1 ICF â Die Internationale Klassifikation der FunktionsfĂ€higkeit, Behinderung und Gesundheit: Eine praxisrelevante Zusammenfassung
Michael Schilder
Einleitung
Klassifikationssysteme in den Gesundheitsberufen dienen dazu, in verschlĂŒsselter und systematischer Form diejenigen Begriffe und deren Beziehungen zueinander zu bĂŒndeln, die fĂŒr den jeweiligen Beruf zur Abbildung des beruflichen Handlungsprozesses von Bedeutung sind. Als interdisziplinĂ€re Fachsprache soll die ICF dazu beitragen, PhĂ€nomene im Zusammenhang mit funktionaler Gesundheit bzw. funktionalen Problemen eindeutig fĂŒr alle professionellen Berufsgruppen im Gesundheits- und Sozialwesen zu definieren, was die Voraussetzung fĂŒr deren einheitliches VerstĂ€ndnis und darauf bezogenes Handeln darstellt. Gesellschaftliche Entwicklungen in den IndustrielĂ€ndern, wie die steigende Lebenserwartung und die Zunahme chronischer Erkrankungen mit ZustĂ€nden, die zumeist nicht medizinisch therapiert und ausgeheilt werden, sondern mit lĂ€nger wĂ€hrenden funktionalen Folgeproblemen verbunden sind, machten in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die ErgĂ€nzung der bestehenden medizinischen Nomenklatur ICD durch die ICF erforderlich (DIMDI 2005; Schuntermann 2009). Diese ergĂ€nzt als Klassifikation der Gesundheitscharakteristiken die medizinische Klassifikation (ICD) und die pflegerischen (wie z. B NANDA-I), indem vor allem die sozialen Folgen einer Erkrankung in den Blick genommen werden. Mit der ZusammenfĂŒhrung der biologischen, individuellen und sozialen Ebenen basiert die ICF auf einem bio-psychosozialen Modell. Dieses beschreibt âdie Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem (ICD) und ihren Kontextfaktoren auf ihre Körperfunktionen und -strukturen, ihre AktivitĂ€ten und ihre Teilhabe an Lebensbereichenâ (DIMDI 2005, Schuntermann 2009).
Mit der ICF ist der Anspruch einer gemeinsamen Sprache aller Gesundheitsberufe verbunden. Als solche kann sie vor allem eine Perspektive im diagnostischen Prozess, zur interdisziplinĂ€ren Strategiefindung und Erfolgsmessung bieten. Im Rahmen dieses Beitrags soll aufgezeigt werden, was die ICF im Kern ausmacht. An einem Fallbeispiel wird exemplarisch die Anwendung der ICF veranschaulicht, um daraus Anhaltspunkte fĂŒr ihre Verwendung im Rahmen der Rehabilitation abzuleiten.
1.1 Die Perspektive der ICF und ihre Grundelemente
Die ICF bietet als Gesundheitsklassifikation Elemente zur Beschreibung von funktionaler Gesundheit bzw. funktionalen Problemen. Wo die ICD Krankheiten und deren verursachende Faktoren beschreibt, nimmt die ICF die negativen Auswirkungen dieser auf das Leben eines Betroffenen in den Blick. Damit erweitert sie die Perspektive um die sozialen Folgen, die aus der Wechselwirkung des von einem Gesundheitsproblem betroffenen Individuums mit der gesellschaftlichen Reaktion resultieren und die sich darin zeigen, ob und in welcher Weise der Betroffene von der Teilhabe an Lebensbereichen wie Arbeit, Bildung und Gemeinschaftsleben ausgeschlossen ist. Mit dieser Schwerpunktsetzung verspricht die ICF auch einen Beitrag zur Verwendung in der beruflichen Pflege zu leisten, wenn der American Nurses Association (ANA)-Definition von Pflege â als die âDiagnose und Therapie menschlicher Reaktionen auf aktuelle oder potenzielle Gesundheitsproblemeâ â gefolgt wird, da sich auch die berufliche Pflege innerhalb des Lebens der Betroffenen abspielt (Gordon & Bartolomeyczik 2001). Wenn sich die Rehabilitation bei einer drohenden oder bestehenden Störung der Teilhabe des Menschen auf âdas multi- und interdisziplinĂ€re Management der Funktionalen Gesundheit einer Personâ in Form von Wiederherstellung oder Besserung dieser Gesundheit ausrichtet, erfasst die ICF eben diesen Gegenstand (Schuntermann 2009). So enthĂ€lt die ICF als Klassifikation diejenigen Elemente, die zur Abbildung von funktionaler Gesundheit oder deren EinschrĂ€nkung erforderlich sind. DemgemÀà ist der Mensch funktional gesund, wenn
