Schmerzen und Schmerzmittelabhängigkeit im Alter
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Schmerzen und Schmerzmittelabhängigkeit im Alter

Die gerontopsychiatrische Perspektive

Dirk K. Wolter

  1. 348 pages
  2. German
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Schmerzen und Schmerzmittelabhängigkeit im Alter

Die gerontopsychiatrische Perspektive

Dirk K. Wolter

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Pain is one of the most frequent health complaints among older people. Neuropsychiatric disturbances can severely affect the experience of pain. This volume describes the origins of pain from the viewpoint of gerontological psychiatry, discusses the importance of neuropsychopharmaceutic agents in pain therapy, and presents effective nonmedicinal psychiatric and psychotherapeutic forms of treatment. Interactions between pain and addiction, ranging up to dependency on painkillers, are discussed.

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Information

Year
2016
ISBN
9783170306455
Edition
1
Subtopic
Geriatria

1 Einleitung

Wer Schmerzen verspürt, sucht gern nach einer Erklärung, einer Ursache. In unserem technisierten Zeitalter mit seinem hochgerüsteten Medizinbetrieb werden hierfür die verschiedensten technischen Untersuchungsverfahren angeboten, von einfachen Laboruntersuchungen bis hin zur Kernspintomographie. Doch oft, ja sogar sehr oft, gibt es eine erhebliche Diskrepanz zwischen solchen apparativen Befunden einerseits und der subjektiv erlebten Schmerzintensität und den funktionellen Beeinträchtigungen andererseits. Eine Diskrepanz in beide Richtungen: schwerste degenerative Veränderungen an der Wirbelsäule können ein Zufallsbefund sein bei Menschen, die keinerlei bedeutsame Beschwerden haben, und umgekehrt können erhebliche Funktionseinschränkungen und massive Schmerzklagen vorliegen, obwohl die bildgebenden Untersuchungen mehr oder weniger nichts Pathologisches zeigen. Das gilt auch im Alter. Für Funktionseinschränkungen und Behinderungen im Alltag sind organmedizinische Befunde nicht ausschlaggebend (Weiner 2015, Weiner et al. 2004), was interessanterweise nicht nur für Menschen gilt, sondern auch im Tierversuch gezeigt werden konnte (McDougall et al. 2009). Eine Eskalation von unnötiger technischer Untersuchungen ohne erkennbaren Nutzen ist oft die Folge (Weiner 2015). Die moderne naturwissenschaftlich ausgerichtete Medizin reagiert auf (chronische) Schmerzen mit einer Eskalation von apparativer Diagnostik und Pharmakotherapie, die aber nicht immer zu einem befriedigenden Ergebnis führt: chronische Nicht-Tumorschmerzen (CNTS) können extrem hartnäckig und therapieresistent sein und die Behandler mitunter zur Verzweiflung bringen, weshalb sie auch schon als »Koryphäen-Killer-Syndrom« bezeichnet wurden (Beck 1977).
Der Göttinger Schmerzmediziner Jan Hildebrandt, einer der Wegbereiter für ein modernes Verständnis chronischer Rückenschmerzen in Deutschland, hat diese paradoxe Situation folgendermaßen beschrieben: »Nur etwa 20% der Rückenbeschwerden und Ischialgien werden heute als spezifisch bezeichnet. Hierin sind schwerwiegende Ursachen wie Metastasen und Spondylitiden, rheumatische und metabolische Erkrankungen ebenso eingeschlossen wie radikulär bedingte Syndrome. Die weit überwiegende Mehrzahl der Schmerzen aufgrund von Veränderungen in den Bandscheiben, Facetten- und Iliosakralgelenken, Bändern oder der Muskulatur aber muss als unspezifisch bezeichnet werden, da weder anamnestische Hinweise noch klinische Untersuchungen einschließlich radiologischer Nachweise existieren, um eine sichere Zuordnung zum Schmerz zu gewährleisten. Darüber hinaus sind auch die therapeutischen Konsequenzen aus einer näheren Zuordnung von Struktur zum Schmerz derzeitig unklar. Bei akuten Rückenschmerzen ist eine genauere Differenzierung wegen des schnellen Rückgangs der Beschwerden unnötig, bei chronischen sind psychische Faktoren wie Schmerzverhalten und Schon/Vermeidungs-Einstellungen wesentlich wichtiger als strukturelle oder funktionelle Veränderungen.« (Hildebrandt 2004)
Dabei sind Schmerzen wichtig als Warnsignal vor drohenden Gesundheitsschäden, und zwar nicht nur auf der bewussten Ebene, sondern auch innerhalb der unbemerkt ablaufenden Prozesse in unserem Organismus (
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Infobox 1.1).

