Bedarfsfeststellung in der Anwendung
Qualifizierte Hilfeplanung und -beratung in der Eingliederungshilfe – Erkenntnisse aus Evaluationsstudien im Rheinland
Erik Weber, David Cyril Knöß und Stefano Lavorano
»Der Reformprozess hin zu einer personenorientierten Perspektive ist allerdings noch nicht in allen Bereichen vollzogen. Im Prozess der Aushandlung von Hilfen dominieren häufig die Interessen von Leistungsträgern und Anbietern gegenüber den Interessen der Betroffenen« (Franz, Lindmeier & Ling 2011, 100).
1 Einleitung
In den folgenden Ausführungen werden Ergebnisse aus drei verschiedenen Evaluationsstudien, die die Autoren im Kontext von noch näher zu beschreibenden Modellprojekten des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) durchgeführt haben, dargestellt (vgl. Weber, Knöß & Lavorano 2013; 2014; Knöß, Weber & Lavorano 2015 bzw. Lavorano, Knöß & Weber 2015). Der LVR arbeitet als Kommunalverband mit rund 16.000 Beschäftigten für die etwa 9,6 Millionen Menschen im Rheinland. Er erfüllt rheinlandweit Aufgaben in der Behinderten- und Jugendhilfe, der Psychiatrie und der Kultur. Der Verband ist der größte Leistungsträger für Menschen mit Behinderungen in Deutschland, betreibt 41 Förderschulen, zehn Kliniken und drei Netze Heilpädagogischer Hilfen sowie elf Museen und vielfältige Kultureinrichtungen. Programmatisch engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die hier vorgestellten Evaluationsstudien bewegen sich inhaltlich alle im Kontext der in dem vorangestellten Zitat problematisierten Sachlage (vgl. dazu auch Weber 2013a; 2013b).
Inhaltlich waren die Modellprojekte im Spannungsfeld der Aushandlung von Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderungen1 in Deutschland angesiedelt. Dieses Spannungsfeld kann beschrieben werden als eines der unterschiedlichen Interessen von Leistungserbringern, -trägern und sog. Betroffenen und ggf. auch deren Angehörigen (vgl. Punkt 2 des vorliegenden Beitrags). Dieses Spannungsfeld steht zudem in einem übergeordneten Reformprozess hin zu einer personenorientierten Perspektive, die mit der Ratifikation der UN-BRK durch die Bundesrepublik Deutschland nochmals eine andere Qualität erreicht hat. Dieser Reformprozess ist weder vollzogen noch abgeschlossen. Die aktuell auch menschenrechtlich geführte Diskussion sieht sich massiven Widerständen ausgesetzt, wenn es um die Verwirklichung der hier nur angerissenen Zielsetzungen geht. So steht die Bevölkerung diesen Entwicklungen nicht mit überwiegendem Wohlwollen gegenüber, stattdessen wird die Reformdiskussion begleitet von einer gegensätzlichen Bewegung, die unter dem Begriff der »Ökonomisierung des Sozialen« (vgl. z. B. Dederich 2008) gefasst werden könnte. Aktuelle Studien belegen zudem, dass
»die Abwertung von Menschen mit Behinderung als elementare Legitimationsgrundlage für deren gesellschaftliche Exklusion signifikant mit der Abwertung anderer Gruppen zusammen [hängt], die ebenfalls in den Fokus der Argumentation vermeintlicher ökonomischer Unprofitabilität geraten« (Groß & Hövermann 2014, 128).
Inklusion von Menschen mit Behinderungen, ihre Zugänge zu Information, Beratung und letztlich Unterstützungsleistungen kann demnach nicht diskutiert werden, ohne zugleich auch Exklusionsprozesse intensiv in den Blick zu nehmen. Diese können sich so offen wie in der o. g. Studie zur Abwertung von Menschen mit Behinderungen zeigen oder auch auf eine ganz andere, subtilere Art und Weise, wenn Bedingungen struktureller Gewalt dazu führen, dass beispielsweise der Zugang zu Unterstützungs- und/oder Beratungsleistungen mit Barrieren versehen ist.
