Lernen
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Lernen

Ein Lehrbuch fĂŒr Studium und Praxis

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Lernen

Ein Lehrbuch fĂŒr Studium und Praxis

About this book

Lernen ist eine der wichtigsten FĂ€higkeiten aller Lebewesen. Dementsprechend nimmt die Lernpsychologie einen wichtigen Platz im Studium der Psychologie ein. In diesem einfĂŒhrenden Lehrbuch werden die klassischen Themen der Lernpsychologie wie Klassische Konditionierung, Operante Konditionierung, Beobachtungslernen und kognitives Lernen auf verstĂ€ndliche und interessante Art erklĂ€rt. Durch zahlreiche Alltagsbeispiele wird auf die alltĂ€glichen Lernsituationen der Leser eingegangen und die hohe Alltagsrelevanz von LernphĂ€nomenen verdeutlicht. Praktische Tipps fĂŒr ein effektiveres Lernen in Schule, Studium und Beruf runden das Buch ab.

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Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2016
Print ISBN
9783170260405
eBook ISBN
9783170260429

1          Einleitung

 
 
 
 
 

Orientierungsfragen

 
‱  Was ist Lernen, wie kann man es definieren?
‱  Was bedeuten die einzelnen Komponenten der Definition von Lernen?
‱  Was ist der Unterschied zwischen Kompetenz und Performanz, und warum ist der Unterschied fĂŒr die Lernpsychologie wichtig?
‱  Welche VerhaltensĂ€nderungen wĂŒrde man nicht als Lernen bezeichnen?

1.1       Was ist Lernen?

»Lernen ist die Art der Ignoranz, welche die Fleißigen auszeichnet.«
Ambrose Bierce, The Devil’s Dictionary.
Die Definition von Ambrose Bierce hat sicherlich den Reiz, etwas boshaft zu sein, wie alle Definitionen in seinem »Lexikon des Teufels«. Als wissenschaftliche Definition taugt sie allerdings weniger, denn von Wissenschaftlern wird erwartet, dass sie genau wissen und sagen, was sie untersuchen. Wir brauchen deshalb eine wissenschaftliche Definition des Lernens. Man sollte meinen, dass diese leicht zu finden wĂ€re, denn schließlich wissen wir ja alle, was Lernen ist, lesen BĂŒcher darĂŒber, reden miteinander darĂŒber, und verstehen einander auch meist. In Wirklichkeit ist es aber so, dass eine allgemein akzeptierte Definition des Lernens nicht existiert, weil das Lernen – wie wir im Rest dieses Buches noch sehen werden – doch viel komplexer ist, als man gemeinhin annehmen wĂŒrde. Es gibt allerdings einige Definitionen, mit denen zwar nicht alle, aber doch sehr viele Forscher ĂŒbereinstimmen wĂŒrden. Eine davon gefĂ€llt mir am besten:

