Passion und Auferstehung Jesu
eBook - ePub
Available until 5 Dec |Learn more

Passion und Auferstehung Jesu

Dimensionen des Leidens und der Hoffnung

  1. 320 pages
  2. English
  3. ePUB (mobile friendly)
  4. Available on iOS & Android
eBook - ePub
Available until 5 Dec |Learn more

Passion und Auferstehung Jesu

Dimensionen des Leidens und der Hoffnung

About this book

Mit einer Phänomenologie des Leidens soll in diesem Band ein neuer Zugang zu den letzten Tagen Jesu in Jerusalem gefunden werden. Jesus gerät in der "Heiligen Stadt" zunehmend ins "politische" Leiden, in den psychischen Kummer, in die soziale Vereinsamung, in den physischen Schmerz, in die religiöse Anfechtung bis zu seinem letzten Schrei am Kreuz. Die Darstellung endet aber nicht beim Desaster des Todes, sondern wendet sich auch dem Bekenntnis der Auferstehung Jesu zu. Es fällt auf, dass Theologen heute als Erben der Entmythologisierung kaum noch eine Fortexistenz des Personkerns über den Tod hinaus zu verkünden wagen. Mit dem Verschweigen der Auferstehung aber wäre nach Paulus das christliche Glaubensbekenntnis "hohl" und das Leiden "hoffnungslos" (1 Kor 15, 12ff.).

Frequently asked questions

Yes, you can cancel anytime from the Subscription tab in your account settings on the Perlego website. Your subscription will stay active until the end of your current billing period. Learn how to cancel your subscription.
No, books cannot be downloaded as external files, such as PDFs, for use outside of Perlego. However, you can download books within the Perlego app for offline reading on mobile or tablet. Learn more here.
Perlego offers two plans: Essential and Complete
  • Essential is ideal for learners and professionals who enjoy exploring a wide range of subjects. Access the Essential Library with 800,000+ trusted titles and best-sellers across business, personal growth, and the humanities. Includes unlimited reading time and Standard Read Aloud voice.
  • Complete: Perfect for advanced learners and researchers needing full, unrestricted access. Unlock 1.4M+ books across hundreds of subjects, including academic and specialized titles. The Complete Plan also includes advanced features like Premium Read Aloud and Research Assistant.
Both plans are available with monthly, semester, or annual billing cycles.
We are an online textbook subscription service, where you can get access to an entire online library for less than the price of a single book per month. With over 1 million books across 1000+ topics, we’ve got you covered! Learn more here.
Look out for the read-aloud symbol on your next book to see if you can listen to it. The read-aloud tool reads text aloud for you, highlighting the text as it is being read. You can pause it, speed it up and slow it down. Learn more here.
Yes! You can use the Perlego app on both iOS or Android devices to read anytime, anywhere — even offline. Perfect for commutes or when you’re on the go.
Please note we cannot support devices running on iOS 13 and Android 7 or earlier. Learn more about using the app.
Yes, you can access Passion und Auferstehung Jesu by Manfred Köhnlein in PDF and/or ePUB format, as well as other popular books in Theology & Religion & Theology. We have over one million books available in our catalogue for you to explore.

Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2015
eBook ISBN
9783170296190
Edition
1
Subtopic
Theology

Teil I Die Passion Jesu

Bei der Besprechung der Passionsgeschichte nehmen wir uns allerdings die Freiheit, nicht exakt nach der chronologischen Reihenfolge der Kapitel des Matthäusevangeliums vorzugehen, sondern seine Perikopen manchmal im Vorgriff, dann wieder im Rückgriff auf bereits überblätterte Abschnitte abzurufen, weil unser Auswahlprinzip die verschiedenen Phänomene des Leidens sind, wie sie im Inhaltsverzeichnis dieses Buches aufgelistet sind und dazu mal hier und mal da exegetisches „Material“ vorliegt. Die Evangelisten selbst haben in eigener freier Entscheidung für ihre Stoffe verschiedene Stellungen im Aufriss ihrer Bücher gewählt, wenn man die Evangelien miteinander synoptisch vergleicht. Der eine bringt eine Rede oder ein Gleichnis Jesu früher, der andere später im Ablauf seines „Lebens Jesu“. Im Grund genommen haben alle vier Evangelisten variabel nach dem Bausteinprinzip gearbeitet und die einzelnen Traditionsstücke nur lose miteinander durch wenige Rahmenangaben zum Ort und zur Zeit der berichteten Ereignisse verbunden. Wir beginnen unsere Auslegung mit den Ahnungen und Gefühlen Jesu zu Beginn seiner letzten Tage.