Infobox 1.1: Der bellende Wachhund der Gesundheit

Das geflügelte Wort vom Schmerz als dem bellenden Wachhund der Gesundheit wird den alten Griechen zugeschrieben (Bromm 2003). Wie sehr diese Metapher zutrifft, veranschaulicht das folgende Beispiel:
»Eine kanadische Frau, die mit einer Indifferenz für schmerzhafte Reize geboren wurde, hatte ansonsten keine sensorischen Defizite und war durchaus intelligent. Obwohl sie früh darauf trainiert wurde, schädlichen Situationen auszuweichen, kam es zu einer Degeneration der Gelenke und der Rückenwirbel, was schließlich zu einer Skelettdeformation, zu Degeneration, Infektion und letztendlich zum Tod im Alter von 28 Jahren führte. Offenbar ist eine geringe Aktivität der Nozizeptoren im Alltag wichtig, um zu signalisieren, dass eine bestimmte Bewegung oder eine länger eingenommene Körperhaltung den Körper zu sehr beansprucht. Sogar während des Schlafens scheinen die Nozizeptoren dafür zu sorgen, dass man sich genügend dreht und wendet, um Verspannungen und ein Wundliegen zu verhindern. Menschen, die erblich bedingt keine Schmerzen empfinden, machen deutlich, dass der Schmerz eine separate Sinnesempfindung ist und sich nicht einfach aus einem Übermaß der anderen Sinnesempfindungen ergibt. Die betroffenen Personen sind für gewöhnlich dazu in der Lage, ganz normal auf andere somatosensorische Sinnesreize zu reagieren. (…) Auf jeden Fall ist ein Leben ohne Schmerz kein Segen.« (Bear et al. 2009, S. 453; Hervorhebung im Original)
Doch der Weg vom Schmerzreiz (Nozizeption) zum Schmerzerleben ist lang und kompliziert. Der Fußballer, der im Rausch eines dramatischen wichtigen Spiels eine klaffende, blutende Wunde überhaupt nicht bemerkt, oder der berühmte Fakir auf dem Nagelbrett sind Beispiele dafür, wie trotz offensichtlicher Verletzung bzw. Reizung von Nozizeptoren keine Schmerzen empfunden werden (Bromm 2003). Schmerzen können sich aber auch verselbständigen, sodass ein eigentlich harmloser Berührungsreiz eine heftige Schmerzreaktion auslöst. Schmerz kann chronisch werden, ja er kann selbst dann empfunden werden, wenn das betreffende Körperteil gar nicht mehr existiert (Phantomschmerz). Die Reizung eines Nozizeptors ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung dafür, dass wir Schmerzen wahrnehmen. Diese Zusammenhänge werden in Kapitel 2 erläutert.
Doch das Erleben von Schmerzen ist noch einmal etwas Anderes als die bloße Wahrnehmung.
