II Empirische Zugänge über Wahrnehmungen und Phänomene
4 »Ästhetisch-Künstlerisch Forschen« – Möglichkeiten einer transdisziplinären ästhetischen Bildung in der frühen Kindheit
Andreas Brenne
Künstlerisch-gestalterische Aktivitäten von Kindern werden meist als eine Praxis gekennzeichnet, in der es vornehmlich um die Hervorbringung von sogenannten schönen Dingen geht. In angenehmer und entspannter Atmosphäre setzen sie sich mit erbaulichen Kunstwerken auseinander und/oder erproben gestalterische Techniken, die zwar nicht nützlich sind, aber dennoch die Alltagsästhetik bereichern sollen. Künstlerische Praxis gilt als eine entspannende Phase in konzentrierten Bildungsprozessen, die es den Kindern erlaubt in den Schlüsseldisziplinen um so effizienter zu arbeiten (vgl. Berger 2016). Dass auch die Institutionen der frühen Kindheit davor nicht haltmachen, zeigen die Bildungspläne der Länder sowie die Diagnoseverfahren, die frühe Defizite und Leerstellen in Bildungsprozessen analysieren. Als allgemeinbildendes Ziel erwartet man von künstlerischer Praxis darüber hinaus eine dezidierte Schulung und Förderung der Kreativität. »Kreative auf der Überholspur« sendet der Deutschlandfunk und Angela Merkel äußert sich auf dem Parteitag der CDU im April 2014: »Ich möchte ein Europa der Kreativität und der Chancen« (Merkel 2014).
All dies mag gelebte Praxis der Alltagskunstdidaktik sein (auch in den KiTas, da nur wenige Fachkräfte über eine kunstpädagogische Ausbildung verfügen), entspricht aber nur bedingt den fachlich postulierten Zielen. Dort geht es um Bildkompetenz in Auseinandersetzung mit bildnerischen Arbeiten der Kunstgeschichte und der Alltagskultur und um gestalterische Kompetenz als Form der Weltaneignung und des Selbstausdrucks (vgl. Kirchner & Gotta-Leger & Nockmann 2015). Darüber hinaus soll hier auf den Kern der Kunstpädagogik hingewiesen werden, den man durch den Begriff der Ästhetischen Erfahrung kennzeichnet und der insbesondere im Rahmen einer künstlerisch-ästhetischen Forschung einen besonderen Stellenwert erfährt. Gemeint ist die Initiierung ästhetischen Lernens in Auseinandersetzung mit der Lebenswelt. Es geht also um ein basales Bildungsprinzip, das quer zu den kindlichen Lernfeldern von zentraler Bedeutung ist. In seinen spezifischen Ausprägungen und Handlungsfeldern ist es gleichsam Grundlage für die Etablierung von wissenschaftlichem Denken und Handeln, von Disziplinen, Fakultäten und auch von heutigen Unterrichtsfächern (vgl. Welter 1986). Theoretisches Denken kann nicht allein aus transzendentalen Kategorien abgeleitet werden, sondern bedarf der ästhetisch-emotionalen Auseinandersetzung mit dem Vorgefundenen. Gleichzeitig ist das Ästhetische im Sinne von Martin Seel nicht vorbegrifflich und unmittelbar zu denken, sondern besteht in der Wahrnehmung der Präsenz eines Gegenstandes im Hinblick auf ein komplexes Arrangement unterschiedlicher Aspekte und Modi; durchaus im Sinne einer angenommenen Ganzheit (vgl. Seel 2003). Das heißt, dass die ästhetische Wahrnehmung – in Unterschied zu anderen Formen des Wahrnehmens – sich nicht auf das Verifizieren von Sachverhalten beschränkt, sondern durch die Anbindung an Traditionen und begriffliche Zuschreibungen Gegenstände als sinnhaft strukturiert erleben lässt. Das Dasein der Phänomene braucht den Betrachter und dessen explorative und zeigende Kompetenz. Kinder stehen diesem Zusammenhang grundsätzlich nahe; denn ihre Sicht der Dinge basiert auf dem unmittelbaren Kontakt zum Gegenstand wie der kooperativen Auseinandersetzung mit geteilten Erfahrungen.
