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Einleitung
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»Wir behandeln alle gleich!« Diese Einstellung ist in sozialen Einrichtungen weit verbreitet und erweckt â angesichts des Postulats der Gleichheit â den Anschein gerechten und moralisch unangreifbaren Handelns auch in Bezug auf den Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund (vgl. Schröer 2005). Sie soll zumeist als Ausdruck einer kritischen Stellungnahme in Bezug auf InterkulturalitĂ€t verstanden werden, nach der Menschen mit Migrationshintergrund eben nicht in Anbetracht ihrer nationalen und kulturellen Herkunft eine gesonderte Betrachtung und Behandlung erfahren. Eine solche Stellungnahme resultiert vielfach aus Sorge, den Eindruck zu erwecken, Menschen auf ihre EthnizitĂ€t zu reduzieren und damit zu diskriminieren oder, im Gegenteil, ihnen eine Sonderbehandlung zukommen zu lassen. So gut dies auch gemeint ist, werden dadurch jedoch bestehende kulturelle Unterschiede ignoriert und die Lebenswirklichkeit einzelner Personen und ihrer Familien verkannt.
Andererseits findet oftmals eine Ăberbetonung kultureller Unterschiede statt. AlltĂ€gliche (Problem-)Situationen im Kontakt zu Personen mit Migrationshintergrund werden vorschnell ĂŒber kulturelle Zuschreibungen in Bezug auf das Herkunftsland bzw. die Herkunftskultur der Familien gedeutet und erklĂ€rt. Dies geschieht unter Bezugnahme auf â in sehr unterschiedlichem MaĂe vorhandenes â kulturspezifisches Wissen. Ein verengter Blick auf die Kultur birgt jedoch die Gefahr einer vorurteilsbehafteten Sichtweise in sich, die darĂŒber hinaus oftmals mit bestimmten Erwartungshaltungen und entsprechenden Verhaltensmustern einhergeht. Diese beiden â wohlgemerkt extremen â Pole zeigen zu Beginn des Buches in plakativer Weise die verschiedenen Einstellungen und Verhaltensweisen gegenĂŒber Menschen mit Migrationshintergrund in sozialen Institutionen auf, die in einem breiten Spektrum vorzufinden sind.
Die Migrationsprozesse der letzten 50 Jahre haben innerhalb Deutschlands zur Entstehung einer kulturellen Vielfalt gefĂŒhrt und damit zur VerĂ€nderung der Bevölkerungsstruktur beigetragen. Durch diesen VerĂ€nderungsprozess wurden gesellschaftliche und bildungspolitische Debatten angestoĂen, infolge derer grundlegende Reformen in öffentlichen Bereichen verlangt wurden und werden. Diese mĂŒssen durch wissenschaftliche Forschung begleitet werden. So hat sich der Themenschwerpunkt Migration als bedeutungsvoller Zweig vieler Humanwissenschaften etabliert. In der Heil- und SonderpĂ€dagogik, genauer gesagt der Geistig- und SchwerbehindertenpĂ€dagogik, die im Zentrum des vorliegenden Buches steht, hat die Thematik bis heute jedoch wenig Relevanz.
Die Heil- und SonderpĂ€dagogik hat die Aufgabe, sich dieser gesellschaftlichen Herausforderung zu stellen. Um den im Grundgesetz verankerten und im SGB IX â Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen â detailliert festgelegten RechtsansprĂŒchen sowie den Leitprinzipien der Inklusion Rechnung zu tragen, muss sich die Heil- und SonderpĂ€dagogik im Hinblick auf aktuelle gesellschafts- und bildungspolitische Entwicklungen stets selbst hinterfragen. Hierzu zĂ€hlt gegenwĂ€rtig auch die Auseinandersetzung mit dem PhĂ€nomen Migration und Behinderung.
