches Phänomen (wie andere religiöse Überzeugungen auch). Mit einer wissenschaftlichen Methode hat es als solches gar nichts zu tun. Um es tauglich zu machen, wissenschaftliches Denken zu unterstützen oder gar zu leiten, bedarf es einiger Zwischenschritte. Letztere haben u. a. die besonderen weltanschaulichen Inhalte und die entsprechende Begrifflichkeit so zu klären, dass eine systematische Wirklichkeitsrelevanz derselben deutlich wird und dass dadurch das Gespräch über die Grenzen des Kirchlichen hinaus möglich erscheint. All das ist im Wesentlichen ein philosophisches Unterfangen, dessen eigentliche Aufgabe darin besteht, so etwas wie christlich geprägte Wissenschaft überhaupt erst zu entfalten (was seit dem Mittelalter eine Aufgabe abendländischer Philosophie war und wohl noch ist). Eine umfassende christliche Philosophie, die sich dazu eignet, das weltanschauliche Phänomen des Christlichen in solcher Weise zu analysieren und zu ordnen, kann an dieser Stelle nicht entwickelt werden. Wir meinen aber, dass die Bemühungen der sog. »Reformational Philosophy«, wie sie im Gefolge von Kuyper im frühen zwanzigsten Jahrhundert von Dooyeweerd, Vollenhoven und Wolters sowie in der Gegenwart von Autoren wie Gertsemaa, Chaplin, Zuidervaard u. a. entwickelt wurde und wird, ausreichende Argumente für eine allgemeine wissenschaftliche Relevanz des Christlichen bieten. Für uns entscheidend ist dabei der Gedanke der epochalen »Grundmotive«, wie er von Dooyeweerd entwickelt wurde (Dooyeweerd 1979; Wolters 1983): In seiner Charakterisierung der westlichen Kultur betont dieser Autor, dass in ihrer Entwicklung verschiedene Grundmotive zur Debatte standen und stehen. Das jüdisch-christliche Grundmotiv von Schöpfung, Bruch (Fall) und Erlösung gilt als eines davon (neben Materie und Form als dem antiken, Natur und Gnade als dem mittelalterlichen sowie Natur und Freiheit als dem neuzeitlichen Grundmotiv). Dieses Grundmotiv eignet sich grundsätzlich als Referenz für christliches Denken. Philosophische und in der Folge wissenschaftliche Überlegungen, die sich darauf beziehen, sind vom Inhalt her als jüdisch-christlich zu bezeichnen. Das Christliche, nach dem wir hier fragen, ist also dasjenige, was sich explizit oder implizit auf die Aspekte der Schöpfung, des »Falls« oder Bruchs im Geschöpflichen sowie insbesondere auf den Aspekt der Erlösung (hierin wird sich das Christliche wohl auch definitiv vom Jüdischen unterscheiden) bezieht. Unser Bemühen besteht also darin, diesen Bezug theoretisch und praktisch zu erarbeiten und damit die Soziale Arbeit in den Kontext einer christlichen (oder genauer: reformierten) Philosophie zu stellen. Die Bedeutung dieser christlichen Philosophie besteht in der Grundlegung und Klärung dessen, was als christliches, d. h. auf Christus und seine Wirklichkeit in der Welt, bezogenes Denken verstanden werden soll. Mit anderen Worten: Es geht darum, wie aus Weltanschauung (d. h. einer mehr oder weniger subjektiven Überzeugung) ein strukturiertes und dynamisches Denken entstehen kann, das sich auch für wissenschaftliche Überlegungen eignet.
Das christliche Denken in der Sozialen Arbeit unterscheidet sich vom Humanismus nicht in erster Linie durch die darin vertretenen Werte, sondern durch das Augenmerk auf Schöpfung, Bruch und Erlösung, als dem Grundmotiv der jüdisch-christlichen Tradition.
Diese drei Schritte bilden gleichsam das Raster, das auf die zu beschreibenden Vorgänge gelegt wird. So dienen sie dazu, über die Soziale Arbeit aus christlicher Sicht nachzudenken.
