Schlüsselwerke der Pädagogik
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Schlüsselwerke der Pädagogik

Band 2: Von Fröbel bis Luhmann

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Schlüsselwerke der Pädagogik

Band 2: Von Fröbel bis Luhmann

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Pedagogy, as conscious companion to education, is influenced by cultural context, social constellation und biographical fortune. This consciousness has developed in to various types of expression. They reach from examples and tractates, novelist forms and programmatic essays to the systematic works of the older and current theory of education.The two volumes interpret the great works of pedagogic literature?s contemporary meaning as well as the effects of the key texts for the development of pedagogic thinking.

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Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2008
Print ISBN
9783170196070
eBook ISBN
9783170277083
Edition
1

1. Einleitung

Kein Zweifel: die Pädagogik ist eine Wachstumsindustrie. Die Nachfrage nach allgemeinen und speziellen Erziehungsleistungen nimmt zu, und entsprechend vermehren und verzweigen sich die Angebote der unterschiedlichsten Art. Sie reichen von der Betreuung kleiner Kinder über Schulen aller Grade bis zur Unterweisung und Beratung von Erwachsenen, sozusagen Erziehung von der Wiege bis zur Bahre, auch wenn vielfach der Ausdruck »Erziehung« vermieden und von »Bildung« oder »Coaching«, von Information, Lernangeboten und individuellen Trainingsprogrammen die Rede ist. Woran das liegt, ist nicht schwer zu erkennen. Der Lernbedarf ist geradezu explodiert als Folge dessen, was man zusammenfassend als die Modernisierung so gut wie aller Lebensverhältnisse bezeichnen kann. Sie ist ja auch kein einmaliger, eindeutig datierbarer Vorgang, sondern längst zu einem Dauerzustand geworden. Und das bedeutet: Wir lernen nicht mehr aus.
In der Tat ist das Lernen längst nicht mehr in das Belieben der Einzelnen gestellt. Es gibt weit reichende Lernpflichten und zunehmend unumgängliche Lernerfordernisse, ohne die die durchschnittliche Lebensführung nicht mehr vorstellbar ist. Das hat zur Folge, dass selbst die elementaren Aufgaben des Erziehens nicht mehr den Eltern überlassen bleiben. Vor allem eine Neuerung unterscheidet die alte, vormoderne Erziehung grundlegend von der neuen Erziehung: Alle müssen zur Schule, und es empfiehlt sich, die Schule ernst zu nehmen, um nicht die Anschlusschancen für geeignete und zufrieden stellende Positionen in der Erwachsenenwelt zu verpassen. Die Abnahme dessen, was wir gleichsam natürlich und en passant lernen, nimmt zu.
Also brauchen wir Kindergärtnerinnen und Lehrer, Trainer, Logopäden und Berater, Erwachsenenbildner und Sozialpädagogen, die das Erziehen in irgend einer ihrer Formen zu ihrem Berufsthema machen und dazu mehr wissen und können sollten, als ihnen die durchschnittliche Lebenserfahrung zuspielt. Wie von selbst ergibt sich daraus: auch die Erzieherinnen und Erzieher von Beruf müssen ausgebildet und vorsorglich geprüft werden. Sie brauchen ihrerseits Ausbilder und Fachleute, Lehr- und Studiengänge mit einführenden Anweisungen, Lernprogrammen und Lehrbüchern. Es bedarf keiner besonderen Einsicht, um sich von dem verzweigten Apparat von Ausbildungseinrichtungen zu überzeugen, und auch keines besonderen Scharfblicks, um zu erkennen, dass die Treppe des Lernens und Lehrens immer weiter in die Höhe geführt worden ist, so dass am Ende die Pädagogik sich darstellt wie eine alte Stadt mit traditionsgeprägten Bauwerken, auch mit mancherlei historisch anmutenden Fassaden, hinter denen inzwischen moderne Büros eingezogen sind, und vor allem: mit neuen Anbauten, Umbauten und gänzlich traditionslosen Neubauvierteln.
