Lebensphasen
4 Frühförderung
4.1 Erfahrungsbericht und Reflexionen über Fragen der Inklusion körperbehinderter Kinder in der Frühförderung
Birgit Hennig
Ein Kind, das sich motorisch anders als erwartet verhält, stellt die Familie vor die Aufgabe, einen angemessenen, für sie passenden und gleichzeitig entwicklungsförderlichen „Umgang mit der Verschiedenheit“ des Kindes zu finden (vgl. Definition von Behinderung nach Walthes 2003, 49). Indikatoren der Abstimmung in Bezug auf die individuellen Voraussetzungen des Kindes zeigen sich insbesondere auf der Ebene der Eltern-Kind-Interaktion. Unterschiedliche Interaktionserfahrungen in der frühen Kindheit schaffen wiederum unterschiedliche Voraussetzungen für die Eingliederung in bestehende Bildungssysteme unter dem Leitgedanken von Integration und (zukünftiger) Inklusion, z.B. im Hinblick darauf, wie sich das Kind als Persönlichkeit in einer Gruppe Gleichaltriger erlebt und soziale Kontakte gestaltet.
In der Frühförderung ist die individuumsbezogene Ausgangslage von Kindern, die als körperbehindert oder motorisch auffällig bezeichnet werden, ebenso wie die Situation der betroffenen Eltern sehr unterschiedlich. Die körperliche Beeinträchtigung kann angeboren und bereits ab der Geburt offensichtlich sein (z.B. Dysmelien, Spina Bifida, Arthrogryposis). Die Symptome können sich u.U. aber auch erst im Verlauf des ersten Lebensjahres oder später manifestieren (z.B. Zerebralparese, progrediente Muskel- oder Stoffwechselerkrankungen). Eine vorausschauende Prognose der langfristigen Auswirkungen auf der Ebene der Aktivitäten und im Sinne von Beeinträchtigungen der „Selbstverwirklichung in sozialer Integration“ ist im frühen Kindesalter trotz bekannter Diagnose in beiden Fällen nur sehr eingeschränkt möglich. Als weitere Gruppe in der Frühförderung sollten Kinder mit motorischen Auffälligkeiten benannt werden (z. B. „motorische Ungeschicktheit“, motorische Unruhe, „gehemmte Motorik“), deren Verhalten sich über Kommunikationsprozesse im sozialen System – bewusst oder unbewusst – als entwicklungshemmender Faktor auswirken kann. Oft besteht dabei ein Zusammenhang mit Defiziten der Körperwahrnehmung, der Handlungsregulation oder erschwerten Bedingungen der sozial-emotionalen Entwicklung. Schließlich gibt es noch die Gruppe der Kinder mit erworbenen körperlichen Beeinträchtigungen (z. B. nach SHT) und Kinder mit verzögerter motorischer Entwicklung (beide hier nicht näher berücksichtigt).
Die Situation der Eltern unterscheidet sich je nach Beeinträchtigung und Zeitpunkt der Diagnose u.a. im Grad der Bewusstheit über das Vorliegen einer Behinderung, d.h. dem real erlebten oder kognitiv konstruierten „Anderssein“ des Kindes. Daraus kann sich eine eher selbstverständliche oder eine u.U. erschwerte Inklusion des Kindes in das Sozialsystem seiner Familie ergeben. Bei Kindern mit spät eintretender Symptomatik lässt sich beispielsweise „Normalität“ zu Beginn des Lebens anders realisieren, als wenn bei einer angeborenen, sichtbaren Behinderung die emotionale Auseinandersetzung mit der Diagnose und das offensichtliche „Anderssein“ des Kindes am Anfang der Eltern-Kind-Beziehung stehen. Eine Diagnose verändert in jedem Fall die Sichtweise auf das Kind und sein Verhalten. Bei Eltern der ersten Gruppe beeinflusst die Diagnose meiner Erfahrung nach aber weniger plötzlich einschneidend die Ebene der Beziehung von Eltern zu ihrem Kind. Die Eltern haben das Kind bereits so angenommen wie es ist; ihre Basis ist die aus dem Alltag und der gemeinsamen Beziehungsgeschichte mit dem Kind erwachsene „Normalität“.