4.1 Kinder bilden sich ästhetisch
Kinder bilden sich von Anfang an – und zwar ästhetisch (vgl. Schäfer 2001). Bildung reduziert sich nicht auf die Anpassung an sozioökologische Gegebenheiten, sondern ist als dekonstruktive und produktive Entwicklung sinnstiftender Perspektiven im Kontext einer vermittelten Lebenswelt zu verstehen. Lebenswelt, ein Begriff von Edmund Husserl, ist nicht mit einer objektivierbaren Realität zu vergleichen, sondern eine sinnhaft strukturierte Einrichtung in das Vorgefundene. Abweichend von Husserl sind es aber keine materiellen Phänomene, sondern alles, »was der Fall ist« (vgl. Wittgenstein 1998) – Objekte, Dinge, Konzepte, Begriffe, Ideen und Phantasien. In diesem Sinne ist der Begriff ›Welt‹ durchaus prekär, denn dieser setzt voraus, dass es eine Ganzheit gibt, in der alles mit allem zusammenhängt. Insofern ist der Begriff »Sinnfeld« (vgl. Gabriel 2016, S. 163f.) angemessener, denn dieser verzichtet auf einen exklusiven Holismus, darüber hinaus macht er deutlich, dass es eine unbestimmbare Fülle von perspektivischen Beschreibungen von Tatsachen gibt, die im Rahmen von Bildungsprozessen bearbeitet werden und dann Gegenstand von Modellbildungen sind. Derartige Prozesse sind in hohem Maße ästhetisch aufgeladen. Dies zeigt sich bereits in der frühen Kindheit im Hang zur expressiven und transmedialen Artikulation leibsinnlicher Erfahrungen. Zu nennen sind Sprache, Bewegungsformen, Bilder, Erzählungen und Klänge. Diese Formen kindlicher Äußerungen sind keine vordergründigen Symbolisierungen von Affekten, sondern Versuche, die Realität zu deuten und sie sich produktiv anzueignen. Diese Prozesse sind performativ strukturiert, d. h. sie entwickeln sich dynamisch und in responsiven Zusammenhängen, in denen der Dritte (die Familie, der Erzieher/die Erzieherin, die Peers) eine bedeutsame Rolle spielt.
Jedes Kind durchläuft solche holistischen Prozesse unabhängig von den curricularen Festlegungen der formalen Bildung. In den Bildungsinstitutionen der frühen und mittleren Kindheit versucht man, diese Entwicklungsprozesse aufzugreifen und zu erweitern. Man orientiert sich als Übergangsinstitution an den informellen und non-formalen Bildungsprozessen der frühen Kindheit. Doch bereits hier scheitert man allzu oft an der fakultativen Ausrichtung der propagierten Angebote (vgl. Hessischer Bildung- und Erziehungsplan 2011). Kindergärten stehen hier in einer ambivalenten Tradition: Zum einen geht es um die fürsorgliche und kompensatorische Unterstützung von Kindern in prekären Situationen, zum anderen in der Tradition von Fröbel und Montessori um die frühkindliche Bildung. Zeitgenössische Modelle orientieren sich vor allem am Kompetenzbegriff und bemühen sich um die Etablierung von konkreten Lernfeldern, die sich stark an die curricularen Strukturen der schulischen Bildungsangebote anlehnen.
Substanzielle ästhetische Bildungsprozesse ermöglichen Kindern Einsichten in die Produktion von Weltverhältnissen. Objekte, Konzepte und Ideen sind nicht einfach nur vorhanden, sondern entstehen im Spannungsfeld von Zusammenbruch und Neuschöpfung – und dies ist ein kreativer bzw. künstlerischer Akt. Gefragt ist die Kreativität des »L’Art pour l’Art« und eine kommunikative Neuschöpfung aus dem Vorgefundenen. Dadurch wird die Tradition lebendig und kann im Lichte einer aktualisierten Sinnbestimmung verstanden werden. D. h. aber auch: Alles Vorgefundene ist für Kinder zunächst einmal interessant und kann Gegenstand einer substantiellen Untersuchung sein. Die akademische Unterscheidung zwischen High & Low spielt dabei keine Rolle. Kulturelle Substrate werden diskursiv transformiert und kommuniziert. Das, was sich auf KiKa, auf Disneychannel abspielt, durch Fanzines, Spielfiguren oder Smartphones intermedial dargeboten wird, ist genauso Gegenstand kindlicher Bildungsprozesse wie sogenannte Naturmaterialien. Ästhetisches Handeln ist eine forschende, d. h. ordnende Tätigkeit, wobei sich vier Aspekte unterscheiden lassen:
• Ästhetisches Verhalten vollzieht sich grundsätzlich in Auseinandersetzung mit sinnlich wahrnehmbaren Objekten und Phänomenen.
• Ästhetisches Verhalten stellt eine Beziehung zwischen der Umwelt und dem Individuum her.
• In der Ästhetischen Wahrnehmung verbinden sich individuelle Perspektiven mit dem Blick des »Anderen«.
• Auch wenn hier gleichermaßen rezeptive und produktive Aneignungsformen enthalten sind, so ist der Umgang immer ein aktiv-gestalterischer – d. h. ordnender.