Das Sich-Hineinsteigern in dunkle, sorgenvolle Gedanken, das Grübeln über mögliche Ursachen und Katastrophenphantasien über mögliche Folgen, Deprimiertheit, Ärger und Anspannung bewirken, dass Schmerzen schlimmer empfunden werden als es in einem entspannten Zustand mit positiven Gefühlen der Fall wäre. Überwachsam auf Schmerzen zu warten, die ganze Aufmerksamkeit darauf zu konzentrieren, ist eine treffliche Voraussetzung dafür, dass es richtig weh tut. Und Angst ist kein guter Ratgeber, wenn es darum geht, wie man sich angesichts von Schmerzen verhalten soll. Die wechselseitegen Zusammenhänge kommen auch zum Ausdruck in alltagssprachlichen Begriffen, wenn etwa die Rede ist vom »Abschiedsschmerz«, wenn es heißt, jemand ist »rasend vor Schmerz« oder dass es »in der Seele weh tut«.
Kapitel 3 will zu verstehen helfen, auf welch vielfältige Art und Weise sich Geist und Seele auf den langen und komplizierten Weg vom Schmerzreiz zum Schmerzerleben auswirken und das Endergebnis, nämlich das Schmerzerleben, wesentlich beeinflussen (
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Abb. 1.1).
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Abb. 1.1: Vom Schmerzreiz zum Schmerzerleben Nach Tracey 2008, modifiziert
Es gibt viele Klischees über Schmerzen im höheren Lebensalter, Klischees wie sie widersprüchlicher kaum sein könnten:
• Schmerzen sind bei alten Menschen häufiger als bei jüngeren.
• Alte Menschen haben weniger Schmerzen als jüngere.
• Alten Menschen haben zwar mehr Schmerzen, aber Schmerzen gehören unabänderlich zum Alter.
• Alte Menschen sind zwar weniger schmerzempfindlich als jüngere, jammern aber mehr, sodass daraus der fälschliche Eindruck entsteht, Schmerzen wären im Alter häufig.
• Die verschiedenen Elemente der schmerzverarbeitenden Systeme altern gleichsinnig und gleich schnell (Gagliese 2009, Molton & Terrill 2014).
Keines dieser Klischees – so viel sei bereits an dieser Stelle verraten – trifft in dieser Form zu. Aber sie markieren entscheidende Fragestellungen für die Gerontologie und die Altersmedizin; in Kapitel 4 wird versucht, Antworten auf diese Fragen zu geben.
Mit Kapitel 5 beginnt der klinische Teil dieses Buchs; hier geht es zunächst darum, wie sich die in Kapitel 3 beschriebenen psychischen Zusammenhänge, Biografie und Persönlichkeit auf die Präsentation von und die Kommunikation über Schmerzen auswirken – Fragen, die für die Begegnung zwischen chronischen Schmerzpatienten und dem »Medizinbetrieb« alles andere als unwichtig sind.