Dunkle Gefühle

Es ist ungewöhnlich, von Jesu Emotionen zu reden. Der Versuch einer Einfühlung in seine Gedanken, ob er sich bewusst war, was alles ihm in Jerusalem drohen konnte, wenn er es wagte, dort in der aufgeheizten Paschastimmung zu seiner Botschaft über „mehr Gerechtigkeit“ und konsequenter Gewaltlosigkeit zu stehen (Mt 3,15; 6,20), wird allzu leicht als Psychologisierung abgetan. Dabei wird jedoch in der herkömmlichen Darstellung der Karwoche durchaus Psychologie getrieben, wenn auch weniger bei der Berichterstattung des Leidens Jesu als vielmehr bei der Schilderung der Wirkung seiner Leiden auf die Gläubigen. Die meisten klassischen Passionspredigten und Passionslieder versenken sich geradezu ausschweifend in die Schuldgefühle der Gläubigen angesichts des Gekreuzigten, der „für uns“ leiden und sterben musste. Ein Höhepunkt dieser Mystik war schon immer in den protestantischen Gemeinden das Gesangbuchlied von Paul Gerhardt „O Haupt voll Blut und Wunden“24, ohne das es für die Evangelischen „nicht Karfreitag wird“. Der Christ steht mit seinem Gewissen erschüttert unter dem Kreuz seines „Heilands“. Er erschrickt über das „schimpfierte“ Angesicht Jesu25 und bezieht das Leiden Jesu unmittelbar auf sich selbst: „Nun, was du, Herr, erduldet, ist alles meine Last; ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast.“26 Dabei ist es bibelkundlich durchaus gerechtfertigt, von inneren Bedenken und Befürchtungen Jesu zu reden, wenn wir die Inkarnationslehre ernst nehmen und den „Sohn Gottes“ wirklich als Menschen geboren sein lassen, der weder eine bloße Ikone, noch eine kühle Statue war, sondern ein Herz und eine Seele hatte wie wir, wenn auch in größerer Tiefe und Weite.

1 Todesahnungen Jesu

Die Leidensweissagungen Mt 20,17–19 (Mk 10,32–34; Lk 18,31–33); Mt 17,22f. (Mk 9,30.32); Mt 16,21 (Mk 8,31–33; Lk 9,22)