4.2 Ästhetisch-künstlerische Forschung
Die kunstpädagogische Methode, die auf eine lebensweltorientierte Bildung abzielt, ist die ästhetische Forschung, die meist im Rahmen von projektbezogenen Lernphasen zum Einsatz kommt. Diese Konzeption wurde von der Kunstpädagogin Helga Kämpf-Jansen initiiert und vielfältig weiterentwickelt (vgl. Kämpf-Jansen 2000) und von Georg Peez als eine Form der subjektbezogenen Kunstpädagogik charakterisiert. Sie versteht darunter ein System, in dem Alltagserfahrung und Lebensweltbezug mittels ästhetisch-künstlerischer Recherche beforscht, durchdrungen und gestalterisch transformiert werden. In diesem Zusammenhang werden künstlerische und wissenschaftliche Weltzugänge und Darstellungsformen synergetisch miteinander verbunden. Inspiriert wurde sie durch künstlerisch-forschende Tendenzen in der Kunst seit den 1970er Jahren (z. B. durch Künstler_innen wie Anna Oppermann, Nikolaus Lang oder Fischli/Weiß)
Am Anfang steht – so Kämpf-Jansen – immer eine Frage, ein Gedanke, eine Befindlichkeit in Bezug auf einen Gegenstand, eine Pflanze, ein Tier, ein Phänomen, ein Werk, eine Person, eine Situation, ein literarisches Thema, einen Begriff, einen komplexen Inhalt oder etwas ganz Anderes. An diese Konzeption anschließend gibt es eine weitverzweigte kunstdidaktische Fortschreibung (vgl. Brenne 2006), die auch im Rahmen der Frühpädagogik erprobt wird (vgl. Schneider).
Um das Potenzial kindlicher Bildungsprozesse aufzuschließen, sollen anhand von Auszügen aus drei Fallstudien zentrale Motive identifiziert werden. Methodisch geht es um eine Sichtbarmachung kindlicher Perspektiven, wobei spezifische Erfahrungsräume in den Blick genommen werden. Es handelt sich um Einblicke in die Praxis von Kindern der frühen und mittleren Kindheit in ihrem räumlichen, familialen und institutionellen Umfeld.
4.3 Ästhetisch-Künstlerisch forschen – drei Fallstudien
1. Fridas Kanalrunde – über Raum und Erfahrung
Frida lebt seit ihrer Geburt in einem kleinen Reiheneckhaus am Dortmund-Ems-Kanal. Das Haus verfügt über einen großen und mit Obstbäumen bestandenen Garten, der an den Kanal grenzt. Seit ihrer Geburt ist es genau dieses Areal, in dem Frida den Großteil ihrer Zeit verbracht hat. Je nach Witterung wurde dieses Gebiet nahezu täglich umrundet. Mittlerweile ist sie zwei Jahre alt. Zunächst geht es durch das Holztor links auf den Bürgersteig und an der Begrenzung der Vorderfront des Wohnhauses entlang. Zunächst versucht sie den Buggy richtig in Fahrt zu bringen, was ihr nach einigen Schwankungen auch gelingt. Nun folgt eine breite Erhebung, die aus Waschbetonplatten besteht und von einem ausladenden und in Blüte stehenden Rosenstrauch überwuchert wird. Hier bugsiert Frida zunächst das Gefährt auf die Erhebung und genießt für einen Moment das Ruckeln des Buggys. Dann wird es kompliziert, denn es gilt, dem Strauch auszuweichen. Frida stellt sich der Gefährdung und berührt mit dem ausgestreckten Zeigefinger einen Dorn und sagt »Aua«. Nun folgt eine längere weiß getünchte Wand. In Bodenhöhe befindet sich ein Kellerfenster, das durch ein gestanztes Blech bedeckt wird. Frida hat ihren Buggy stehen gelassen und schleicht betont langsam und aufmerksam die Wand entlang. Sie wählt den Abstand derart, dass sie die Wand fast berührt. Die weiße Fläche hat etwas körperlos Schwebendes und scheint die Annäherung geradezu herauszufordern. Dann wird es wieder konkret. Frida bückt sich und untersucht mit dem Zeigefinger die Größe der Löcher des Kellerfensters, die aber zu klein sind, um ihn ganz hindurchzustecken.
Als nächstes Ereignis erwartet Frida ein Busch, an dem rosa Blüten prangen. Sie ergreift eine volle Blüte, wobei sich diese vom Busch löst. Dann zerkrümelt sie die Blüte in ihrer Faust und lässt die Blätter langsam zu Boden rieseln. Es ist ein Akt der Neugierde und mit ambivalenten Emotionen und Empfindungen verbunden. Die zarten Blütenblätter kitzeln die Haut und lassen sich einzeln kaum fassen. Auch wenn die gesamte Blüte kompakt und fest wirkt, zerreißt sie bereits unter leichtem Druck und gibt ihre Bestandteile frei.
Als das Kanalufer erreicht ist, interessiert sie nicht das große Wasser, sondern die Pfütze unterhalb des Bootshauses. Sie betrachtet ihr Spiegelbild im trüben Wasser, um dann vorsichtig und mit spitzen Fingern die Oberfläche zu teilen. Daraufhin wird eine Sammlung von herumliegenden Steinchen vorgenommen und in die Pfütze geworfen. »Opa hat mir das gezeigt.« Auch hier setzt sich Frida komplex mit der Welt und ihrer Erfahrungsgeschichte auseinander. Durch die Spiegelung entsteht ein disparates Bild ihres Körpers, das mit beobachtetem Phänomen verwoben zu sein scheint – eine Manipulation der Wasseroberfläche verändert das Bild. Auch das Befeuchten der Finger steigert diese Erfahrung, wobei a...