Definition: Lernen

Lernen ist eine auf Erfahrung basierende, dauerhafte VerÀnderung in den Verhaltensmöglichkeiten eines Individuums.1
Diese Definition unterscheidet sich sicherlich deutlich vom umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes Lernen, und auch von Definitionen, die Nicht-Psychologen formulieren wĂŒrden. Gehen wir sie einmal StĂŒck fĂŒr StĂŒck durch, um zu sehen, warum viele Psychologen Definitionen wie diese bevorzugen.
Ein wichtiger Aspekt der Definition besteht darin, dass sie auf das Individuum, also das einzelne Lebewesen, bezogen ist. Das ist einerseits umfassender, als manche Laien es formulieren wĂŒrden, denn nach dieser Definition lernen nicht nur Menschen, sondern auch die meisten anderen Lebewesen. Dazu gehören nicht nur die in der Lernforschung beliebten Ratten, Tauben und Hunde, sondern auch viel einfachere Lebewesen, z. B. WĂŒrmer. Andererseits ist die Definition auch enger, als Wissenschaftler aus anderen Disziplinen als der Psychologie es formulieren wĂŒrden. Dies liegt daran, dass wir uns auf Lebewesen beschrĂ€nken. Wenn also z. B. Wirtschaftswissenschaftler von »lernenden Organisationen« sprechen oder Informatiker von »lernenden Programmen«, dann macht das aus der Sicht dieser Disziplinen Sinn, fĂŒr Psychologen allerdings nicht.
Ein zweiter wichtiger Aspekt der Definition ist der Begriff »Verhaltensmöglichkeiten«. Wir sprechen nicht davon, dass sich das Verhalten verĂ€ndern muss, sondern es reicht, wenn sich die FĂ€higkeit oder Neigung zu einem bestimmten Verhalten verĂ€ndert. Das ist wichtig, weil Lernen nicht sofort und direkt zu einer sichtbaren VerĂ€nderung des Verhaltens fĂŒhren muss. Vielmehr reicht es aus, wenn eine VerhaltensĂ€nderung möglich wird. Dies bedeutet nicht mehr als die Alltagsweisheit, dass wir nicht alles tun mĂŒssen, was wir gelernt haben. Wenn wir beispielsweise gelernt haben, ein Gedicht aufzusagen, Fahrrad zu fahren, oder Quadratwurzeln auszurechnen, dann bedeutet das nicht, dass wir es auch stĂ€ndig tun mĂŒssten. Es reicht, dass wir die FĂ€higkeit dazu erlernt haben und es tun könnten.
Lernforscher unterscheiden hier zwischen zwei Begriffen, die uns in diesem Buch noch hĂ€ufiger begegnen werden: Einerseits Kompetenz (was wir tun können) und andererseits Performanz (was wir tatsĂ€chlich tun). Von Lernen sprechen wir, wenn sich die Kompetenz verĂ€ndert, und das ist ein großes Problem: Wissenschaftler können die Kompetenz genau so wenig messen, wie man sie im Alltag sehen kann, sie ist ein theoretisches Konstrukt. Beobachten oder messen kann man nur die Performanz, also das Verhalten selbst, nicht die Verhaltensmöglichkeit. Und das ist nun wirklich doof: Wir können das, wovon wir reden, was wir wissenschaftlich untersuchen wollen, und worĂŒber wir BĂŒcher schreiben (u. a. dieses) gar nicht selbst erfassen. Stattdessen mĂŒssen wir uns damit zufrieden geben, Verhalten zu beobachten und zu messen, durch welches sich unser Konstrukt zeigen soll. Ein gewisser Trost besteht darin, dass dieses Problem weit verbreitet ist: Auch psychologische Konstrukte wie Intelligenz, Persönlichkeit, Temperament und physikalische Konstrukte wie Schwerkraft oder Ă€hnliches sind nicht direkt beobachtbar. Zum GlĂŒck fĂŒr die Lernpsychologie ist hier der Zusammenhang zwischen Konstrukt und Verhalten sehr eng, so dass es nicht so abwegig ist, von einer genau definierten VerĂ€nderung des Verhaltens auf Lernen zu schließen, z. B. wenn ein Verhalten wie HebeldrĂŒcken unter bestimmten Ă€ußeren UmstĂ€nden hĂ€ufiger wird und unter anderen UmstĂ€nden seltener. Man sollte jedoch immer im Hinterkopf behalten, dass Kompetenz und Performanz nicht das gleiche sind: Nicht jede VerhaltensĂ€nderung muss auf einer VerĂ€nderung der Kompetenz beruhen, und wenn ein Verhalten nicht gezeigt wird, bedeutet das keineswegs, dass es nicht gezeigt werden könnte.