So unterschiedlich die Nachfrage nach pädagogischen Leistungen und Hilfen, so verschieden sind auch die Angebote und die Texte, die über die Einzelpraxen berichten: Programme und Ankündigungen, Übersichten und Analysen, für jeden Abnehmer etwas und natürlich auch die wissenschaftliche Literatur. Monopole oder Alleinvertretungsansprüche gibt es auf diesem Markt nicht. In den Regalen pädagogischer Fachliteratur findet sich die Handreichung für ratlose Eltern neben der Studie über die moderne Jugendkultur, der Unterrichtsleitfaden für Lehranfänger neben den Ergebnisberichten der Schulforschung, Erbauungs- und Erlebnisschriften ebenso wie die Katastrophenberichte von der Erziehungsfront neben gelehrten Studien zur Geschichte von Bildung und Unterricht. Das Stichwort für diesen Betrieb lautet: Professionalisierung der Erziehung, ein soziologisch matter Ausdruck für die Vielfalt und Lebendigkeit dessen, was sich dahinter alles verbirgt.
Damit nicht genug. Nachdem das Erziehen nun einmal seit gut 200 Jahren zum Beruf geworden ist, hat sich ein entsprechender Apparat zur Ausbildung, Betreuung und Verwaltung des pädagogischen Personals herausgebildet, mit dem Ergebnis, dass Pädagogik sich auch als akademische Disziplin im Wissenschaftsbetrieb etabliert hat. Dabei kann es nicht ausbleiben, dass eben diese neuen Verhältnisse selber wieder zum Thema gemacht und wissenschaftsgerecht untersucht werden. Welches Wissen soll den künftigen Berufserziehern vermittelt werden und wie kann man ihnen beibringen, wie man anderen etwas beibringt? Angesichts der Vielfalt und Verschiedenartigkeit der pädagogischen Praxen und der Ausbildungsgänge von Pädagogen erscheint es inzwischen vielen angebracht, von ihrer eigenen Tätigkeit nicht mehr als Pädagogik, sondern als Erziehungswissenschaft und neuerdings von den Erziehungswissenschaften im Plural zu sprechen. Erziehungswissenschaftler beobachten das Erziehen und teilen ihre Ergebnisse zu freier Nutzung mit, ohne sich selber als pädagogisch in dem Sinne zu verstehen, dass sie bestimmte Erziehungswirkungen erreichen wollen. Insofern ähneln die modernen Erziehungswissenschaftler den Generälen und Managern von heute: Sie ziehen nicht mehr selber in den Krieg und arbeiten auch nicht an der Werkbank, sondern sie dirigieren aus den Führungsetagen das, was andere zu tun haben oder tun sollten.
Vollends die Vertreter der Allgemeinen Pädagogik oder besser gleich: der Systematischen Erziehungswissenschaft sind vor den Unbilden der Erziehung gleich doppelt geschützt. Sie sind nicht nur nicht in pädagogische Handlungen verstrickt, sie beobachten mittlerweile und in vielen Fällen nicht einmal die Erziehung, das geschieht in der Schul- und Sozialpädagogik, in der Berufspädagogik und bei den Erwachsenenbildnern und wird aktuell von der expandierenden, so genannten Bildungsforschung übernommen. Stattdessen beobachten und untersuchen sie, wie diese ihr Erziehungsfeld beobachten. Ob das für die Pädagogik eine günstige Entwicklung ist, lasse ich hier dahingestellt. Auf jeden Fall kann man sehen, dass im Zuge der Modernisierung und Ausdifferenzierung des Erziehungsgeschehens auch ein Revier für wissenschaftstheoretische Exerzitien entstanden ist. Es gibt inzwischen einen eigenen Adressatenkreis für das Nachdenken über das Erziehungsdenken, nicht ohne Folgen für die Themenwahl und den Stil, in dem die Sache der Pädagogik heute artikuliert wird.