- die körperlichen Strukturen und Funktionen einschlieĂlich geistiger und seelischer Aspekte allgemein anerkannten statistischen Normen entsprechen (dieser Sachverhalt wird in den Teilklassifikationen der âKörperfunktionenâ und âKörperstrukturenâ abgebildet),
- der Mensch all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsprobleme erwartet wird und
- die Person damit zu all den Lebensbereichen Zugang hat, die fĂŒr sie wichtig sind, und innerhalb derer sie sich entfalten kann (die beiden letztgenannten Sachverhalte finden sich in der Teilklassifikation der âAktivitĂ€ten und der Teilhabeâ) (DIMDI 2005, Schuntermann 2009).
Körperfunktionen und -strukturen beziehen sich auf den menschlichen Organismus einschlieĂlich des mentalen Bereichs (Schuntermann 2009). Stellen Körperfunktionen auf die physiologischen und psychologischen Funktionen von Körpersystemen ab, bilden Körperstrukturen innerhalb der ICF anatomische Teile des Körpers, wie Organe, GliedmaĂen, und ihre Bestandteile, wie z. B Strukturen des Nervensystems, ab. Die individuelle Ebene des einzelnen handelnden Menschen in seiner Daseinsentfaltung in der Gesellschaft und Umwelt findet sich hingegen in den Teilklassifikationen der âAktivitĂ€tenâ (wie z. B MobilitĂ€t) und der âPartizipationâ (z. B. Teilhabe am Lebensbereich Beruf) wieder (DIMDI 2005; Schuntermann 2009). Die soziale Dimension der funktionalen Gesundheit ist durch die Kontextfaktoren in Form von Umweltfaktoren (Klassifikation âUmweltfaktorenâ) reprĂ€sentiert, wie z. B gesellschaftliche Einstellungen. Zu den Kontextfaktoren zĂ€hlen auĂerdem personbezogene Faktoren, die gegenwĂ€rtig noch kein definierter Bestandteil der ICF sind und die besonderen Gegebenheiten der Person wie Alter, Geschlecht und Motivation bei der Therapiemitwirkung umfassen. Beide Kontextfaktoren wirken in positiver (dann als Förderfaktor) oder in negativer Hinsicht (dann als Barriere) auf die funktionale Gesundheit des Menschen ein. Daraus wird ersichtlich, dass sich ein und dasselbe Krankheitsbild durchaus sehr unterschiedlich in der BeeintrĂ€chtigung der funktionalen Gesundheit widerspiegeln kann, da sich diese letztlich aus der Wechselwirkung des Individuums mit dessen gesellschaftlichen Kontext konstituiert. Dies soll nachfolgend an einem Fallbeispiel erlĂ€utert werden.
1.2 Die Anwendung der ICF auf ein Fallbeispiel
Der 75-jĂ€hrige Rentner Herr Fritz (fiktiver Name) ist vor drei Wochen mit einem akuten Schlaganfall (cerebri-media-Infarkt, links) in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Er lebte bis zum Krankheitseintritt mit seiner berenteten Ehefrau zusammen in einer Mietwohnung im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses ohne Aufzug. Die zwei Kinder des Ehepaars leben 200 km entfernt in anderen StĂ€dten. Der Betroffene, auch in Rente, ĂŒbte den Beruf des Schlossers aus, war bis zum Krankheitseintritt HobbygĂ€rtner und aktiv im Vorstand eines FuĂballvereins tĂ€tig. WĂ€hrend der akuten Krankheitsphase unterstĂŒtzte ihn seine Ehefrau im Krankenhaus, was besonders wichtig fĂŒr ihn war, da er eher pessimistisch eingestellt ist und dazu neigt, schnell aufzugeben. Nach zwei Wochen intensiver Therapie und FrĂŒhrehabilitation, verbesserten sich seine FĂ€higkeiten zur Bewegung, Wahrnehmung und Kommunikation und er wurde im Anschluss an seinen Krankenhausaufenthalt in eine Rehabilitationsklinik eingeliefert.