Für Eltern und Kinder mit einer Diagnose direkt nach der Geburt kann der Weg zur subjektiv empfundenen „Normalität“ mühsamer verlaufen; insbesondere hier spielt die Frühförderung eine entscheidende Rolle in der ressourcenorientierten, unterstützenden Begleitung der Familien. Nachfolgend soll dies an Beispielen näher erläutert werden.
Viel Therapie hilft viel? – Auch das Spielen will gelernt sein!
Im System der Früherkennung und Frühförderung begegnen Eltern durch den Schwerpunkt auf die Frühtherapie oft zuerst einer medizinisch-funktionalen Sichtweise auf die Behinderung ihres Kindes, d. h. die Komplexität von Entwicklungsprozessen wird u.U. auf ein Problem der Motorik reduziert (vgl. bereits Aly et al 1981). Die Empfehlung des Kinderarztes „Machen Sie erst einmal Krankengymnastik, dann sehen wir weiter“ und daraus folgende Erfahrungen prägen Eltern in der Beziehungsrolle zu ihrem Kind in vielen Fällen nachhaltig.1
C. wurde mit einer stark ausgeprägten Form der Arthrogryposis geboren. Das Kind wird seit der Geburt intensiv krankengymnastisch betreut und die Eltern führen die motorischen Übungen im häuslichen Umfeld gewissenhaft fort. Im Alter von ca. 8 Monaten wird C. in der Frühförderung vorgestellt. Die Mutter formuliert als sehnlichstes Ziel der „Normalität“, dass C. laufen lernen wird. Die Entwicklungsdiagnostik verweist jedoch auf eine wesentlich umfassendere Entwicklungsproblematik, da die körperliche Schädigung eine selbsttätige, im wörtlichen Sinne HANDelnde Auseinandersetzung mit der Umwelt verhindert. Dadurch sind Defizite in anderen Entwicklungsbereichen absehbar. Die Aktivitäten der Eltern mit dem Kind beschränkten sich bis dahin vorrangig auf die krankengymnastischen Übungen und ein passives „Entertainment“; C. ist in dieser Hinsicht ein anspruchsvolles Kind. Die Mutter ist zunächst erstaunt, dass das Ziel in der Frühförderung nicht das „Beturnen“ des Kindes ist; im Vordergrund steht – unter Berücksichtigung der motorischen Voraussetzungen – die Anregung zum freien Spiel. So ist C. beispielsweise einige Wochen im Vierfüßerstand intensiv mit einer Bohnenkiste beschäftigt, in der sie erstmals eigene Aktivität mit den Armen entfaltet und immer öfter die Hände öffnet. Statt gewohntem „Trainingsprogramm“ erlebt sie dabei viel Zeit und Freiraum für freudvolle Aktivität. Mit der Mutter überlege ich auch gemeinsam, welches Spielzeug für C. am besten geeignet ist: Es muss einen kleinen Durchmesser haben oder mit kleinen Schlaufen und Ringen entsprechend angepasst werden. Sehr schnell entwickelt C. durch die Adaption eine große Geschicklichkeit und Interesse für die Manipulation von Spielgegenständen. Nun geschieht es immer häufiger, dass mich die Mutter schon an der Tür mit neuen Ideen empfängt, die sie im Spiel mit C. weiterentwickelt oder neu entdeckt hat. Höhepunkt der Zusammenarbeit ist die Einführung von Pappbilderbüchern, die C. mit großer Begeisterung selbst umblättert und kommentiert. Noch vor wenigen Monaten hätte dies als Inhalt oder gar Ziel einer Förderung unter dem alleinigen Aspekt der Funktionsorientierung für die Mutter überhaupt keinen Sinn ergeben. C. ist noch immer ein „anspruchsvolles Kind“. Der Anspruch liegt jedoch jetzt nicht mehr im passiven Entertainment, sondern in der Auseinandersetzung mit C’s ausgeprägtem Willen bei der Umsetzung eigener Vorstellungen und bei der neugierigen Erkundung der Umwelt mit allen ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten.
