II. PhÀnomene und Konstrukte
Zwischen SubjektivitÀtstheorie und naturwissenschaftlichem Weltbild
Skizze einer zeitgemĂ€Ăen Form von Vermittlungstheologie
Joachim Weinhardt
Die naturwissenschaftliche Theoriebildung hatte auf die evangelische Theologie von Anfang an einen Einfluss, der kaum ĂŒberschĂ€tzt werden kann. Luthers Ablehnung des kopernikanischen Weltbildes lĂ€sst blitzartig die bis heute nicht aufgelöste Problematik aufleuchten, dass sich das neugewonnene Kriterium von sola scriptura â die Schrift alleine â sehr bald von der Interpretation tota scriptura â die ganze Schrift â abgrenzen musste. Auch wenn man Wert auf den Hinweis legt, dass Luther selbst sachkritisch Widerspruch einlegte gegen Aussagen des HebrĂ€er- und des Jakobusbriefes sowie gegen die Apokalypse und dass er deswegen diese Schriften auch gerne aus dem Kanon verbannt hĂ€tte, so muss doch zugestanden werden, dass die Reformation im GroĂen und Ganzen einen Umgang mit der Bibel eröffnete, den wir heute als biblizistisch bis fundamentalistisch bezeichnen wĂŒrden, wĂ€ren diese Begriffe nicht anachronistisch. Denn selbstverstĂ€ndlich bedeutete der Biblizismus der Reformatoren einen kritischen RĂŒckschnitt der mittelalterlichen Theologie, wĂ€hrend der heutige â im akademischen Bereich kaum vertretene â kreationistische Fundamentalismus eine kritikscheue Reaktion gegen die wissenschaftliche Theologie darstellt.
Das naturwissenschaftliche Weltbild nötigte also die neuzeitliche Theologie zunĂ€chst dazu, ihren Gegenstand unverkĂŒrzt so zu bestimmen, dass er dem nicht mit GrĂŒnden bestreitbaren heliozentrischen Weltbild nicht widersprechen musste. Die Naturwissenschaften bekamen damit exegetische Hilfskompetenzen zugesprochen. Ihre Stimme konnte nicht ungehört bleiben, wenn die Theologie die Grenzlinie zwischen weltbildhafter Form und religiösem Gehalt biblischer Vorstellungen zu bestimmen versuchte.
Die protestantische Theologie ist noch heute nicht mit der Fixierung dieser Grenzlinie fertig geworden, und zwar nicht einmal in den groben VerlĂ€ufen; und dies nicht deswegen, weil sich in den letzten Jahren neue Probleme in dieser Hinsicht ergeben hĂ€tten. Die letzte gröĂere Krise dieser Art bestand in der Entdeckung der Evolution der Lebewesen, und diese Krise wurde recht bald durchstanden, insofern die groĂen Kirchen die Evolutionstheorie stillschweigend oder explizit rezipierten. Wir sind in der Theologie aber noch immer in der viel Ă€lteren Debatte der spĂ€ten AufklĂ€rungszeit gefangen, genauer gesagt im Streit zwischen Rationalismus und Supranaturalismus. Noch immer ist die Frage nach der Auferstehung Jesu von den Toten in fast derselben Weise umstritten wie seit 1800, noch immer ist die Frage nach dem VerhĂ€ltnis der Wirklichkeit der Welt und der Wirklichkeit Gottes kontrovers. Die Auferstehung Jesu und die allgemeine Frage nach dem Wirken Gottes in der Welt sind Themen, bei welchen die Naturwissenschaften von Theologen oft und zurecht berĂŒcksichtigt werden. Die VerhĂ€ltnisbestimmung zwischen Exegese und Dogmatik einerseits und den Naturwissenschaften andererseits ist ein wesentlicher Indikator fĂŒr die PositionalitĂ€t der theologischen EntwĂŒrfe auch des 20. und 21. Jahrhunderts.
Im Folgenden werden zunĂ€chst zwei Theologen dargestellt, die in der Auseinandersetzung mit der Geschichte ihrer Wissenschaft versuchen, den Ansatz fĂŒr eine gegenwartstaugliche dogmatische Position zu umreiĂen. Der eine erklĂ€rt dabei den Dialog mit den Naturwissenschaften fĂŒr unerheblich, der andere intendiert mit Hilfe von naturwissenschaftlichen Theorieelementen eine âVersöhnungâ von Glaube und Vernunft (1). In einem zweiten Schritt werden diese Positionen einer kritischen Reflexion unterzogen (2), und schlieĂlich soll auf der Grundlage dieser Kritik die Skizze einer gegenwĂ€rtig verantwortbaren Dogmatik entworfen werden (3).