Der Abbildung 1.1 kann die Struktur dieses Falls innerhalb der ICF entnommen werden (vgl. BAR 2006, 2008). Ausgangspunkt der Betrachtung der mit dem Fall verbundenen funktionalen Probleme bildet die medizinische Diagnose Cerebri-media-infarkt links (ICD), welche Voraussetzung fĂŒr die Anwendung des Falls in der ICF ist und sich auĂerhalb dieses Klassifikationssystems befindet. Die eigentliche Struktur der ICF ist mittels der grau schattierten KĂ€stchen abgebildet. Der Schlaganfall manifestiert sich auf der Ebene der Körperstrukturen als SchĂ€digung in Form eines linksseitigen Hirninfarkts. SchĂ€digungen in den Körperfunktionen liegen in Form rechtsseitiger SchĂ€digungen der Muskelkraft, des Muskeltonus, des Körperschemas sowie als Empfindungsstörungen, halbseitigen Gesichtsfeldausfall und BeeintrĂ€chtigungen im Redefluss und Sprechrhythmus vor.
Abb. 1.1: Fallstruktur in der ICF
Auf der individuellen Ebene der AktivitĂ€ten erschlieĂen sich aus Beobachtungen der Interaktionen des Betroffenen u. a. BeeintrĂ€chtigungen in mobilitĂ€tsbezogenen AktivitĂ€ten wie Bewegungsdefizite der rechten KörperhĂ€lfte, die wiederum Folgen in Form von FĂ€higkeitsstörungen beim Gehen und bei der Körperpflege bedingen. Als BeeintrĂ€chtigung der Teilhabe zeigt sich, dass Herr Fritz seine vor dem Krankheitseintritt gewohnten Rollen, wie die des GĂ€rtners oder Vorsitzenden eines FuĂballvereins, derzeit nicht mehr ausĂŒben kann. Auf die genannten Teilklassifikationen wirken als Kontextfaktoren Förderfaktoren in Form des zugĂ€nglichen und genutzten Gesundheitsdienstes der Rehabilitation und der motivierenden und Selbstvertrauen spendenden Ehefrau ein. Barrieren fĂŒr die Teilhabe des Betroffenen nach der Entlassung in den hĂ€uslichen Bereich zeigen sich in folgenden Punkten:
- Die Mietwohnung stellt durch das Fehlen eines Aufzugs angesichts der erwartbaren MobilitĂ€tseinbuĂen eine infrastrukturelle Barriere dar.
- Die Tatsache, dass die Kinder der Familie einen weit entfernten Wohnsitz haben, ist insofern eine Barriere, als dass sie die Ehefrau im Rahmen der Angehörigenpflege wenig kontinuierlich vor Ort unterstĂŒtzen können.
- SchlieĂlich wirkt auf der Ebene der personbezogenen Faktoren die rechtsseitige LĂ€hmung aufgrund der RechtshĂ€ndigkeit von Herrn Fritz als Barriere fĂŒr die AktivitĂ€t, feinmotorische Bewegungen wieder zu erlernen, wie das Schreiben.
- Nicht zuletzt ist Herrn Fritzâ Neigung zum Pessimismus und die sich daraus ergebende fehlende Motivation, sich dauerhaft und auch nach RĂŒckschlĂ€gen aktiv in den Rehabilitationsprozess einzubringen, als Barriere aufzufassen.