Das Risiko der Entwicklung lag bei C. in einer Begrenzung der Sichtweise auf Funktionalität und im Glauben gelingender (zukünftiger) Integration durch ausreichend „Übung“ zur Überwindung der motorischen Schwierigkeiten. Lernmotivation, Neugierde und soziale Kompetenz entwickeln sich jedoch nicht ausschließlich auf der Grundlage von Übung, sondern ganz im Hier und Jetzt aus selbstbestimmtem, lustvollem Handeln, auf der Grundlage der Wahrnehmung von aktuellen Bedürfnissen des Kindes und im Dialog mit anderen Menschen. Hier war dann auch der Beitrag der Frühförderung zu verorten.
„Das bin ich“ – in welchen Spiegel schaut das Kind?
Im frühen Kindesalter sind Eltern für ihre Kinder wie ein Spiegel für das Selbstbild. Die Rückmeldung, die das Kind durch die entgegengebrachte Achtung der Eltern, die (leibliche) Fürsorge und später auch über die sprachliche Bewertung zu seinem Verhalten und seiner Person erfährt, hinterlässt bei ihm Spuren; auf dieser Grundlage entwickelt es seine Selbstachtung, sein Selbstbild, seine Persönlichkeit. Immer wieder habe ich erlebt, welche bedeutsame Rolle hier das Vorbild der Pädagogen in der Frühförderung spielen kann.
K. kam ebenfalls mit der Diagnose Arthrogryposis zur Welt. In den ersten Monaten hatte er große Regulationsprobleme. Die Handmotorik, das Spielen und eine altersgerechte Entwicklung der Grobmotorik waren nur sehr eingeschränkt möglich, die kognitive Entwicklung verzögert. Leider wurde dieser Familie auf Grund komplizierter Zuständigkeitsfragen durch die ausländische Herkunft eines Elternteils vom Sozialamt keine Frühfördermaßnahme gewährt. Im Alter von 2 Jahren wurde dann, neben der Krankengymnastik, zumindest eine „private“ Teilnahme an einem Spielkreis mit anderen Kindern der Frühförderung ermöglicht. Obwohl diese Mutter einen sehr liebevollen und prinzipiell förderlichen Umgang mit ihrem Kind hatte, war im Vergleich mit ähnlich schwer behinderten Kindern auffällig, dass sie sich in Anwesenheit des Kindes immer wieder unterschwellig negativ in Bezug auf bestimmte „Eigenarten“ des Kindes äußerte (z. B. „kleiner Windelschisser“) oder dass in Spielsituationen das „nicht können“ des Kindes als „nicht wollen“ interpretiert wurde.
Beobachtungen dieser Art sind mir vor allem bei Familien aufgefallen, deren Eltern den Weg erst spät in die Frühförderung gefunden haben. Die emotionale Verarbeitung der Diagnose kann dabei eine Rolle spielen, ein Erklärungsansatz liegt m.E. aber auch in früh verankerten Missverständnissen durch die u. U. „andersartigen“ Signale des Kindes: Schwer lesbare Signale mit geringerem Belohnungswert sowie Enttäuschungen der Eltern in ihren Kommunikationsbemühungen durch „andere“, nicht der intuitiven Erwartung entsprechende Antworten des Kindes, beeinflussen sich wechselseitig und verursachen ggf. negative Zuschreibungsprozesse bis hin zu Beziehungsentgleisungen. Sie können sich somit zusätzlich „behindernd“ auf die Entwicklung des Kindes auswirken (vgl. auch Maestro 1998; Sarimski 2000, 80f.). Eine entscheidende Rolle spielt hier die frühe Intervention im Sinne der Begleitung der Eltern als „Dolmetscher“ für die subtileren oder andersartigen Signale des Kindes (z.B. Sarimski 1997, 314f.; Finger 2000, 81 ff.).
Für ältere Kinder mit motorischen Auffälligkeiten im Sinne einer Verhaltensproblematik (s.o.) spielt der „Spiegel“ des sozialen Umfeldes ebenfalls eine wichtige Rolle. Leider kommen auch diese Kinder oft erst spät in die Frühförderung. Die Anmeldung und die Inanspruchnahme von Unterstützung erfolgt meist erst dann, wenn eine ungenügende Passung zwischen Voraussetzungen und Erwartungen bereits zu einem Scheitern der Eingliederung in bestehende soziale Systeme geführt hat oder zu erwarten ist.