Menschliches Denken und Handeln – so lautet die Prämisse – lässt sich auf die Elemente jenes Grundmotivs beziehen und erfährt dadurch eine qualitative Erweiterung im Sinne eines Wirklichkeitsgewinns, der für die menschliche Gemeinschaft ebenso relevant ist wie für den Einzelnen. Worin dieser Gewinn im Besonderen besteht, werden die nachfolgenden Darstellungen zur christlichen Sozialen Arbeit zu erläutern haben. Es lässt sich aber vorweg schon festhalten, dass mit der geschöpflichen Perspektive die Unverfügbarkeit des Lebens in all seinen Facetten, mit dem Motiv des Bruchs die Versehrtheit alles Menschlichen und mit der Erlösungsthematik die darin aufscheinende Hoffnung auf eine gerechte und sinnvolle Gegenwart und Zukunft explizit in die Soziale Arbeit eingebunden werden.
Abb. 1: Von der Weltanschauung zu einem wissenschaftlichen Denken (Übersicht).
Welche handlungsrelevanten Konsequenzen sich daraus für die einzelnen Arbeitsfelder ergeben, wird ebenfalls zu zeigen sein.
Prozessbeispiel: Lebensunterhalt von Menschen in prekären ökonomischen Verhältnissen
Die Lebenslage von Menschen in ökonomisch instabilen Umständen kann mit Hilfe des Grundmotivs von Schöpfung, Bruch und Erlösung folgendermaßen beschrieben werden: Die geschöpfliche Ordnung zeigt sich in der Notwendigkeit (Unverfügbarkeit von Alternativen), durch Lohnarbeit den Lebensunterhalt zu bestreiten. Je nach Arbeitsfeld erfordert dies vom Individuum ein Anerkennen von vorgegebenen Regeln und Bestimmungen. Diese erzeugen eine gewisse Spannung zu anderen Bedürfnissen und werden als teilweise Entfremdung erlebt. Dieser Bruch erzeugt wiederum ein gewisses Maß an Unbehagen (Gefühl von Versehrtheit), das den Menschen dazu bringt, sich nach Entlastung und Ruhe zu sehnen. Eine gerechte Arbeitszeitregelung gewährt ihm dies und verweist damit auf eine umfassende Gerechtigkeit (Hoffnung).
Im Falle von Personen, die nur dank mehrerer Jobs über die Runden kommen oder die trotz voller Arbeitsleistung keinen die Existenz sichernden Lohn erwirtschaften, ist die geschöpfliche Lage durch die Unverhältnismäßigkeit von Aufwand und Ertrag gekennzeichnet. Dieser verschärft den Bruch in der subjektiven geschöpflichen Ordnung und wird vom Individuum als Ungerechtigkeit der Verhältnisse oder als selbstverschuldete Unfähigkeit, die geforderten ordnungsstiftenden Leistungen zu erbringen, gedeutet. In beiden Fällen bedarf es der korrigierenden und kompensierenden Gerechtigkeit etwa durch entsprechende Mindestlohnregelungen oder durch staatliche bzw. öffentliche Unterstützungsleistungen.
Diese Beispiele zeigen, dass die Aufgabe der öffentlichen Institutionen darin besteht, die geschöpflichen Gegebenheiten menschlicher Lebensgestaltung zu stabilisieren und zu schützen, die Spannungen zwischen Notwendigkeit und Bedürfnissen der Individuen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren und wo dies nicht gelingt, kompensatorische (ausgleichende) Gerechtigkeit walten zu lassen.
Die drei Schritte des jüdisch-christlichen Grundmotivs lassen sich folgendermaßen beschreiben:
Erster Schritt: Das christliche Denken ist ein Verständnis von Welt, welches letztere als geschaffene und daher auf den Schöpfer verweisende sowie als dem Menschen im Horizont von Freiheit und Verantwortung anvertraute erkennt und bekennt.