17 Und Jesus zog hinauf nach Jerusalem und nahm die zwölf Jünger beiseite und sprach zu ihnen auf dem Wege: 18 Siehe, wir ziehen hinauf nach Jerusalem, und der Menschensohn wird den Hohenpriestern und Schriftgelehrten überantwortet werden; und sie werden ihn zum Tode verurteilen 19 und sie werden ihn den Heiden überantworten, damit sie ihn verspotten und geißeln und kreuzigen; und am dritten Tage wird er auferstehen.
Der schimpfliche Kreuzestod Jesu muss für seine Jünger und Jüngerinnen, die mit ihm nach Jerusalem „hinaufgezogen“ waren27, eine gruppendynamische und seelische Katastrophe gewesen sein28, welche die Evangelisten zumindest für die Leserschaft ihrer Bücher abzumildern versuchten, indem sie Jesus bereits in Galiläa schon lange vor seinem Pilgerzug in die Hauptstadt Jerusalem dreimal ankündigen ließen, dass ihm dort Unheil drohe. Niemand sollte meinen, der „Sohn Gottes“ sei unwissend und blind in seinen Untergang hineingestolpert. Die Evangelisten ließen Jesus dabei auch gleich die Vorhersagen seines Todes mit der Aufforderung zur Nachfolge verknüpfen, um ihren Mitchristen am Vorbild Jesu Mut zu machen, das Leidenmüssen nicht als Widerspruch zu ihrem Glauben an Jesus, sondern als einen integrativen Teil ihres eigenen christlichen Lebens zu verstehen.29 Aber wenn wir sagen „die Evangelisten ließen …“, klingt das so, als wäre das Vorherwissen Jesu ihre eigene Konstruktion, die sie ihm in den Mund legten. Dürfen oder gar müssen wir das annehmen?
Die zitierte letzte der drei Leidensweissagungen Jesu, die er auf seinem Pilgerweg nach Jerusalem seinen Jüngern offenbart haben soll, wird von allen drei Synoptikern überliefert. Sie ist die ausführlichste und soll deshalb auch für die beiden vorangegangenen stehen.30 Sie liest sich wie eine Chronik der Passionswoche. Das hat viele Exegeten dazu verleitet, sie und auch die beiden vorausgehenden Weissagungen als „vaticinia ex eventu“31, als nachträglich aus den geschehenen Ereignissen heraus konstruierte Prophezeiungen zu erklären, denn sie würden ja bereits beim irdischen Jesus ein göttliches Vorherwissen bis hin zu den Details „verspotten, geißeln, kreuzigen“ und vor allem die Kenntnis seiner Auferstehung voraussetzen (V. 19). Die Mehrheit der Ausleger hält heute die Leidensweissagungen Jesu für nachträglich konstruiert. Sie seien Jesus von den Schreibern der Evangelien in den Mund gelegt worden, um seine gottgleiche Begabung der Allwissenheit hervorzuheben. Aber gerade damit hätten die Evangelisten das Menschsein Jesu geschwächt. Hätte nämlich Jesus schon im Voraus genau gewusst, welches Martyrium auf ihn zukäme, hätte er sein Leiden nur durchhalten, aber nicht wahrhaft an ihm und Gott verzweifeln müssen, wie es sein Verlassensschrei am Kreuz bezeugt (Mt 27,46). Seine Passion wäre aufgrund seiner übernatürlichen Ausstattung im strengen Sinn nur eine Scheinpassion, aber kein wirkliches Leiden gewesen. Jesus wäre sich bereits vor seiner Kreuzigung seiner Auferstehung sicher gewesen (V. 19), so wie später die Urchristen aufgrund der Verkündigung der Auferstehung Jesu ihrer eigenen Auferweckung gewiss sein durften. Wohl werden Leidende zu allen Zeiten von Todesahnungen umgetrieben. Der moderne „Kult“ um die „Letztwilligen Verfügungen“ macht das Sterbenmüssen nur scheinbar zu einem rational bewältigbaren notariellen Akt. Niemand weiß im Voraus, wie seine letzte Stunde aussehen und was sein Bewusstsein im Sterben alles durchmachen wird. Im Grunde genommen sprechen die Vorhersagen Jesu nur die Weisheit aus, die schon ein alttestamentlicher Psalm formulierte: „(Herr), lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Ps 90,12). Wahrscheinlich wollten die Evangelisten ihrer Leserschaft mit den genauen Angaben der kommenden Passionsereignisse in Jesu Mund schon in der Mitte ihrer Bücher signalisieren, dass das tragische, schimpfliche Ende Jesu nicht willkürlich war, sondern Jesus (und hinter und über ihm Gott) durch sein Vorherwissen bis hin zum Ereignis der Auferstehung stets Herr der Lage blieb. Die irdischen Richter und Henker Jesu sollten für die Leser zu keinem Zeitpunkt über die Initiative des Geschehens verfügen.