M. ist 4,5 Jahre als sie in der Frühförderstelle vorgestellt wird. Im Erstkontakt begegnet mir ein aufgeschlossenes, freundliches Mädchen. Sie erscheint sehr leicht abgelenkt, bei Überforderung entwickelt sie ausweichend viel Aktivität im Raum. Sie zeigt einen starken Drang, das, was sie mit den Augen sieht im wörtlichen Sinne auch zu „begreifen“, d. h. mit Hand und Mund zu berühren. Einfachste Handlungskonzepte scheinen noch an die unmittelbare Erfahrung der Dinge gebunden zu sein. Sie folgt mit hoher Geschwindigkeit ihren Impulsen. Im grob- und feinmotorischen Verhalten sind Entwicklungsrückstände deutlich. Die Mutter ist sichtlich erleichtert, dass ihre Vermutung der Entwicklungsauffälligkeit bestätigt wird. Der Leidensdruck im Alltag ist bereits hoch, das Zusammenleben wird auf Grund des scheinbar „erziehungsresistenten“ Verhaltens des Kindes als sehr anstrengend erfahren. Im Spiel mit anderen Kindern wird aus dem Anfassen schnell ein Zupacken oder Kneifen, so dass auch soziale Kontakte mit Gleichaltrigen mühsam verlaufen. Von Kinderärzten wurde die Mutter in ihren vagen Befürchtungen, dass da „was mit dem Kind ist“, nicht ernst genommen, vom Kindergarten wurde den Eltern vorrangig der Verdacht auf Erziehungsdefizite signalisiert.
In der Hausfrühförderung zeigte sich schnell, in welchem Ausmaß die Kreisläufe von Fehlinterpretationen und daraus entstehende Missverständnisse die Interaktionsmuster und das Selbstbild des Kindes bereits nachhaltig beeinflusst hatten. Wie oft hat es gehört, was es nicht darf, nicht soll, dass es sich doch endlich benehmen möge, zusammenzureißen, sich anstrengen, einfach mal zuhören ... Und die großen und kleinen Katastrophen im Alltag gingen doch weiter, weil das Kind auf Grund der Besonderheiten im Bereich der Wahrnehmung und der Handlungsorganisation sich nicht anders verhalten konnte, selbst wenn es wollte. So ging es in der Frühförderung nicht nur um die Förderung des Kindes, sondern es wurden viele Gespräche geführt, um den Eltern aufzuzeigen, wie wichtig für das Kind ein wertschätzender „Spiegel“ ist, eine positive Rückmeldung zu geben, wo etwas gelingt, wo etwas gemeinsam Spaß macht, trotz aller Alltagskatastrophen, um darüber ein positives oder zumindest ein nicht einseitig negatives Selbstbild des Kindes aufzubauen und zu festigen. Das Mädchen wechselt ein halbes Jahr später in eine integrative Gruppe innerhalb des Stammkindergartens, womit (lt. Gesetz) die Frühfördermaßnahme beendet wurde.
Auch dieses Beispiel legt nahe, dass ein früherer Beginn der Frühfördermaßnahme dem Mädchen vermutlich zu einer besseren Integration in sein soziales Umfeld verholfen hätte bzw. dass unter dem Gedanken der Inklusion u.U. vielleicht eine besser gelingende „Passung“ möglich gewesen wäre. Das Beispiel zeigt außerdem, dass sich eine interdisziplinäre, ganzheitliche Frühfördermaßnahme durch die alltagsnahe Form der Begleitung von Kind und Eltern von anderen Maßnahmen, wie ambulanter Einzeltherapie oder allgemeiner Elternberatung signifikant unterscheidet.
Zusammenfassung der Erfahrungen
Idealerweise beginnt eine Unterstützung des Kindes und der Eltern durch die Frühförderung zu einem so frühen Zeitpunkt, dass sich die Symptomatik der Schädigung oder...