FĂŒr Personen mit einer geistigen und/oder schweren bzw. Komplexen Behinderung (vgl. Fornefeld 2008) ist es oftmals gang und gĂ€be, dass die Behinderung vom sozialen Umfeld als âșDreh- und Angelpunktâč ihres Lebens angesehen wird. An ihr orientieren sich nahezu sĂ€mtliche Ăberlegungen fĂŒr die Gestaltung der Lebensbereiche Wohnen, Schule, Arbeit, Freizeit etc. sowie im Kontext dessen erforderliche UnterstĂŒtzungs-, Förder- und Bildungsbedarfe. Der biografische Hintergrund, wie bspw. die Erfahrung von Migration, gerĂ€t dabei oftmals aus dem Blickfeld der pĂ€dagogischen Profession. Die Lebenswelt von Migranten mit Behinderung und deren Familien findet bislang nur wenig öffentliches Interesse und auch aus wissenschaftlicher Perspektive fehlt es noch immer an fundiertem empirischem Wissen zur Alltagssituation des Personenkreises (vgl. hierzu u. a. Fornefeld 2007a, 184; Halfmann 2012; Kohan 2012, 7; Wansing/Westphal 2012, 12). Die unzureichenden Kenntnisse ĂŒber das PhĂ€nomen Migration und Behinderung gehen anscheinend einher mit einem Mangel an notwendigen adĂ€quaten MaĂnahmen, um eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu gewĂ€hrleisten. Denn: Obwohl fĂŒr die letzten Jahre eine insgesamt positive Entwicklung bis in die Spitzen der FachverbĂ€nde fĂŒr Menschen mit Behinderung und der WohlfahrtsverbĂ€nde zu konstatieren ist, die die Interkulturelle Ăffnung zunehmend als Querschnittsaufgabe sozialer Dienste und Einrichtungen erachten, wird fĂŒr die Institutionen der Behindertenhilfe (mit Ausnahme der Förderschulen) vielfach auf eine UnterreprĂ€sentation von Menschen mit Migrationshintergrund hingewiesen (vgl. u. a. Hohmeier 2003, 26; Seifert 2010, 249).
In verschiedenen GesprĂ€chen mit Eltern mit Migrationshintergrund und Fachleuten der Behindertenhilfe â auf unterschiedlichen Tagungen, themenbezogenen Arbeitstreffen etc. â wurde deutlich, dass in Bezug auf den Umgang miteinander auf beiden Seiten hĂ€ufig ein hohes MaĂ an Unsicherheit und ein GefĂŒhl des Missverstehens festzustellen sind. Aus Perspektive der Fachleute werden hĂ€ufig zunĂ€chst Kommunikationsprobleme aufgrund geringer Kenntnisse der deutschen Sprache bei den Eltern angefĂŒhrt. DarĂŒber hinaus wird auf unterschiedliche kulturell geprĂ€gte Wahrnehmungs-, Deutungs- und ErklĂ€rungsmuster bspw. in Bezug auf Behinderung hingewiesen sowie auf differente BewĂ€ltigungsmuster und Umgangsformen. Diese wiederum sind mit divergenten gegenseitigen Erwartungshaltungen verknĂŒpft.
Die Bezeichnung Behindertenhilfe fungiert als Oberbegriff fĂŒr das mittlerweile breit ausdifferenzierte Angebot der sozialrechtlich verankerten und institutionalisierten UnterstĂŒtzungsleistungen fĂŒr Menschen mit Behinderung in unterschiedlichen Lebenssituationen und ĂŒber die gesamte Lebensspanne hinweg (vgl. Loeken/Windisch 2013).
Ziel des Buches ist es, auf das Themenfeld Migration und Behinderung aufmerksam zu machen und FachkrĂ€fte fĂŒr dieses zu sensibilisieren und zu professionalisieren. Hierzu wird zunĂ€chst ein erster allgemeiner Ăberblick ĂŒber die Thematik und die bisherigen Diskussionen gegeben, es werden thematisch relevante EinfĂŒhrungen und Definitionen vorgenommen, themenspezifische Schwerpunkte aufgezeigt und erste Forschungsergebnisse dargestellt. Im Anschluss daran wurde â als eine erste Herangehensweise an die Thematik â ein Forschungszugang gewĂ€hlt, der den Lebensweltbezug fokussiert und somit die Perspektive betroffener Familien in den Vordergrund stellt. Dieser Zugang soll der folgenden Annahme Rechnung tragen: FĂŒr die Arbeit mit Familien mit Migrationshintergrund und einem Kind mit Behinderung bzw. zur Entwicklung angemessener Praxiskonzepte erscheint es notwendig, die Lebenswelt der Familien insoweit zu verstehen, dass Relevanzsetzungen und Bedarfe erfasst und Belastungen und Ressourcen als solche erkannt werden. Dies zu verdeutlichen, ist ein wesentlicher Anspruch des Buches. Im Vordergrund stehen dabei Familien mit einem Kind mit geistiger und/oder schwerer bzw. Komplexer Behinderung.