„Und Jesus zog hinauf …“ (V. 17). Der „Rabbi“ aus Nazaret hat seine galiläischen Wanderungen beendet und beschließt nun, mit seinem Anhang über das Jordantal von Jericho aus den steilen Aufstieg hinauf zur Hauptstadt Jerusalem zu gehen (Mt 19,1; 20,29). Ein frommer Jude, zumal einer, der wie Jesus „Rabbi“ genannt wurde32, sollte jährlich zumindest eine Wallfahrt zum Jerusalemer Tempel unternehmen; wenn möglich an Pessach (Auszug aus Ägypten) oder an einem der beiden anderen großen, traditionellen Feste Schawuot (Wochenfest) oder Sukkot (Laubhüttenfest). Entsprechend feierlich war die Stimmung der Pilger beim „Hinaufziehen“ zum geographisch hoch gelegenen Jerusalem (V. 17) – ein Anlass, miteinander unterwegs Erwartungen und Fragen auszutauschen. Topographische Angaben haben in der Symbolsprache der Bibel nicht selten einen übertragenen Sinn. So kann mit „auf dem Wege“ (V. 18) hintergründig auch das geistige Unterwegssein, das Suchen nach Wahrheit und Gewissheit angedeutet sein. Mit welchem Selbstbewusstsein trat Jesus den Gang nach Jerusalem an? Schon beim Betreten des Jordantals bei Caesarea Philippi hatte Jesus seine Jünger gefragt: „Wer sagen die Leute, dass der Menschensohn sei?“ (Mt 16,13), als sei er sich selbst seiner Identität und Sendung unsicher gewesen. Petrus hatte ihm dabei als Sprecher der Jünger vollmundig geantwortet: „Du bist Christus (Messias), des lebendigen Gottes Sohn“, als wäre die Selbstbezeichnung Jesus als „Menschensohn“ nicht der Rede wert gewesen,33 woraufhin ihm Jesus die erste Leidensweissagung entgegenhielt, die aber Petrus nicht hören wollte34, weil sie nicht in seine Vorstellung eines herrscherlichen Messias passte.
Daraufhin war ein heftiges Streitgespräch zwischen dem Meister und seinem Schüler entbrannt, bei dem Jesus Petrus vorwarf, wenn er sich das Leidenmüssen nicht als zum „Menschensohn“ gehörig vorstellen könne, sei er geradezu ein „Satan“35 – als sei es eine der schlimmsten Versuchungen in der Nachfolge Jesu, das Leiden um jeden Preis zu scheuen. Und auch jetzt hier bei der dritten Leidensweissagung, nimmt Jesus wieder die Zwölf aus der Menge derer, die ihm nachfolgten36, „beiseite“ (V. 17), um ihnen vertraulich seine Todesahnungen mitzuteilen. Seine weitere Anhängerschaft und vor allem das Volk brauchten sie noch nicht zu wissen, weil Jesu Leiden keine Show werden sollte und nur ein Leidender selbst – und vielleicht noch seine Angehörigen – die Tiefe seines Leidens ermessen können. Doch auch beim dritten Mal seiner Leidensahnungen nehmen ihm die „Seinen“ nicht ab, dass eine äußerste Erniedrigung zum Schicksal eines „Messias“ gehören könne, denn anschließend macht sich die Mutter des Jakobus und Jakobus während des Aufstiegs nach Jerusalem an Jesus heran, um von dem „Messias“ das Versprechen von „Ministerposten“ für ihre Söhne in seiner kommenden Königsherrschaft über Israel zu erhalten (Mt 20,20–23), als ginge es auch in der Nachfolge Jesu, wie immer in der Welt, nur um Macht und Herrschaft. Es war also offensichtlich auch für die Jüngerinnen und Jünger Jesu undenkbar, dass Jesus sehenden Auges ins Leiden gehen wollte; und auch später, nach Ostern, blieb es für die Urchristen ein Schock, dass der „Menschensohn überantwortet“ worden war (V. 18f.).
Der Titel „Menschensohn“ und das Verb „überantwortet werden“ sind entscheidende Pfeiler der christlichen Passionsdogmatik. Sie bedürfen deshalb einer genaueren Betrachtung. Die Jünger und Apostel konnten das qualvolle Ende Jesu nur verkraften, indem sie es mit Gottes Willen begründeten und Jesus sein Martyrium bis in alle Einzelheiten vorherwissen ließen. Für sie war im nachösterlichen Rückblick der irdische Jesus bereits mit dem auferstandenen Christus des Glaubens identisch. Sie schrieben ihm schon als Wanderprophet übernatürliche Eigenschaften zu und sahen ihn schon zu seinen Lebzeiten mit der Glorie des himmlischen Gottessohnes versehen. Doch ist es glaubhaft, dass schon der irdische Jesus von Nazaret geradezu göttliche Wesenseigenschaften hatte? Ein Ja oder Nein entscheidet sich daran, was man unter dem seltsamen Begriff „Menschensohn“ verstehen darf. Drückte Jesus damit seine Hoheit oder seine Niedrigkeit, sein „Übermenschentum“ oder seine „Normalität“ aus? Konnte das Leidenmüssen Jesus wirklich schmerzen oder prallte es an seiner „übernatürlichen Ausstattung“ ab, falls er je eine solche besaß?