Die Anwendung der ICF anhand dieser Fallstruktur verdeutlicht:
- welche biologischen, individuellen und gesellschaftlichen Ebenen die funktionale Gesundheit des Betroffenen beeinflussen und inwiefern sie dies tun, da nicht allein das Krankheitsgeschehen die EinschrÀnkung der funktionalen Gesundheit bedingt, sondern ebenso die genannten Kontextfaktoren. Gesundheitsstörungen wirken sich je nach konkreten Bedingungen unterschiedlich auf die funktionale Gesundheit des Menschen aus;
- in welchen Lebensbereichen Rehabilitationsziele zu verorten sind. So können Ziele u. a. in der BefÀhigung zur Selbstversorgung in dem Bereich der Körperpflege und den vormals gewohnten Routinen des Lebens gesehen werden;
- welche konkreten RehabilitationsmaĂnahmen erforderlich sind, wie z. B die Förderung der Bewegung und Körperwahrnehmung durch Physiotherapeuten und Pflegende. Des Weiteren werden auch notwendige soziale Interventionen angezeigt, die in der UnterstĂŒtzung der Ehefrau bezĂŒglich der BewĂ€ltigung der Lebenssituation und etwaiger VerĂ€nderungen im Bereich des Wohnens liegen. Zudem ist die pessimistische Grundhaltung von Herrn Fritz im Rahmen der RehabilitationsmaĂnahmen zu berĂŒcksichtigen, denn nur bei Beachtung dieser Einstellung werden diese MaĂnahmen ihre Ziele erreichen können;
- inwiefern und innerhalb welcher Komponenten der ICF sich die ursprĂŒngliche EinschrĂ€nkung der funktionalen Gesundheit nach Anwendung von RehabilitationsmaĂnahmen zugunsten oder zuungunsten der Teilhabe an fĂŒr Herrn Fritz relevanten Lebensbereichen verĂ€ndert, also welche Ergebnisse im Rahmen des Rehabilitationsprozesses erreicht wurden.
Zusammenfassung
Im Rahmen dieses Beitrags soll deutlich geworden sein, in welcher Weise die ICF zur Bestimmung des Rehabilitationsanlasses, der zu erreichenden Ziele, der Strategie und der Erfassung der Ergebnisse eingesetzt werden kann. So finden Anwender der ICF in den benannten Teilklassifikationen standardisierte Begriffe, die zur systematischen Abbildung innerhalb der aufgezeigten Ebenen der funktionalen Gesundheit eingesetzt werden können. Neben der Verwendung im klinischen Bereich könnte die ICF als Perspektive auf den Rehabilitationsprozess auch in der Lehre, der Forschung und im Rahmen von Kodierungen in der Abrechnung von Rehabilitationsleistungen Verwendung finden. Nicht zuletzt verspricht die ICF als interdisziplinÀre Rahmensprache zur VerstÀndigung jeweils fach(-fremd-)sprachiger Disziplinen im Sinne der interdisziplinÀren Ausrichtung der gemeinsamen Arbeit in der Rehabilitation beizutragen.
Literatur
Bundesarbeitsgemeinschaft fĂŒr Rehabilitation (2006). ICF â Praxisleitfaden 1, Frankfurt am Main.
Bundesarbeitsgemeinschaft fĂŒr Rehabilitation (2008). ICF â Praxisleitfaden 2, Frankfurt am Main.
Deutsches Institut fĂŒr Medizinische Dokumentation und Information DIMDI (Hrsg.) (2005). Internationale Klassifikation der FunktionsfĂ€higkeit, Behinderung und Gesundheit, World Health Organization, Genf. (http: www.dimdi.de; Zugriff am 08.11.2006)
Gordon M. & Bartholomeyczik S. (2001). Pflegediagnosen, Theoretische Grundlagen. MĂŒnchen: Urban & Fischer.
Schuntermann M. (2009). EinfĂŒhrung in die ICF, Grundkurs, Ăbungen, offene Fragen. 3., ĂŒberarb. Aufl. Heidelberg: ecomed.
2 Gesetzliche Grundlagen und Formen der Rehabilitation
2.1 Gesetzliche Grundlagen der Rehabilitation
Jan Betz und Ralf Schmidt
Wer körperlich, geistig oder seelisch behindert ist oder wem eine solche Behinderung droht, hat unabhÀngig von der Ursache ein Recht auf Hilfen, die notwendig sind,...