Definition: Kompetenz versus Performanz

Kompetenz bezeichnet die FĂ€higkeit eines Lebewesens, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen, Performanz bezeichnet hingegen die tatsĂ€chliche AusfĂŒhrung des Verhaltens. Es kann Kompetenz ohne Performanz geben, aber nicht Performanz ohne Kompetenz. Ein Problem der Lernpsychologie besteht darin, dass sie sich mit VerĂ€nderungen der Kompetenz beschĂ€ftigt, aber nur VerĂ€nderungen der Performanz beobachten kann.
Das Beispiel des HebeldrĂŒckens zeigt noch etwas Wichtiges: Mit »VerĂ€nderung der Verhaltensmöglichkeiten« ist nicht gemeint, dass sich das Verhalten selbst verĂ€ndern muss, z. B. indem das HebeldrĂŒcken krĂ€ftiger wird. Es reicht vollkommen aus, wenn ein und dasselbe Verhalten hĂ€ufiger oder seltener gezeigt wird. Solch eine VerĂ€nderung in der VerhaltenshĂ€ufigkeit oder -wahrscheinlichkeit kann ebenso eine Form des Lernens darstellen wie das Erlernen eines neuen Verhaltens. Und tatsĂ€chlich beschĂ€ftigen sich viele Lernpsychologen nicht mit dem Erlernen neuer Verhaltensweisen, sondern mit der Frage, wie man lernt, ob man ein bestimmtes Verhalten zeigen oder besser unterlassen sollte.
Ein weiterer wichtiger Teil der Definition besagt, dass wir bei VerĂ€nderungen der Verhaltensmöglichkeiten nur von Lernen sprechen, wenn sie einigermaßen dauerhaft sind und auf Erfahrungen beruhen. Diese EinschrĂ€nkung ist wichtig, weil es viele VerĂ€nderungen der Verhaltensmöglichkeiten gibt, die nichts mit Lernen zu tun haben, weil sie nur kurzzeitig sind und/oder nicht durch Erfahrung entstanden sind. Dazu gehören zum Beispiel zufĂ€llige VerĂ€nderungen oder VerĂ€nderungen, die auf Reifung, Medikamenten, Drogen, MĂŒdigkeit etc. beruhen. Zum Beispiel gilt es nicht als Lernen, wenn ein Kind vor einem Jahr einen Klingelknopf nicht drĂŒcken konnte, in diesem Jahr aber wohl: Vermutlich hat es in der Zwischenzeit nichts ĂŒber das DrĂŒcken von Klingeln gelernt, sondern ist einfach so weit gewachsen, dass es den Knopf nun erreichen kann. Fast alle Menschen zeigen auch regelmĂ€ĂŸige, tĂ€gliche Wechsel des Verhaltens, welche nicht durch Lernen zu erklĂ€ren sind, weil sie weder auf Erfahrungen beruhen noch dauerhaft sind: Nachts verhalten wir uns anders als tagsĂŒber, weil wir nachts schlafen. Ebenso sind die von vielen Menschen gern hervorgerufenen VerĂ€nderungen des Verhaltens durch den Konsum von Alkohol (z. B. lallende Sprache) ebenso wenig auf Lernen zurĂŒckzufĂŒhren wie die VerĂ€nderungen, die auftreten, wenn der Alkoholspiegel wieder sinkt (z. B. das Klagen ĂŒber Kopfschmerz). Trotz dieser EinschrĂ€nkungen ist die wissenschaftliche Definition von Lernen aber in mancherlei Hinsicht umfassender als umgangssprachliche Definitionen: Zum einen umfasst sie auch Lernformen, die dem Laien eher ungewöhnlich erscheinen, z. B. die weiter unter erklĂ€rte Habituation. Zum anderen schließt sie VerĂ€nderungen zum Schlechteren ein, d. h. Lernen fĂŒhrt keineswegs immer zu einer Optimierung von Kompetenz und Performanz. Hiermit wird die Lernpsychologie fĂŒr andere Disziplinen relevant, z. B. fĂŒr die Klinische Psychologie, wo sich viele klinische Störungen zumindest teilweise durch Lernprozesse erklĂ€ren lassen. Deshalb beziehen sich auch viele Beispiele in diesem Buch auf klinisch relevante Lernprozesse.
Das Thema Lernen findet man in vielen verschiedenen Bereichen der Psychologie, allerdings verstreut und merkwĂŒrdig beziehungslos. Die sogenannte Lernpsychologie beschĂ€ftigt sich hauptsĂ€chlich mit dem Lernen und VerĂ€ndern von Gewohnheiten (»learning habits«). Das Erlernen von FĂ€higkeiten (»prozedurales Lernen«) ist eher Gegenstand der Arbeits- oder Sportpsychologie. Und das Erlernen von Bedeutungen (»semantisches GedĂ€chtnis«) und persönlichen Erfahrungen (»episodisches GedĂ€chtnis«) findet sich meist in BĂŒchern der GedĂ€chtnispsychologie wieder. Diese Einteilung ist sehr kĂŒnstlich, denn alle vier Varianten stellen wichtige Arten des Lernens dar und deshalb sollen sie auch alle in diesem Buch behandelt werden.
Zu guter Letzt muss noch erwĂ€hnt werden, dass natĂŒrlich auch eine sehr enge Beziehung zwischen Lernen und GedĂ€chtnis besteht. Da wir nur von Lernen sprechen können, wenn eine Verhaltensmöglichkeit durch eine Erfahrung verĂ€ndert wird, dann muss diese Erfahrung irgendwo im GedĂ€chtnis gespeichert werden, um spĂ€ter die Verhaltensmöglichkeit beeinflussen zu können. WĂ€re die Erfahrung nicht in der einen oder anderen Form gespeichert, dann wĂ€re sie nicht in der Lage, nach einer gewissen Zeit immer noch einen Einfluss auszuĂŒben. Wie wird die Erfahrung gespeichert, wie gut können wir uns daran erinnern, und wie lange bleibt sie abrufbar? Dies sind alles Fragestellungen der GedĂ€chtnispsychologie, die wichtig fĂŒr das Lernen sind. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Themen Lernen und GedĂ€chtnis hĂ€ufig zusammen in einem Lehrbuch oder einer Vorlesung behandelt werden. Der Rahmen dieses Buches wĂŒrde durch eine gemeinsame Darstellung aber gesprengt, deshalb werde ich nur da auf das Thema GedĂ€chtnis zu sprechen kommen, wo es fĂŒr das VerstĂ€ndnis der Lernprozesse nötig ist.
 