„Menschensohn“ (V. 18) ist die am häufigsten benützte Selbstbezeichnung Jesu. Sie ist innerhalb der Leidensweissagungen der einzige Anker, um vielleicht doch belegen zu können, dass Jesus sich tatsächlich seines kommenden Leidens bewusst war und die kommenden Ereignisse im internen Kreis seiner Jünger bereits auf ihrem gemeinsamen Weg nach Jerusalem angesprochen hat.37 Die Urgemeinden haben in ihrer Verkündigung nie den Titel „Menschensohn“ für Jesus benützt bzw. ihn immer nur Jesus selbst aussprechen lassen. Der Titel „Menschensohn“ war ihnen wohl zu schlicht für einen Messias. Sie bevorzugten „Christus“, der Gesalbte, im Sinne des Königs auf dem Thron. Aber selbst dann, wenn „Menschensohn“ eine höchsteigene Selbstbezeichnung Jesu war, bleibt umstritten, was Jesus darunter verstand und welche Identität er sich mit diesem Begriff gab. Es lassen sich nämlich drei Rollenverständnisse damit verbinden, die sich am besten darstellen lassen, wenn man auf ihre sprachlichen Wurzeln zurückgeht.38 Ein erster Gebrauch von „Menschensohn“ leitet sich aus dem aramäischen Begriff Bar-Enosch ab und hebt Jesus hoch hinauf. Er bezieht sich gemäß Dan 7,13f. auf ein apokalyptisches Weltende und versteht Jesus als den künftig kommenden, auf den Wolken des Himmels thronenden Weltenrichter. Würde dieses Verständnis in die Leidensweissagungen Jesu eingetragen, entstünde das Paradox, dass gerade der Mächtigste am meisten leiden musste. Die zweite Rückübersetzung des Begriffs „Menschensohn“ geht auf die hebräische Rollenbezeichnung „Ben-Adam“ im alttestamentlichen Buch Hesekiel zurück, wo der „Menschensohn“ als prophetischer Überbringer von Gottessprüchen verstanden wird (Ez 2,1; 3,17). Eine dritte Möglichkeit ist der Bezug auf das vulgäraramäische „Barnasch“ als generelle Bezeichnung für „jedermann, irgendwer, Mensch schlechthin“, gewissermaßen als „Menschenbruder“ im existenzphilosophischen Sinn, wozu der jüdische Exeget Schalom Ben-Chorin neigt. Nach ihm hätte sich Jesus mit der Selbstbezeichnung „irgendein Mensch, jedermann“ ganz und gar unter die Menschen und nicht über sie gestellt. Er hätte damit bekannt, dass auch zu seinem Dasein Leidenserfahrungen wie Heimatlosigkeit, Hunger, Missverstanden- und Verhöhntwerden gehören konnten. Auch wir neigen zu dieser dritten Deutung.39
Wahrscheinlich hat Jesus überhaupt glorifizierende Hoheitstitel abgelehnt und sich solidarisch mit seinen Mitmenschen mit einfachen Anreden wie Rabbi, Heiler, Helfer, Freund, Diener begnügt; zum Beispiel, wenn er sagte: „Der Größte unter euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht“ (Mt 23,11f.). Die Leidensweissagungen wurden wohl von den Urchristen nachösterlich in der Rückschau auf Jesu Leben mit seinen Leidensstationen ausgestattet, wobei die Selbstbezeichnung „Menschensohn“ als Kern noch die „Demut“ anklingen lässt, mit der es Jesus an erster Stelle nicht um seine Person, sondern um seine Botschaft und sein Wirken ging. Wenn er mit seinen treuesten Anhängern überhaupt über das Risiko seines störenden Verhaltens sprach, dürfte er sich gewiss gewesen sein, wie sehr er die Herrschenden mit seiner Kritik an Macht und Herrlichkeit provozierte: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme“ (Mt 19,24). Oder: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene …“ (Mt 20,28). Jesus ahnte wohl bereits beim „Hinaufzug“ nach Jerusalem, dass ihm an diesem Pascha nichts Gutes bevorstand, ohne im Voraus sein Schicksal genau abzusehen. Ob er allerdings sogar mit einem todbringenden „Übergebenwerden40 als Gotteslästerer und Revolut...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Einleitung
  7. Teil I Die Passion Jesu
  8. Teil II Die Auferstehung Jesu
  9. Teil III Symbole der Hoffnung