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Sehen und Verstehen

Visuelle Strategien in der Förderung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung

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Visuelle Strategien in der Förderung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung

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Visuelle Strategien zählen in der Förderung von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung zu den etablierten und evidenzbasierten Methoden. Doch welche Arten von visuellen Strategien gibt es und wie setzt man sie ein? Die systematische Einordnung gängiger Strategien bildet die Basis für eine effektive praktische Anwendung. Durch eine einfache und verständliche Darstellung der Inhalte wird den Leserinnen und Lesern ein schneller Zugang zur Thematik ermöglicht. Der hohe Praxisbezug ergibt sich zudem durch die Vielzahl an Beispielen in Kombination mit Fotografien konkreter Materialien.

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Information

 
 
 
 
 

1          Visuelle Strategien: Besonders hilfreich für Menschen mit einer autistischen Wahrnehmung

 
Die Verarbeitung visueller Informationen zählt meist zu den Stärken von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Häufig haben sie herausragende Fähigkeiten in der räumlich-visuellen Wahrnehmung, können visuelle Reize schnell entdecken und sind unempfindlich gegen visuelle Täuschungen (hierzu gibt es einen umfassenden Überblicksartikel von Simmons et al., 2009). Auch das visuelle Gedächtnis – zumindest für weniger komplexe Informationen – ist bei vielen Menschen mit ASS ausgesprochen gut (Williams, Goldstein & Minshew, 2006).
In einer Meta-Analyse von Studien zur Gehirnaktivität bei Autismus konnten Samson und ihre Kollegen (2012) nachweisen, dass Personen mit ASS Hirnbereiche, die mit visueller Verarbeitung zu tun haben, deutlich stärker beanspruchen als Personen ohne ASS. Somit bleiben ihnen weniger Ressourcen für die Aktivierung anderer Hirnbereiche, die für höhere Funktionen wie Organisation, Kontrolle, Entscheidungen und strategische Planung zuständig sind. Dies kann die häufig beobachtete Stärke der visuellen Wahrnehmung ebenso erklären wie die typischen Schwierigkeiten mit Organisation und Handlungsplanung.
In Bezug auf die visuelle Wahrnehmung von Menschen mit ASS ist aber auch bekannt, dass sie sich mehr auf Einzelheiten konzentrieren und es ihnen schwerfällt, (bedeutsame) Zusammenhänge zu erkennen (Müller, 2008). Dies wirkt sich in komplexeren Situationen aus, wenn es darum geht, sich die Bedeutung aus dem Zusammenspiel mehrerer Details zu erschließen. Hinzu kommt, dass Personen mit ASS ihre Aufmerksamkeit oft auf andere Dinge lenken als die, welche für das Verständnis der Situation wichtig sind. Somit fällt es ihnen noch schwerer, inhaltliche Zusammenhänge herzustellen.
Im Gegensatz zur Stärke in der visuellen Wahrnehmung ist bei Autismus zudem die Verarbeitung von Tönen und Sprache verlangsamt (Roberts et al., 2010). Auch wenn es sich nur um kurze Verzögerungen bei der Sprachverarbeitung handelt (11 Millisekunden), häufen sich diese an. So kommt es oft vor, dass ein Kind mit Autismus noch den ersten Teil eines Satzes verarbeitet, während dieser bereits beendet ist und das Gespräch weitergeht.
Vor dem Hintergrund dieser Wahrnehmungsbesonderheiten liegt es nahe, in der Förderung von Menschen mit ASS den bevorzugten Sinneskanal anzusprechen und visuelle Strategien zu nutzen. Im Lauf der Zeit wurden viele Ideen entwickelt, wie man durch visuelle Formen der Unterstützung das Lernen und die Handlungsfähigkeit von Personen mit ASS fördern kann. Solche Strategien haben sich in der Praxis vielfach bewährt und gehören mittlerweile zu den etablierten Bestandteilen der pädagogisch-therapeutischen Arbeit.
Das National Professional Development Center on Autism Spectrum Disorder (NPDC) hat 2007 bis 2014 in den USA mit Hilfe staatlicher Mittel gezielte Interventionen und Methoden zur Förderung von Menschen mit ASS auf ihre wissenschaftlich nachweisbare Wirksamkeit untersucht. Es konnten 27 Interventionen identifiziert werden, die den strengen Anforderungen der Forschungsgruppe genügten und als »evidenzbasierte« Methoden eingestuft wurden. Visuelle Hilfen sind eine davon: Sie zählen zu den anerkannten und effektiven Strategien der autismusspezifischen Förderung (vgl. Autism Professional Development Center, 2017). Die Ergebnisse dieser Studie sind unter http://autismpdc.fpg.unc.edu/evidence-based-practices (Stand: 24.01.18) einsehbar.