Infobox 1.2 Schmerz – die Definition der IASP (International Association for the Study of Pain)

Schmerz ist eine unangenehme sensorische und emotionale Empfindung, die im Zusammenhang mit einer aktuell vorliegenden oder potenziellen Gewebeschädigung steht oder mit den Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.
Zur Beachtung:
Das Fehlen verbaler Kommunikationsmöglichkeiten schließt nicht die Möglichkeit aus, dass eine Person Schmerzen erlebt und einer angemessen schmerzlindernden Behandlung bedarf. Schmerz ist immer subjektiv. Jedes Individuum erlernt schon früh im Leben den Gebrauch des Begriffes Schmerz durch Erfahrungen im Zusammenhang mit Verletzungen. Biologen gehen davon aus, dass die Reize, die Schmerzen auslösen, auf Gewebsschädigungen zurückzuführen sind. Dementsprechend ist Schmerz die Empfindung, die wir mit einer aktuell vorliegenden oder potenziellen Gewebeschädigung verbinden. Es handelst sich zweifellos um eine Empfindung in einem oder mehreren Teilen des Körpers, aber es ist auch stets unangenehm und deshalb auch eine emotionale Empfindung. Empfindungen, die Schmerzen ähneln aber nicht unangenehm sind, wie z. B. ein Prickeln, sollten nicht als Schmerz bezeichnet werden. Unangenehme abnorme Empfindungen (Dysästhesien) können schmerzhaft sein, sind es aber nicht unbedingt, weil es sein kann, dass sie subjektiv nicht die sensorische Qualität von Schmerzen haben. Viele Menschen geben Schmerzen an, ohne dass eine Gewebeschädigung oder eine vergleichbare pathophysiologische Ursache vorliegt; gewöhnlich sind psychische Gründe dafür verantwortlich. Es ist gewöhnlich nicht möglich, auf Grundlage der subjektiven Schmerzschilderung diese Empfindungen von solchen Empfindungen zu unterscheiden, die auf eine Gewebeschädigung zurückgehen. Wenn die Betroffenen ihre Empfindungen als Schmerzen ansehen und wenn sie sie in derselben Weise schildern wie Schmerzen aufgrund von Gewebeschädigungen, so sollten sie als Schmerzen akzeptiert werden. Diese Definition vermeidet eine feste Verknüpfung von Schmerz mit dem Schmerzreiz. Eine durch einen nozizeptiven Reiz ausgelöste Aktivität im Nozizeptor oder in den nozizeptiven Leitungsbahnen ist kein Schmerz, Schmerz ist vielmehr immer ein psychischer Zustand, selbst wenn wir meist davon ausgehen mögen, dass Schmerzen eine naheliegende körperliche Ursache haben.
(IASP 2012)
So wenig wie Schmerzen »objektiv« und rein organmedizinisch zu erklären sind, so wenig sind sie andererseits bloße »Einbildung«. Natürlich gibt es körperliche Ursachen, die bei jedem Menschen zu (mehr oder weniger intensiv erlebten) Schmerzen führen. Und so wie Geist und Seele das Schmerzerleben beeinflussen, so wirken sich Schmerzen auf Geist und Seele aus. Diese Auswirkungen können bis zur Auslösung oder Verschlimmerung von psychischen Erkrankungen bzw. psychischen Störungen führen. Umgekehrt ist das Schmerzerleben bei vielen dieser Erkrankungen und Störungen in besonderer Weise verändert. Diese Wechselbeziehungen sind Gegenstand von Kapitel 6, wobei hier neben »rein« psychiatrischen Problemfeldern auch wichtige neuropsychiatrische Krankheitsbilder berücksichtigt werden, denen Gerontopsychiater immer wieder begegnen.
Wenn psychische Störungen als Auslöser oder Modulator von Schmerzzuständen und umgekehrt diese als Auslöser oder modifizierender Faktor für psychische Störungen so bedeutsam sind, liegt nahe, dass Psychopharmaka in der Schmerzbehandlung eine Rolle spielen können. In der Tat werden manche Medikamente aus dieser Gruppe als Koanalgetika eingesetzt. Warum einige Psychopharmaka hierbei wirksam sind und andere nicht, worin diese Wirkungen bestehen und wo die Grenzen sind, wird in Kapitel 7 ausführlich dargestellt.
In Kapitel 6 wurde zunächst eine Gruppe psychischer Störungen ausgeklammert, die nun separat in Kapitel 8 behandelt wird, nämlich die Suchterkrankungen. Ein Grund für diese Sonderbehandlung ist der bekannte Umstand, dass nicht zu selten aus der Behandlung einer Krankheit eine neue, andere erwächst, nämlich der Missbrauch oder die Abhängigkeit von Schmerzmitteln. Weniger geläufig ist ein weiterer Grund, nämlich die engen neuroanatomischen und neurophysiologischen Beziehungen zwischen Suchtentstehung und Schmerzverarbeitung. Wegen der besonderen Bedeutung, aber auch wegen der besonders zahlreichen Unklarheiten werden die Opioidanalgetika (OA) in einem eigenen Kapitel 9 ausführlich behandelt, bevor in Kapitel 10 die Frage erörtert wird, ob es auch eine Abhängigkeit von Nicht-Opioidanalgetika gibt. Die Besonderheiten der Schmerzbehandlung bei Suchterkrankungen werden in Kapitel 11 diskutiert.
Zum Abschluss gibt Kapitel 12 einen Überblick über die nichtmedikamentösen psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten be...

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