1. Theologiegeschichtlich begrĂŒndete Positionen gegenwĂ€rtiger Theologie
a) Ulrich Barth: Schleiermacher â die Zukunft des Protestantismus
âDie AktualitĂ€t von Schleiermachers religionstheoretischem Modernisierungsprogramm liegt vor allem darin, daĂ es ihm gelungen ist, sowohl den spezifisch neuzeitlichen Theoriebedingungen als auch den modernitĂ€tsspezifischen Kulturbedingungen Rechnung zu tragen.â311
Mit dieser und vielen anderen ĂuĂerungen macht Barth klar, dass er die theologischen Aufgaben der Gegenwart von der Position Schleiermachers aus fĂŒr lösbar hĂ€lt. Er nimmt dem entsprechend den Ausgangspunkt seiner eigenen Positionierung bei Schleiermachers berĂŒhmter Definition von Religion: Religion ist das GefĂŒhl schlechthinniger AbhĂ€ngigkeit312. Ăber diesen Satz gibt es schon eine ganze Bibliothek von Interpretationen, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden muss. Fest steht, dass Schleiermacher mit dem Terminus GefĂŒhl eine konkrete Seelenregung bezeichnet, die mir als solche bewusst wird: GefĂŒhl ist eine Form von Selbstbewusstsein. Allerdings ist in diesem Selbstbewusstsein noch kein Objekt, kein kognitiv fassbarer Gegenstand gesetzt. Um ein Beispiel zu bilden: Schleiermacher könnte als GefĂŒhl den Zustand von starkem Schmerz bestimmen, der mir zu Bewusstsein kommt, aber noch ohne Bewusstsein der Lokalisation des Ortes der Schmerzempfindung oder gar einer bewussten Ursache des Schmerzes. Der Bewusstseinszustand hingegen: âIch bin mir eines Schmerzes bewusst, den ich an der linken Hand fĂŒhle, weil ich ins Feuer gefasst habeâ, wĂ€re aufgrund seiner objektiven Bestimmungen kein unmittelbares Selbstbewusstsein mehr313.
Was ist unter der Religion als dem GefĂŒhl schlechthinniger AbhĂ€ngigkeit zu verstehen? Schleiermacher erklĂ€rt so: Wir können auf alle Dinge der Welt einerseits aktiv einwirken, wir sind aber andererseits auch von allen Dingen in der Welt abhĂ€ngig. BezĂŒglich eines jeden Dinges können wir also ein Bewusstsein von AbhĂ€ngigkeit einerseits und Freiheit andererseits haben314. Das Bewusstsein etwa, auf Autos einwirken zu können, aber auch von ihnen abhĂ€ngig zu sein, ist kein GefĂŒhl im Sinne Schleiermachers, weil es gegenstĂ€ndliche, objektivierte Inhalte hat. Es handelt sich hier auch um keine schlechthinnige AbhĂ€ngigkeit, weil diese erfordern wĂŒrde, dass wir vom Auto nur abhĂ€ngig wĂ€ren und keinerlei Freiheit hĂ€tten, auf es einzuwirken. Wenn Religion das GefĂŒhl schlechthinniger AbhĂ€ngigkeit sein soll, dann muss es einen Bezugspunkt geben, von dem wir uns abhĂ€ngig zu sein bewusst sind, ohne diesen Bezugspunkt schon begrifflich im Bewusstsein zu haben. Der objektive Bezugspunkt des GefĂŒhls bleibt im GefĂŒhl ausgeblendet so wie der Ort und die Ursache des gefĂŒhlten Schmerzes im obigen Beispiel. AuĂerdem muss das Selbstbewusstsein ein schlechthin, also absolut abhĂ€ngiges sein, so dass jede Vorstellung einer Einwirkung meinerseits in Richtung jenes ausgeblendeten Bezugspunktes ausgeschlossen ist315.
Diese AusfĂŒhrungen Schleiermachers sind in mehrfacher Hinsicht problematisierbar. Zum einen, ein GefĂŒhl schlechthinniger AbhĂ€ngigkeit ist rein psychologisch nicht gut im Bewusstsein aufzurufen. Doch es mag zugestanden werden, dass ein solcher Zustand am Ende einer EinĂŒbung in bestimmte Meditationswege erreicht werden kann. Weiter erlaubt Schleiermacher, dass das GefĂŒhl der schlechthinnigen AbhĂ€ngigkeit verschiedene FĂ€rbungen im Spektrum von Freude und Leid einnimmt316. Allerdings zeigt sich hier schon eine starke Einmischung von faktisch christlichen Vorstellungen in seine intendierte apriorische Gedankenentwicklung. Denn indem er das schlechthinnige AbhĂ€ngigkeitsgefĂŒhl in seiner höchsten Stufe als âVertrauen auf Gottâ bestimmt, verschlieĂt er sich den Blick darauf, dass dieses unmittelbare Selbstbewusstsein auch in seinem Spitzenniveau nicht nur in der FĂ€rbung âIch fĂŒhle mich absolut geborgenâ vorkommen könnte. Eine eher lustlosere Variante wĂ€re möglicherweise Albert Camus GefĂŒhl der AbsurditĂ€t des Daseins, in dem ausgedrĂŒckt ist, dass der Mensch mit allen seinen Hoffnungen, WĂŒnschen und AktivitĂ€ten einem Universum gegenĂŒbersteht, das ĂŒber ihn hinwegwalzt, ohne ihn zur Kenntnis zu nehmen317. Es erscheint aus diesem Grund dann auch fraglich, ob es ĂŒberhaupt Modulationen des GefĂŒhls der schlechthinnigen AbhĂ€ngigkeit geben kann, ohne dass dabei schon metaphysische Konstrukte mitgesetzt wĂ€ren, also kognitive Inhalte, die den Schleiermacherschen GefĂŒhlsbegriff dann sprengen wĂŒrden.