1.1       Zehn gute Gründe für die Verwendung visueller Hilfen

Es gibt mehr als einen Grund, warum visuelle Strategien in der Begleitung und Förderung von Personen mit ASS hilfreich sind. Sie zielen auf unterschiedliche Defizite und Schwierigkeiten ab, die jedoch nicht immer alle vorliegen müssen. Welche Person mit welchen konkreten Herausforderungen konfrontiert ist, muss individuell abgeklärt werden. In jedem Fall reicht jedoch ein guter Grund für die Verwendung visueller Hilfen. Die folgende Auflistung benennt zehn Aspekte, die man bedenken sollte.
1.  Visuelle Informationen werden leichter verarbeitet. (Wir nutzen die Stärke in dieser Sinnesmodalität.)
2.  Visuelle Informationen bieten eine Alternative oder Ergänzung zu verbaler Sprache. (Wir umgehen Probleme bei der Sprachverarbeitung.)
3.  Visuelle Informationen lassen mehr Zeit für die Verarbeitung. (Wir ermöglichen ein individuelles Verarbeitungstempo.)
4.  Auf visuelle Informationen kann man immer wieder zugreifen; sie sind beständig. (Wir bieten Erinnerungshilfen und umgehen somit Probleme mit der auditiven Merkfähigkeit. Zudem geben wir emotionale Sicherheit.)
5.  Visuelle Informationen lassen sich leichter merken. (Wir nutzen die Stärke im visuellen Gedächtnis.)
6.  Durch visuell klar strukturierte Gestaltung wird die Informationsaufnahme erleichtert. (Wir lenken die Aufmerksamkeit auf das Wesentliche.)
7.  Durch visuell klar strukturierte Gestaltung wird die Entschlüsselung der Information erleichtert. (Wir machen Zusammenhänge kenntlich und erleichtern so das Erkennen der Bedeutung.)
8.  Visuelle Hilfen bieten Information, Struktur und Handlungsimpulse. (Wir kompensieren Probleme mit der Organisation, Planung und Kontrolle.)
9.  Visuelle Hilfen vermitteln eindeutige konkrete Botschaften; es besteht keine Notwendigkeit, Tonfall, Mimik und Blickverhalten zu interpretieren. (Wir umgehen Schwierigkeiten in der Verarbeitung sozialer Reize.)
10.  Auf visuelle Hilfen kann man zugreifen, auch wenn niemand sonst da ist; sie unterstützen oder ermöglichen selbstständiges Handeln. (Wir vermeiden eine Abhängigkeit von anderen Personen.)

2 Grundsätzliche Überlegungen zum Einsatz visueller Strategien

Visuelle Hilfen in der Förderung von Menschen mit ASS können die verschiedensten Formen annehmen und ganz unterschiedlichen Zielen dienen. Um sie sinnvoll und effektiv anzuwenden, sollten einige grundlegende Fragen geklärt sein, bevor man an die praktische Umsetzung geht. Insbesondere sollte klar definiert sein, welches Ziel man damit erreichen möchte. Je nachdem, mit welchem Ziel eine Strategie eingesetzt wird, erfüllt sie eine entsprechende Funktion. Abhängig von der jeweiligen Funktion unterscheiden sich dann auch die Vorgehensweisen im praktischen Einsatz.
Im Folgenden betrachten wir daher zunächst die verschiedenen Arten visueller Hilfen und gehen dann der Frage nach, was dies für den Umgang mit den Materialien bedeutet.