In der hier vorgelegten Reihe der Schlüsselwerke findet sich etwas von dem Weg, den das Thema der Erziehung in den letzten zwei Jahrhunderten genommen hat. Die Fragen der unmittelbaren Erziehung sind Zug um Zug hinter allgemeineren Gesichtspunkten zurückgetreten und das Bewusstsein für die disziplinspezifischen Probleme hat zugenommen. Es zeigt sich aber auch, dass bei allen Theorie- und Reflexionsgewinnen es zuletzt eben doch das Verständnis der bleibenden Probleme des Lernens und des Erziehens ist, wodurch ein Werk verdient, als Schlüsselwerk der Pädagogik angesehen zu werden. So schätzenswert ein elaboriertes Reflexionsniveau auch sein mag, was am Ende interessiert, sind die Antworten auf die Frage, welche Unterschiede und welche Gewinne sich daraus für das pädagogische Handeln ergeben. Das ist zumindest ein Gesichtspunkt für die Auswahl der Einzelwerke, die hier vorgestellt werden. Doch wird der kundige Leser manches vermissen, was zum etablierten Bücherschatz des fachbewussten Pädagogen gehört, und sich auch über einiges wundern, was inzwischen in der Brunnentiefe des Vergessens verschwunden schien. Vor allem dürfte als Mangel angesehen werden, dass es vornehmlich Autoren der deutschsprachigen Pädagogik sind, die berücksichtigt werden, und von den nichtdeutschen Autoren eben nur solche, die auch hierzulande rezipiert worden sind. Das passt nicht zur heute erwünschten Internationalität der pädagogischen Forschung, in der sich ja auch eine Tendenz zur globalen Planung und Steuerung von Erziehungsprozessen ausdrückt.
Dieser Mangel ist nicht zu leugnen. Zur Rechtfertigung fällt dem Verfasser, außer dem Eingeständnis seiner eigenen Grenzen, nur ein, dass er sich als Leser nicht die anonyme Schar der Pädagogikinteressenten weltweit vorstellt, auch nicht die international über Kongresse vernetzte scientific community; er denkt vielmehr an diejenigen, die sich mit den Erziehungsfragen in unseren Verhältnissen vertraut machen wollen. Er schreibt nicht für Leser in North Dakota oder New York City, nicht einmal für Kollegen in Italien, der Türkei oder Japan. So interessant und aufschlussreich es wäre, den Kontexten einer globalen Pädagogik nachzugehen, es bleibt daran zu erinnern, dass für die Erziehung gilt, was einmal von Tip O’Neill, dem langjährigen Präsidenten des amerikanischen Repräsentantenhauses, für die Politik treffend formuliert worden ist: All politics is local. Man sollte gewiss auch global denken und sich in der Welt umsehen und umhören, doch wie gelernt und erzogen wird, gehört zuerst und wesentlich zu den nächstliegenden Aufgaben, wie sie sich aus den besonderen kulturellen, sozialen und politischen Umständen ergeben. Auch bleibt zu bedenken, dass eine Erziehungswissenschaft, die das übergeht, was Justus Möser einmal die »Lokalvernunft« genannt hat, und sich rückhaltlos dem Geschäft der Standardisierung zur Verfügung stellt, als ob es lebenswichtig sei, dass die Kinder in Südkorea, auf den Malediven und in Mecklenburg-Vorpommern nach den selben Curricula unterrichtet werden – dass eine solche Erziehungswissenschaft die affektiven Grundlagen schwächt, ohne die die Erziehung selber noch schwieriger wird, als sie ohnehin schon ist.