 
1     Ich wĂŒrde mich ĂŒber jeden Vorschlag einer besseren Definition freuen! Also, liebe Leser und Leserinnen: Ab in die Bibliotheken und ran an die BĂŒcher, finden Sie bessere Definitionen und schicken Sie sie mir, zusammen mit einer BegrĂŒndung, warum die gefundene Definition besser ist als meine!

2 Einfachste Lernformen: Habituation und Sensitivierung

Orientierungsfragen

‱ Was ist Habituation; was wird dabei gelernt?
‱ Wie wurde das PhĂ€nomen der Habituation von Epstein und Kollegen (1992; 2005) untersucht?
‱ Wie lĂ€sst sich das PhĂ€nomen der Habituation bei entwicklungspsychologischen Studien nutzen?
‱ Welche Reaktionsverringerungen sind nicht durch Habituation zu erklĂ€ren?
‱ Wie unterscheiden sich Habituation und Löschung?
‱ Was ist Sensitivierung; was wird dabei gelernt?
‱ Warum gelten Habituation und Sensitivierung als Formen des Lernens?

2.1 Was ist Habituation?

Wo lesen Sie gerade dieses Buch? Vermutlich sitzen Sie auf einem Stuhl oder einer anderen Sitzgelegenheit. Haben Sie beim Lesen auch bemerkt, wie sich der Stuhl anfĂŒhlt? Vermutlich haben Sie es beim Hinsetzen gefĂŒhlt, aber kurz darauf nicht mehr bewusst wahrgenommen. Und wie steht es mit ablenkenden GerĂ€uschen? Stellen sie sich vor, dass im Nebenraum regelmĂ€ĂŸig, z. B. alle 15 Minuten, der Gong einer alten Uhr zu hören ist. Vermutlich hören Sie den Gong zu Beginn der LektĂŒre noch, schrecken evtl. sogar auf und werden kurz abgelenkt. Dieses Aufschrecken ist eine sogenannte Orientierungsreaktion, d. h. eine automatische Wendung der Aufmerksamkeit hin zu unerwarteten Reizen. Mit zunehmender Zeit werden Sie sich aber wahrscheinlich an den Gong gewöhnen und nach einiger Zeit werden Sie ihn vermutlich gar nicht mehr bewusst wahrnehmen, so dass er Sie nicht mehr von der LektĂŒre ablenken wird. Diese Form der VerhaltensverĂ€nderung nennt man Habituation: Zu Beginn wird noch eine Reaktion auf einen Reiz gezeigt (hier: das Aufschrecken beim Gong), doch mit der Zeit wird diese Reaktion immer schwĂ€cher und/oder immer seltener.

Definition: Habituation

Eine der einfachsten Lernformen: Die Abnahme der Reaktion (meist eine Orientierungsreaktion) auf einen wiederholt dargebotenen, irrelevanten Reiz. Es wird also quasi gelernt, dass ein Reiz keine Reaktion erfordert.
Warum ist ein so simpler Gewöhnungsprozess eine Form des Lernens? Ganz einfach: Weil er alle Anforderungen der Definition erfĂŒllt, denn wir haben es hier mit einer Lernerfahrung zu tun, die die Verhaltensmöglichkeiten verĂ€ndert: Das regelmĂ€ĂŸige Wahrnehmen des Gongs fĂŒhrt dazu, dass man immer weniger auf den Gong reagiert. Vereinfacht gesagt, lernt man bei der Habituation, auf unwichtige Reize nicht mehr zu reagieren; es wird sozusagen die Irr...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. 1 Einleitung
  7. 2 Einfachste Lernformen: Habituation und Sensitivierung
  8. 3 Klassische Konditionierung: Das Lernen von Signalen
  9. 4 Operante Konditionierung: Das Lernen von Verhaltenskonsequenzen
  10. 5 Modelllernen: Lernen durch das Beobachten von anderen
  11. 6 Komplexes kognitives Lernen
  12. 7 Ein Tag im Leben der Studentin Lara: 24 Stunden voller Lernen
  13. 8 Literatur
  14. 9 Ein Tag im Leben der Studentin Lara: 24 Stunden voller Lernen
  15. Stichwortverzeichnis
  16. Personenverzeichnis