In diesem ambivalenten Geflecht wird aktuell auch über die Zukunft der Eingliederungshilfe diskutiert. Die Frage nach einer qualifizierten Hilfeplanung und -beratung in der Eingliederungshilfe nimmt hier eine prominente Stellung ein. Welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um eine qualifizierte Hilfeplanung und -beratung zu ermöglichen, steht daher im Fokus dieses Beitrags. Im Folgenden werden anhand von ausgewählten Forschungsergebnissen aus drei unterschiedlichen Modellprojekten wichtige Erkenntnisse für die Gesamtdiskussion der Beratung im Kontext von Hilfeplanungen zusammengetragen.2
2 Qualifizierte Beratung im Kontext Individueller Hilfeplanung
Das von Mitte 2011 bis Ende 2013 von der Evangelischen Hochschule Darmstadt evaluierte Modellprojekt des LVR im nordrhein-westfälischen Rhein-Kreis-Neuss hatte den Titel Modellhafte Erprobung der Einführung des einheitlichen personenzentrierten Ansatzes im Finanzierungssystem der stationären und der ambulanten Eingliederungshilfe, sowie damit verbunden der leistungserbringerunabhängigen (Erst-)Beratung von leistungssuchenden Personen. Der Titel des Modellprojekts lässt eine tatsächliche Einführung des einheitlichen personenzentrierten Ansatzes im Finanzierungssystem der stationären und der ambulanten Eingliederungshilfe vermuten. Dieses Vorhaben ist aber nach der Diskussion zwischen dem LVR und den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege in Nordrhein-Westfalen zunächst zurückgestellt worden und war nicht Gegenstand des Modellprojekts sowie der wissenschaftlichen Begleitforschung. Das Modellprojekt wurde vom Auftraggeber, dem LVR, konzipiert und in Kooperation mit den Trägerverbünden der sog. Koordinierungs-, Kontakt- und Beratungsstellen (KoKoBe) und den Trägern der Sozialpsychiatrischen Zentren (SPZ) im Rhein-Kreis-Neuss ausgestaltet. Als Anlaufstellen leisten die sog. KoKoBe im Rheinland individuelle Beratung in Bezug auf die Themen Wohnen, Arbeit, Freizeit, selbstständiges Leben und Hilfeplanung. Die SPZ dienen ebenfalls als Kontakt- und Beratungsstellen und decken dabei unter anderem Themen wie Wohnen, Arbeit oder psychiatrische Pflege ab. KoKoBe und SPZ bilden ein rheinlandweites Beratungsnetz, welches für die Nutzerinnen und Nutzer kostenlos ist und vom LVR finanziert wird. Darüber hinaus sollen KoKoBe und SPZ ambulante Unterstützungsangebote koordinieren und weiterentwickeln.
In seiner inhaltlichen Orientierung ging es dabei um eine Neuausrichtung eines Beratungsverfahrens im Kontext Individueller Hilfeplanung. Das Modellprojekt befasste sich mit der Frage, inwieweit eine von Leistungserbringern weitgehend unabhängige (Erst-)Beratung von leistungssuchenden Personen im System der stationären und ambulanten Eingliederungshilfe möglich ist und wie dies gestaltet werden kann. In der Modellregion Rhein-Kreis-Neuss wurde im Sinne einer Neuausrichtung des Beratungsverfahrens die Individuelle Hilfeplanung von speziell geschulten und von als »IHP-3-Beraterinnen und -Berater« bezeichneten Personen übernommen, die bei den örtlichen KoKoBe und den SPZ angegliedert waren. Die Bezeichnung »IHP-3-Beraterinnen und -Berater« resultiert aus der Tatsache, dass diese als Fachkräfte Hilfepläne nach den Vorgaben des Hilfeplaninstrumentes des LVR (dem »Individuellen Hilfeplan« in seiner dritten Fassung, abgekürzt als »IHP-3«) erstellten und im Kontext der Antragstellung sowie während der Bedarfsermittlung und Leistungsgewährung die Antragstellenden berieten.
Der IHP-3 ist ein fachliches Instrument zur Bedarfserhebung und -feststellung mit folgenden Strukturelementen:
• Das Instrument beinhaltet eine klare Struktur in Bezug auf Ziele und Maßnahmen einer Hilfeplanung,
• die einzelnen Analyseebenen einer Hilfeplanung werden voneinander unterschieden,
• ein Erhebungsbogen dient der Überprüfung von Zielen und zur Eignung der durchgeführten Maßnahmen,
• fachliche Maßnahmen unterschiedlicher Art (tagesgestaltende Maßnahmen, hauswirtschaftliche Hilfen, Assistenzleistungen etc.) werden berücksichtigt,
• ebenso die Leistungen anderer Sozialleistungsträger,
• das Instrument ist orientiert an der UN-BKR und der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) (vgl. LVR 2015, 5).
Bezüglich des der Studie zugrundeliegenden Forschungsdesigns und des erworbenen Datenumfangs kann festgehalten werden, dass ein Methoden-Mix aus quantitativer und qualitativer Forschung im Sinn der (qualitativen) Evaluationsforschung (vgl. von Kardorff 2012) Anwendung fand. Neben den erwähnten IHP-3-Beraterinnen und -Beratern wurden vier Befragungsreihen mittels verschiedener Fragebögen und der Durchführung von Einzelinterviews bzw. ab der zweiten Interviewbefragungsreihe auch Gruppendiskussionen unter Berücksichtigung aller zentralen Akteurinnen und Akteure im Feld unternommen (die Beratenden selbst, das Fallmanagement, Leistungserbringer, Leistungsberechtigte, Mitglieder der Hilfeplankonferenz, Angehörige bzw. Bezugsbetreuende). Mit der Hinzunahme einer sog. Vergleichsregion wurde der Versuch unternommen, die gewonnenen Ergebnisse mit einer anderen Region, die nicht mit dieser Beratungsstruktur arbeitet, zu vergleichen (Details dazu finden sich in der erwähnten Studie, vgl. Weber, Knöß & Lavorano 2013). Nach Durchführung aller Befragungsreihen konnten insgesamt 629 Fragebögen und 52 qualitative Interviewbefragungen erhoben und ausgewertet werden.