Was die Gesichtspunkte angeht, unter denen die einzelnen Werke erörtert werden, so ist das Nötige in der Einleitung zum 1. Band gesagt worden und braucht hier nicht wiederholt zu werden. Mit einer Einschränkung vielleicht und einem Unterschied, der sich auf die Entstehungszeit und damit auf die historischen Kontexte bezieht, denen sich die jeweiligen Werke verdanken. In gewisser Weise kann man sagen, dass alle hier vorgestellten Autoren und Werke unserer Gegenwart angehören. Wir können sie wie Zeitgenossen lesen. Sie sprechen unsere Sprache, oder genauer: wir sprechen noch in den Umformulierungen und Neologismen die Sprache, die sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts für die Pädagogik eingebürgert hat. Ihre maßgebenden Themen sind auch unsere Themen, und die Unterschiede, die wir im Einzelnen feststellen, haben weniger mit dem Zeitablauf zu tun als mit den auch heute anzutreffenden Meinungs- und Auffassungsunterschieden, wie sie man bei jedem beliebigen Pädagogentreffen erleben kann. Gewiss, Fröbel und Diesterweg kannten noch keine Autos und nicht die Antibabypille, die industrielle Revolution zeichnete sich erst in Umrissen ab, das »Maschinenwesen«, das den alten Goethe täglich mehr ängstigte, stand erst am Anfang und vieles andere mehr, das heute zum täglichen Umgang und zu den Selbstverständlichkeiten der Lebensführung gehört, wurde noch am Ausgang des 19. Jahrhunderts nicht einmal geahnt. Dennoch: Die Menschen und Autoren des 19. und vollends des 20. Jahrhunderts sind intellektuell und moralisch unsere Zeitgenossen und gehören zu unserer Gegenwart, ungeachtet der Überlegenheitsgefühle, die viele der heute Lebenden gegenüber denen hegen, die sich eben jetzt nicht mehr zu Wort melden können.
Zugegeben, für Fragen der Hirnforschung, der Computertechnologie oder der Rentenfinanzierung dürfte das allerdings nicht zutreffen, wohl aber für Fragen der Erziehung. Da ist es vor allem ein Problem, das in vielen Variationen wiederkehrt und das pädagogische Denken und Handeln unablässig beschäftigt, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, von Bürger und Staat, von Freiheit und sozialer Abhängigkeit, von selbstbestimmter Identität und verordneter Rolle oder schließlich: die Frage nach dem Verhältnis von personalen und sozialen Systemen. Zur Programmatik der Aufklärung gehört die Autonomie des Subjekts; aber die Erfahrung ihrer Realisierung scheint auch zu zeigen, dass es damit nicht weit her ist. Nicht etwa deshalb oder nur deshalb, weil diesem Autonomieanspruch ungünstige und widerstreitende Kräfte entgegenstehen, sondern weil er selbst in sich schon fragwürdig ist. Noch in den entschiedensten Behauptungen des Selbst lassen sich die Abhängigkeiten aufweisen, von denen es sich emanzipieren möchte.
Es ist sehr die Frage, ob das moderne Freiheitsbewusstsein sich maßgeblich dem bloßen Entschluss verdankt, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen, wie es Kant in seiner Aufklärungsschrift ausgeführt hat, oder ob nicht vielmehr die soziale Differenzierung oder wie es heute heißt: die Ausdifferenzierung der Gesellschaft dem Einzelnen gar keine andere Wahl lässt, als sich individuell zu organisieren, ob er will oder nicht. Es ist gar nicht ausgemacht, ob die feststellbare Ichbetonung der Grund oder die Folge oder eine Kombination von beidem das ist, womit es die Erziehung programmatisch und faktisch zu tun hat, und das heißt, ob sich die Pädagogik ausdrücklich als Individualpädagogik oder nicht besser als Sozialpädagogik (im Sinne von Otto Willmann und Paul Natorp) oder als eine Bemühung zu verstehen hat, die die sozial vermittelte Identität mit der von den Individuen zu verantwortenden Sozialität in ein Verhältnis zu bringen hat.