Eine um vieles gröĂere Schwierigkeit liegt jedoch in der weiter gehenden Aussage Schleiermachers, dass eine IdentitĂ€t bestehe zwischen den SĂ€tzen: âWir sind uns unserer selbst als schlechthin abhĂ€ngig bewusstâ und âWir sind uns unserer selbst als in Beziehung mit Gott bewusstâ318. Anders und noch bezeichnender formuliert Schleiermacher auch: Gott ist das Woher des schlechthinnigen AbhĂ€ngigkeitsgefĂŒhls319.
In dieser Gleichsetzung wird folgendes Grundproblem der Theologie Schleiermachers sichtbar: Entweder liegt hier ein analytisches Urteil vor, dann ist das Wort âGottâ nichts anderes als eine inhaltsleere Bezeichnung. Denn das Bewusstsein der schlechthinnigen AbhĂ€ngigkeit enthĂ€lt keinerlei begrifflich erfasstes Objekt. Also ist der Terminus âGottâ begrifflich nicht bestimmt. Wie soll man dann aber ĂŒber âGottâ Aussagen machen, wenn man als Mitglied einer Religion oder gar als Theologe von ihm sprechen will? Es gibt Hinweise dafĂŒr, dass Schleiermacher der Meinung war, dass jeder âGottâ die Eigenschaften zuschreiben möge, die ihm kulturell naheliegen. Der Christ sagt etwa: Unter âGottâ verstehen wir den Begleiter der Geschichte Israels und den Vater Jesu Christi, wĂ€hrend der Hindu formulieren könnte: Unter âGottâ verstehen wir das Walten des Gesetzes von Wiedergeburt und Karma. Einem reinen Positivisten stĂŒnde die Möglichkeit offen zu erklĂ€ren: Was ihr mit âGottâ bezeichnet, ist fĂŒr mich das Grundgesetz der kosmischen Entwicklung, die Differenzialgleichung, von der alles in der Welt und damit auch ich schlechthin abhĂ€ngig bin. Schleiermacher erweckte bei zahlreichen Kritikern den Eindruck, dass er in der Glaubenslehre mit dem Wort âGottâ nicht notwendig ein persönliches Wesen bezeichne. Er wĂŒrde dann unter âGottâ nicht den Vater Jesu Christi verstehen, sondern eine letzte Einheit hinter der VielfĂ€ltigkeit des Weltprozesses, den namenlosen Urgrund des Seins, wie immer dieser auch beschaffen sein mag320.
Aber man kann Schleiermacher andererseits auch so lesen, dass er in der Einleitung seiner Glaubenslehre lediglich aufweisen möchte, dass jeder Mensch irgendeinen Begriff einer letzten, begrifflich nicht fassbaren Wirklichkeit entwickeln muss, wenn er nur tief genug denkt. Alle denkenden Wesen mĂŒssten bei der Selbstreflexion an einen Punkt kommen, an dem sie fĂŒhlen: âEs muss eine letzte Einheit geben, welche die Ursache oder der Grund von allem ist.â Wir können aber diesen Grund nicht gedanklich erschlieĂen, daher wird er in den verschiedenen Kulturen mit unterschiedlichen Inhalten identifiziert. Wir Christen glauben entsprechend, dass der letzte Grund der Welt tatsĂ€chlich der Vater Jesu Christi sei. Die östlichen Religionen haben als strukturanaloge Inhalte das Gesetz von Karma und Wiedergeburt, und Ernst HĂ€ckel identifiziert den Urgrund mit der ewig evolvierenden Natur321. Der Satz: âDas Woher des schlechthinnigen AbhĂ€ngigkeitsgefĂŒhls ist der Vater Jeus Christiâ wĂ€re dann ein synthetisches Urteil. Es wĂŒrde damit behauptet: Was alle Menschen als Grenze des Denkens anerkennen, aber nicht erkennen können, das glauben wir in der Person und im Geschick Jesu von Nazaret erschlieĂen zu können. In der Tat spricht Schleiermacher dann in den Hauptkapiteln seiner Glaubenslehre nur noch vom spezifisch christlichen Glauben.
Die Frage nach der ârichtigenâ Schleiermacher-Interpretation lĂ€sst sich womöglich niemals endgĂŒltig entscheiden, auch wenn die Waagschale schwer nach der ersten Möglichkeit hinneigt. Eine Gruppe von Theologen, auf die wir noch zurĂŒckkommen werden, hat Schleiermacher ...