FĂŒr die (wissenschaftliche) Auseinandersetzung mit dem Thema Migration und Behinderung muss eine Vielfalt von Disziplinen und ForschungsansĂ€tzen zur Kenntnis genommen werden. Das vorliegende Buch bewegt sich insbesondere im wissenschaftlichen Bezugsrahmen von HeilpĂ€dagogik und Soziologie und tangiert darĂŒber hinaus weitere (Teil-)Disziplinen wie Kulturwissenschaft, Migrationsforschung, internationale und vergleichende Heil- und SonderpĂ€dagogik, verstehende Sozialforschung, phĂ€nomenologische Soziologie (Lebensweltansatz) und Biografieforschung. Aus den genannten anteiligen Disziplinen â und ĂŒber diese hinaus â ergeben sich zahlreiche interessante Möglichkeiten einer interdisziplinĂ€ren Vernetzung mit verschiedenen theoretischen und methodischen ZugĂ€ngen zum Gegenstandsbereich. Hier gibt es besonders auch in sozialpĂ€dagogischen Traditionen bzw. im Bereich der Sozialen Arbeit schon seit langem bestehende theoretische Fundierungen â etwa im Kontext von PrĂ€vention und Intervention â, bei denen neben der Auseinandersetzung mit politischen Zielsetzungen besonders auch gesellschaftstheoretische Konzepte und Analysen â ĂŒber sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden hinaus â entstanden sind. »Hier sind besonders das Lebensweisen-/Lebensstilkonzept, die Theorie sozialer Netzwerke und sozialer UnterstĂŒtzung, der aus der phĂ€nomenologischen Tradition der Soziologie stammende Lebensweltansatz und kommunikationstheoretische AnsĂ€tze zu nennen« (Kardorff 1995, 9). Diese bestehende Vielfalt kann im vorliegenden Buch nicht berĂŒcksichtigt werden; besonders wird auf den Lebensweltansatz zurĂŒckgegriffen.
Das Buch soll als eine EinfĂŒhrung verstanden werden. Es bietet FachkrĂ€ften aus dem Bereich der Behindertenhilfe Orientierungswissen innerhalb eines vielschichtigen Themenfeldes und hĂ€lt darĂŒber hinaus Anregungen fĂŒr zukĂŒnftige Forschungsarbeiten sowie zur Konzeptentwicklung fĂŒr die Praxis der Behindertenhilfe bereit.
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Migration und Behinderung â Die Grundlagen
Die Vielschichtigkeit der Gesamtthematik Migration und Behinderung und der damit verbundene hohe KomplexitĂ€tsgrad machen es fĂŒr das vorliegende Buch erforderlich, die Thematik zunĂ€chst weitgehend zu entflechten. Dazu verhilft, den Blick zunĂ€chst auf relevante Begriffe zu lenken und einen ersten Ăberblick zu den bisherigen Diskussionsschwerpunkten zu geben:
âą Migration
âą Migration und Behinderung (Ăberblick)
âą Behinderung
Auf diese Aspekte geht nun das weitere Kapitel ein.
2.1 Migration â Einwanderungsland Deutschland
Deutschland ist ein Einwanderungsland! Diese Einsicht hat sich hierzulande nur langsam durchgesetzt. Nach Meier-Braun (2006, 206) wurde 1999 durch die Bundesregierung erstmals regierungsamtlich festgestellt, dass Deutschland lÀngst zum Einwanderungsland geworden ist. Zuvor existierte laut Bade ein »gesellschaftliches Paradox: eine Einwanderungssituation ohne Einwanderungsland« (2007, 32). Mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 hat sich Deutschland auch formell zum Einwanderungsland gewandelt. Migration und Integration sind seitdem zu zentralen gesellschaftspolitischen Themen geworden.