Vor diesem Hintergrund kann man die vorgestellten Werke und Autoren auch als Teilnehmer eines gemeinsamen Gesprächs vorstellen; jeder mit seinen besonderen Einsichten und Anliegen und alle bemüht, Begriff und Wirklichkeit der Erziehung richtig zu sehen und nach Möglichkeit auch zu fördern. Dass sie hier allerdings durch einen Moderator sprechen, der auch seine Befangenheiten und Vorlieben hat, ist ein Mangel, der sich nur beheben lässt, wenn der geneigte Leser selber sich die Werke ansieht, die hier vorgestellt werden.

2. Friedrich Fröbel:
Die Menschenerziehung

Nicht alles, was erst später in der Zeitreihe erscheint und auf den Markt gebracht wird, ist deshalb schon modern und auf der Höhe der aktuellen Diskussion. Es gibt wie in Familien Nachkömmlinge auch der intellektuellen Produktivität, die noch einmal Themen und Motive aufnehmen, von denen man schon glaubte, sie seien überholt, und dabei an etwas erinnern, was dann wieder Zukunft gewinnt und sich länger hält als die aktuelle Avantgarde. Ein solcher Fall scheint mir mit der zuerst im Jahre 1826 vorgelegten »Menschenerziehung« von Friedrich Fröbel gegeben, und deshalb steht er hier an erster Stelle. In der Tat bewegt er sich in einem Gedankenkreis, der eigentlich nach Kants Vernunftkritik und Herbarts Entwurf einer »Allgemeinen Pädagogik« als Wissenschaft nicht mehr zu erwarten war. Dennoch gehört seine Pädagogik zu den bedeutenden Zeugnissen des Nachdenkens über Erziehung und die »Menschenerziehung« unzweifelhaft zu den Schlüsselwerken der Pädagogik.
Allerdings: die Versuchung ist groß, Fröbel ganz und gar historisch-hermeneutisch zu erfassen, das heißt allein im Blick auf sein Leben und seine pädagogische Praxis, um von daher seine Gedanken zu verstehen und zu beurteilen. In der Tat kann man ihn nicht verstehen, ohne auf seine Praxis einzugehen, und das Werk nicht, ohne einige Aufmerksamkeit seiner Lebensgeschichte zu widmen. Aber in der Hauptsache muss es doch um seine Auffassung von Erziehung gehen. Für seinen Grundgedanken hat er einen griffigen, dann oft aufgegriffenen Titel gefunden: das sphärische Gesetz. Das wird zu erklären sein, so gut es geht. Vorgreifend will ich das sphärische Gesetz so kennzeichnen: Alles hängt mit allem in guter Ordnung zusammen; das Menschliche, die Welt als Inbegriff des Äußeren, das uns umgibt, und das Göttliche, das gleichfalls außer uns, aber auch in uns ist. Das mag genügen, den großen Bogen des Erziehungsdenkens Fröbels anzudeuten; er gehört ganz und gar nicht zu den akademischen Pädagogen, zu den Erziehungswissenschaftlern, wie sie im 19. Jahrhundert wirksam werden und wie sie heute da sind: kein simpler Empiriker, der prüft, ob Rechtshänder mit Plattfüßen genauso lernen wie Linkshänder aus zerrütteten Familien. Überhaupt ist er kein Theoretiker und Schreibtischpädagoge, der empirisches Wissen und Spekulation verbindet, sondern eine singuläre Gestalt mit einem pädagogischen Schicksal.
Ich fange mit dem an, was man so die »Fakten« nennt, das ist das, was man ungeachtet aller Interpretationen als sicher belegt ansehen und vernünftigerweise nicht bestreiten kann. Dazu stütze ich mich auf das »Lebensbild«, das Erika Hoffmann im ersten Band ihrer zusammen mit Helmut Heiland herausgegebenen dreibändigen Fröbelausgabe gegeben hat.