Die folgende Tabelle zeigt die Verteilung der durchgeführten qualitativen Befragungen in Bezug auf die jeweiligen im Modellprojekt beteiligten Akteurinnen und Akteure in den jeweiligen Befragungsreihen der Evaluationsforschung. Die Gruppe der Leistungserbringer ist erst ab der zweiten Befragungsreihe des Forschungsprojektes in die qualitative Befragung mit aufgenommen worden.
Befragungsreihe 1Befragungsreihe 2Befragungsreihe 3
Tab. 1: Übersicht über die durchgeführten Interviewbefragungsreihen (nur bezogen auf den Rhein-Kreis-Neuss; vgl. Weber, Knöß & Lavorano 2013, 44)
Um die Vielfalt und den Umfang der gewonnenen Daten zu berücksichtigen, wurden einerseits die quantitativen Anteile der Fragebögen mittels des computergestützten Verfahrens SPSS ausgewertet, die qualitativen Anteile der Fragebögen wurden unter Berücksichtigung der Standards der qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2012) verwertet bzw. kategorisiert. Im Rahmen der Evaluationsforschung haben sich die drei Aspekte Leistungserbringerunabhängigkeit, qualifizierte Hilfeplanung und Fortbildung als zentrale Themen herauskristallisiert. Zu diesen Aspekten werden nachfolgend einige ausgewählte Ergebnisse vorgestellt (vgl. auch Weber, Knöß & Lavorano 2014).
Aspekt Leistungserbringerunabhängigkeit
Mit Leistungserbringerunabhängigkeit ist gemeint,
»[…] dass die Feststellung eines Hilfebedarfes in Form und Umfang unabhängig von den späteren Leistungserbringern und damit unabhängig von deren möglicherweise diesen Entscheidungsprozess beeinflussenden Interessen erstellt werden soll. Dies beinhaltet beispielsweise auch die Möglichkeit für Leistungsberechtigte, potentielle Anbieter zukünftiger Unterstützungsleistungen eigenständig auszuwählen« (Weber, Knöß & Lavorano 2013, 57).
Der Anspruch des Modellvorhabens, eine leistungserbringerunabhängige Instanz in den Beratungsprozess im Kontext einer Hilfeplanung einzuführen, hat zunächst zu einem hohen Maß an Irritation, bis hin zur Ablehnung der Inhalte des Modellprojektes im untersuchten Feld geführt. Trotz vorhandener Ziel- und Durchführungsvereinbarungen, die der LVR mit den KoKoBe und SPZ abgeschlossen hatte, wonach diese in den Bratungsprozessen zur Trägerneutralität verpflichtet waren, zeigte sich in der Praxis, dass die IHP-3-Beraterinnen und -Berater im Modellprojekt Loyalitätskonflikten unterworfen waren, da sie selbst, bedingt durch die Trägerstruktur der Beratungsstellen, jeweils ihren eigenen Arbeitgebern verpflichtet sind (die auch als Leistungserbringer fungieren), andererseits aber als unabhängig Beratende fungieren sollten.
Ein weiteres, im Forschungsverlauf identifiziertes Kernproblem war die Beobachtung, dass potenzielle Leistungsberechtigte häufig erst dann eine Beratung aufsuchten, wenn bereits Kontakt zu einem potenziellen Leistungserbringer bestand. Die befragten Leistungsberechtigten bewerten die Wahlmöglichkeiten und die Offenheit des Ergebnisses der Beratung zur Erstellung des IHP-3 dennoch mehrheitlich positiv.
Im Projektverlauf ließ sich eine Veränderung hin zu einer aufgeschlosseneren Haltung gegenüber den Inhalten des Modellprojektes verzeichnen. Beispielsweise haben nach zwei Jahren Modellphase 66,8 % der Befragten in der Modellregion angegeben, eine Beratung im Kontext der Erstellung eines Individuellen Hilfeplanes sollte in Zukunft leistungserbringerunabhängig erfolgen (vgl. Weber, Knöß & Lavorano 2013, 143). Dies umfasst auch die zu Beginn kritischste Gruppe, die der Leistungserbringer. Trotz der kritischen Einstellungen gegenüber dem...