Der Begriff Migration ist zurĂŒckzufĂŒhren auf das lateinische Wort migratio, das ĂŒbersetzt Wanderung bedeutet. Im klassischen Sinne umfasst der Terminus der internationalen Migration die Prozesse der Ab- bzw. Auswanderung (Emigration) aus einem Land und die Zu- bzw. Einwanderung (Immigration) in ein anderes Land.
Als zentrale Elemente zahlreicher soziologischer Definitionen, die den Begriff unterschiedlich weit bzw. eng fassen, können die Aspekte des Wechsels und der Bewegung herausgestellt werden (vgl. Treibel 2008b, 19). Treibel unternimmt eine zunĂ€chst weit gefasste Begriffsbestimmung: »Migration ist der auf Dauer angelegte bzw. dauerhaft werdende Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. in eine andere Region von einzelnen oder mehreren Menschen« (2008b, 21). BezĂŒglich der rĂ€umlichen Dimensionen von Migration kann zwischen einer Binnenwanderung innerhalb eines Landes oder auch einer Stadt und einer internationaler Migration ĂŒber die Grenzen eines Landes hinaus unterschieden werden. Letztere wiederum lĂ€sst sich in kontinentale und interkontinentale Wanderung unterteilen. Im weiteren Verlauf des Buches ist mit dem Begriff der Migration, wie im allgemeinen Sprachgebrauch ĂŒblich, stets eine internationale Migration gemeint.
Es lassen sich zahlreiche unterschiedliche Formen internationaler Migration unterscheiden (vgl. Pries 2010, 479). Hierzu zÀhlen u. a. Differenzierungen zwischen:
âą Nah- und Fernwanderung,
âą saisonaler und dauerhafter Migration,
âą individueller und Gruppenwanderung,
âą geplanter bzw. freiwilliger und ungeplanter bzw. unfreiwilliger Wanderung,
âą legaler und illegaler Migration.
Aspekte von Migration
Wanderbewegungen sind kein neues PhĂ€nomen, sondern zĂ€hlen in ganz unterschiedlichen Formen zur Kulturgeschichte der Menschheit. Mit der Industrialisierung und der Bildung von Nationalstaaten haben die sogenannten modernen Migrationsbewegungen begonnen. Besonders die zunehmende Internationalisierung und Globalisierung gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat eine weltweit verstĂ€rkte Migrationsbewegung zur Folge. Die daraus resultierenden demografischen VerĂ€nderungen drĂŒcken sich in einer zunehmend heterogenen Bevölkerung vieler LĂ€nder aus, die adĂ€quate politische, sozialpolitische und wissenschaftliche Reaktionen der EinwanderungslĂ€nder erfordern. Unter anderem innerhalb Deutschlands sind diesbezĂŒglich ĂŒber einen langen Zeitraum hinweg groĂe VersĂ€umnisse festzustellen. Etwa gegen Ende der 1990er-Jahre intensivierten sich die BemĂŒhungen um die in Deutschland lebenden Einwanderer und die Auseinandersetzungen mit den Folgen von Einwanderung (vgl. Nuscheler 2004, 135). Der Themenkomplex Migration rĂŒckte damit zunehmend in das gesellschaftliche Bewusstsein und wurde zu einer wichtigen gesellschaftspolitischen und auch wissenschaftlichen Herausforderung der Gegenwart.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik Migration erfolgt mehrperspektivisch und interdisziplinĂ€r â innerhalb der Rechtswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Geografie, Politikwissenschaft, Philosophie, Kulturanthropologie und Ethnografie, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Soziologie, Wirtschaftswissenschaft etc. Die hier im Vordergrund stehende soziologische Forschung befasst sich gegenwĂ€rtig vornehmlich mit den individuellen und gesellschaftlichen Ursachen und Folgen von Migrationsprozessen der Gegenwart und der jĂŒngsten Vergangenheit, etwa nach Ende des Zweiten Weltkrieges. In Deutschland werden diesbezĂŒglich insbesondere drei Hauptgruppen von Migranten unterschieden, die im 20. und 21. Jahrhundert eingewandert und fĂŒr derzeitige gesellschaftspolitische und sozialwissenschaftliche Fragen von Bedeutung sind:
1. Die erste Gruppe bilden die V...