Fröbel ist Jahrgang 1782 und lebte bis 1852. Seine Jugend und ersten Mannesjahre fallen mit dem großen Umbruch in Deutschland zusammen, mit den napoleonischen Wirren, der preußischen Reformzeit, später dann Restauration, Vormärz, die Revolution oder der Versuch zur Revolution 1848. Es ist auch die Zeit, in der sich die Industrialisierung anbahnt – 1835 fährt die erste Eisenbahn mit der Wahnsinnsgeschwindigkeit von 40 km/h, so dass besonnene und besorgte Fachleute fürchteten, das würde die Menschen ruinieren. Das Maschinenzeitalter zieht herauf, das »Maschinenwesen«, von dem der alte Goethe bemerkt, es ängstige ihn täglich mehr. So viel oder besser so wenig zum zeitgeschichtlichen Horizont. Wichtiger dürfte für Fröbel das Milieu und die familiäre Konstellation gewesen sein: es ist das evangelische Pastorenmilieu, eine Brutstätte, wenn ich so sagen darf, für Genies und große Aspirationen. Unser Friedrich ist das vierte Kind einer Thüringer Pfarrersfamilie, einer Pfarrerssippe, denn auch Onkel und ältere Brüder sind oder werden Pastoren; die Frauen stammen ihrerseits aus Pastorenfamilien.
So weit, so typisch. Aber das entscheidende Datum dürfte der Tod der Mutter gewesen sein, da ist er noch nicht zwei Jahre alt. Die Interpreten sind sich einig: das ist die produktive Katastrophe seines Lebens. Der Vater heiratet noch einmal, als der Junge vier Jahre alt ist, aber da ist offenbar das Gefühl der Entfremdung, des Allein- und Verlassenseins schon so tief eingewurzelt, dass das Verhältnis zur Stiefmutter förmlich-kalt bleibt, das Verhältnis zum Vater ehrfurchtsvoll distanziert. Fröbel ist das verlassene Kind. Da liegt es nahe, seinen Lebensweg und seine Pädagogik als den Versuch der Kompensation eines elementaren Defizits zu lesen, des Vertrauensdefizits und der unauslöschlichen Erfahrung der Ungeborgenheit. Kein Wunder, so könnte man sagen, dass er sich auf Mütterlichkeit versteht, eben weil er ohne Mutter und anhaltende mütterliche Sorge aufgewachsen ist. Dies ist aber nicht mehr bloß das Faktische, sondern schon Interpretation, erst seine eigene, dann aber auch der Fröbel-Leser, die ihm darin gefolgt sind.
Der Leitgedanke ist: wir gewinnen unsere Grundeinstellungen, sozusagen das Lebensgefühl sehr früh; je früher desto bestimmender die Eindrücke. Ein Defizit an dieser Stelle hat lebenslange Folgen; wir werden das Kind nicht los, das wir waren, »the inner child of the past«, so der Titel des Buches von W. Missildine; zu deutsch: »In dir lebt das Kind, das du warst« (1963). Das gilt auch und vielleicht sogar in besonderer Weise für diejenigen, die die Erziehung zu ihrer Lebensaufgabe machen. Darauf hat auch Siegfried Bernfeld in seinem einflussreichen Buch: »Sisyphos, oder die Grenzen der Erziehung« von 1925 aufmerksam gemacht. Bernfeld sagt da: »Wer immer über Kindheit und Jugend denkt, steht unter einer psychischen Konstellation, die das reine Denkergebnis affektiv gefährden will. Ein Kind kennt er mit unvermeidlicher Aufdringlichkeit: sich selbst als Kind« (Bernfeld 1973). Ich übersetze das wie folgt: in unser Verständnis von Kindern und ihrer Erziehung spielt immer auch das Kind hinein, das wir gewesen sind, das innere Kind im großen Kind, das wir lebenslang bleiben.