2.1 Verschiedene Arten visueller Hilfen – die Unterschiede sollte man kennen!

Der Einsatz visueller Strategien in der Förderung von Menschen mit Autismus ist weit verbreitet und es gibt mittlerweile eine Vielzahl visueller Strategien und Hilfsmittel, die für unterschiedliche Problemstellungen entwickelt und erprobt wurden. In der folgenden Aufzählung werden gängige Strategien (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) aufgelistet. Es wird deutlich: Visuelle Strategien umfassen nicht nur verschiedenartige Formate, sondern beziehen sich auch auf ganz unterschiedliche Themen und Inhalte der Förderung.
Visuelle Strategien in der Förderung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung (Beispiele)
• Arbeitssysteme und strukturierte Arbeitsplätze
• Auswahlbretter/Auswahlkiste
• Bildliche oder schriftliche Ortsbezeichnungen
• Bildliche oder schriftliche Verhaltenshinweise (z. B. Nein!-Karte, Stopp-Schild, Leise!)
• Checklisten
• Comic-Strip-Conversations
• Erinnerungshilfen
• Kommunikationsbuch (mit Bildern/Kommunikationskarten)
• Kommunikationstasche (mit Gegenständen)
• Pausenkarte (in Stresssituationen)
• Pläne (Zeitpläne, Ablaufpläne, Instruktionspläne usw.)
• Power Cards
• Schablonen, Markierungen
• Skalen zur Selbsteinschätzung (Stimmungsbarometer, Stresslevel usw.)
• Social Stories™
• Soziale Skripte
• Talker/I-Pad mit Kommunikations-App
• Timer, Uhren
• Verstärkersysteme
• Visuell strukturierte Aufgaben
• Visuelle Informationen (Objekte, Bilder, Schrift) als Übergangshinweise zur nächsten Aktivität
• Visuelle Instruktionen und Regeln
• Visuelle Rückmeldesysteme (z. B. Bewertungen, Lautstärke-Skala)
• Visuelle Strukturierung des Raumes
• Visueller Count-Down
• Warte-Karte
So vielseitig die Strategien und Materialien auch sind, sie haben eines gemeinsam: Alle dienen der Vermittlung von Informationen. Sie lassen sich in zwei grundlegende Kategorien einteilen: Zum einen gibt es die Strategien, die im direkten Austausch mit einer anderen Person eingesetzt werden. In diesem Fall handelt es sich um ergänzende oder alternative Mittel der (direkten) Kommunikation. Greift eine Person dagegen von sich aus auf visuelle Hinweise zu, die für sie in ihrer Umwelt zugänglich sind, so dient dies der selbstständigen Information.
Im Rahmen der Kommunikation wiederum müssen wir unterscheiden, wer die visuellen Strategien verwendet. So kann sowohl die Person mit ASS als auch die Bezugsperson visuelle Hilfen zur Kommunikation einsetzen. Es gibt also drei Arten visueller Strategien:
Wenn wir jemandem im direkten Kontakt etwas mitteilen wollen, so tun wir es im Allgemeinen über Sprache (unterstützt durch Mimik und Gestik). Bleibt dies erfolglos, können wir vielleicht eine Handlung vormachen, um zu zeigen, was wir meinen. Möglicherweise hilft eine pantomimische Darstellung oder entsprechende Gebärde. Werden wir – trotz der zusätzlichen visuellen Hinweise durch Mimik, Gestik, Demonstration einer Handlung oder Gebärde – noch immer nicht verstanden, kann es sinnvoll sein, etwas aufzuschreiben oder aufzuzeichnen, um uns verständlich zu machen. In dem Fall nutzen wir körperfremde (visuelle) Kommunikationsmittel, um uns mitzuteilen.
Dies ist häufig eine sehr effektive Strategie, wenn man mit Personen umgeht, die eine autistische Wahrnehmung haben: Bezugspersonen verwenden dann visuelle Hilfsmittel, wie zum Beispiel bedeutungsvolle Gegenstände, Bildkarten oder schriftliche Hinweise, um das, was sie sagen wollen, zu vermitteln. Darüber hinaus strukturieren sie die Situation so, dass durch deren Gestaltung ersichtlich wird, worauf sie hinauswollen. Im Hinblick auf die Person mit ASS handelt es sich bei dieser Art ...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Vorwort zur Reihe »Autismus Konkret«
  5. Inhalt
  6. Vorwort
  7. 1 Visuelle Strategien: Besonders hilfreich für Menschen mit einer autistischen Wahrnehmung
  8. 2 Grundsätzliche Überlegungen zum Einsatz visueller Strategien
  9. 3 Praktische Tipps zur Gestaltung visueller Hilfen
  10. 4 Selbstständigkeit im Alltag unterstützen: Visuelle Strategien in der Praxis
  11. 5 Flexibel unterwegs: Praktische Kommunikationshilfen für Bezugspersonen
  12. 6 Literatur