Zweiter Schritt: Die Welt ist eine zerbrochene, wie der Mensch selbst. Das Eigentliche und Unmittelbare ist darin nicht mehr zugänglich, alles taugt im besten Falle zum Mittel, zum Lebensmittel, aber nicht zum Leben selbst. Selbst der Mitmensch unterliegt dieser Mittelbarkeit, er erscheint darin nicht als der Eigentliche, sondern als Symbol für den Anderen schlechthin (Mead 1968; Ricœur 2005). In dieser Verzerrung entfaltet sich menschliche Gesellschaft als Vexierbild des sie betrachtenden Selbst, welches sich in dieser Wirklichkeit zu erkennen sucht und dabei immer wieder scheitert. Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan spricht von der »Symbolischen Kastration« des Menschen (Lacan 1973) und meint damit dessen Unfähigkeit, durch die verzerrte Wirklichkeit hindurch zum Eigentlichen vorzudringen. Die christliche Soziale Arbeit hat dem Rechnung zu tragen. Dabei scheint es von Bedeutung zu sein, darauf hinzuweisen, dass gerade in einem christlichen Verständnis von Wirklichkeit, das sog. Diesseits und das sog. Jenseits, d. h. irdisches und göttliches Handeln, zwar aufeinander bezogen, aber stets auch unterschieden und getrennt betrachtet werden müssen! Die Natur muss gerade in ihrer Geschöpflichkeit als streng von ihrem Schöpfer losgelöst wahrgenommen werden, was freilich nicht heißt, dass letzterer nicht in seinem Werk präsent und aktiv gedacht werden kann.
Dritter Schritt: Mit der Erlösungserwartung für das Geschaffene ist für das christliche Denken und Handeln eine perspektivische, d. h. den Horizont des Erkennbaren überschreitende Erwartung verbunden, welche nicht lediglich auf ein Jenseits vertröstet, sondern welche als ihre gegenwärtige Repräsentantin die Gerechtigkeit einsetzt und diese in den verzerrten Verhältnissen der Welt vorantreibt. Traditionellerweise ist diese christliche Erlösungshoffnung an Person und Werk Jesu Christi gebunden. Sie werden mit jener Repräsentanz der Gerechtigkeit ins Zentrum gerückt. Also ist die Vergegenwärtigung des Christlichen stets auch eine Vergegenwärtigung des Christus. Dabei hat diese Aktualisierung nichts Einengendes und Dogmatisches an sich, vielmehr manifestiert sie sich in einer Form der Wahrnehmung und der Betroffenheit angesichts der Zerbrochenheit der Welt.
Hoffnung als perspektivische Aktualität2 ist ein eigentliches Merkmal christlicher Sozialer Arbeit und verweist über das Machbare hinaus auf eine geschenkte und unverfügbare Zeitlichkeit des Daseins unter durchaus irdisch-weltlichen Bedingungen. Darin entfaltet sich das Christliche als eine traditionsbewusste und zugleich weltoffene, aktive Handlungsbereitschaft, die sich durch das Scheitern in und mit dieser Welt nicht verdrießen lässt. Diese positive Aktualität macht die christliche Soziale Arbeit zu einer nach vorne ausgerichteten, der Zukunft verpflichteten Herangehensweise an soziale Problemstellungen, die nicht nur in der inneren Haltung der Fachpersonen festzumachen ist, sondern auch in der theoretischen Begründung, im Problemverständnis und in der methodisch-praxeologischen, d. h. die methodisch geprägte Praxis reflektierenden Umsetzung ihre eigene Kontur findet.
Fazit
1. Das »Christliche« ist eine spezifische Form von Wirklichkeits- und Weltbezug auf der Basis eines Grundmotivs, welches als theoretische, methodische und praktische Bezugsgröße die jeweiligen Überlegungen herausfordert und auf diese Weise prägt.
2. Dieses grundlegende Motiv wird hier als das jüdisch-christliche im Zeichen von Schöpfung, Bruch und Erlösung beschrieben.
3. Die Schöpfung verweist auf die Unverfügbarkeit des Lebens, während der Bruch auf die Versehrtheit der menschlichen Natur aufmerksam macht und die Erlösung schließlich die Hoffnung auf eine bessere und gerechtere Welt thematisiert.
4. Dabei ist von Bedeutung, dass Gott als der Schöpfer seiner Schöpfung gegenübersteht und nicht Teil derselben ist. Der Mensch hingegen ist und bleibt Teil der Schöpfung und ...