Wie sicher diese Auffassung ist, lasse ich dahingestellt. Zurück zu unserem Problemkind: Fröbel ist nicht nur das verlassene, sondern auch das zurückgesetzte Kind. Außer dem ältesten, 14 Jahre älteren Bruder kümmert sich keiner richtig um ihn. Mit 10 Jahren wird er zu einem Onkel abgeschoben, und es beginnt die Odyssee seines Lebens. Er kommt nicht zur Ruhe. Studieren soll er nicht, anders als einige der Brüder und Halbbrüder; er scheint nicht gut zu lernen, ist eigensinnig, kein schlechter Junge; aber verschlossen, in sich verschlossen. Die Ausbildung bleibt unregelmäßig, ohne Abschlüsse und Zertifikate als Karrierevoraussetzung. Er soll Feldmesser werden, lernt bei einem Förster, verdingt sich als Hauslehrer, erst bei einer adeligen Familie in Mecklenburg, dann in Frankfurt, mit deren Kindern er nach Ifferten zieht und dort mit Pestalozzi bekannt und vertraut wird. Was den äußeren Lebensgang betrifft, sieht das alles recht zufällig aus; auch zur Pädagogik kommt er per Zufall, aber die innere Entwicklung ist ganz anders: Fröbel ist der Autodidakt par excellence, vorübergehend ist er in Jena Student – das ging damals noch ohne Abitur –, aber auch das Studium ist unregelmäßig, seine Lektüre indes weitreichend, intensiv, ungeregelt. Er liest, was ihn fördert oder was zu ihm passt. Er studiert nicht systematisch, sondern gewissermaßen biographisch. Dabei findet er aber immer wieder Unterstützung und Freunde, auch Geldgeber. Er gründet schließlich eine Erziehungsanstalt, »Keilhau« in Thüringen, da ist er gut zehn Jahre, von 1817/20 bis 1831, dann wieder unterwegs, neue Gründungen folgen; er ist inzwischen bekannt, auch umstritten, gerät in den Geruch des Revoluzzertums, auch durch seinen Neffen Julius Fröbel, einen der später führenden Liberalen nach 1850.
Ich will nicht den ganzen Roman seines Lebens erzählen, sondern nur die sich wiederholende Figur seines Lebens verdeutlichen: permanente Unstetigkeit und zugleich Konsequenz und Ausprägung seiner Grundidee des »sphärischen Gesetzes«. Wir gewinnen dieses Bild: eine schwierige Kindheit, mit der Folge, dass er zum Selbstversorger in Sachen des Lernens wird, unregelmäßige Ausbildungen, dann pädagogisc...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. 1. Einleitung
  6. 2. Friedrich Fröbel: Die Menschenerziehung
  7. 3. Johann Friedrich Herbart: Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet
  8. 4. Friedrich Immanuel Niethammer: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit
  9. 5. Friedrich Schleiermacher: Pädagogische Vorlesungen aus dem Jahre 1826
  10. 6. Adolph Diesterweg: Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer
  11. 7. Herbert Spencer: Die Erziehung in intellektueller, moralischer und physischer Hinsicht
  12. 8. Otto Willmann: Didaktik als Bildungslehre
  13. 9. Wilhelm Dilthey: Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft
  14. 10. Emile Durkheim: L’éducation morale – Erziehung, Moral und Gesellschaft
  15. 11. Paul Natorp: Allgemeine Pädagogik in Leitsätzen zu akademischen Vorlesungen
  16. 12. John Dewey: How we think – Wie wir denken
  17. 13. Aloys Fischer: Deskriptive Pädagogik
  18. 14. Wilhelm Flitner: Allgemeine Pädagogik
  19. 15. Otto Friedrich Bollnow: Die anthropologische Betrachtungsweise in der Pädagogik
  20. 16. Siegfried Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung
  21. 17. Wolfgang Brezinka: Metatheorie der Erziehung
  22. 18. Klaus Mollenhauer: Theorien zum Erziehungsprozess
  23. 19. Harm Paschen: Logik der Erziehungswissenschaft
  24. 20. Dietrich Benner: Allgemeine Pädagogik
  25. 21. Niklas Luhmann: Das Erziehungs-system der Gesellschaft